23. Juli 2012

Europas Krise (11): Wa(h)lfisch Europa. Zur Bundesstaatlichkeit der EU. Ein Gastbeitrag von Noricus


Die Schuldenkrise in der Eurozone hat eines deutlich gemacht: Der gegenwärtige Integrationsstand der Union ist unbefriedigend; ein Vor oder Zurück scheint unausweichlich. Es verwundert kaum, dass in dieser Situation gewichtige Stimmen der deutschen Polit- und Publizistenprominenz für die Schaffung eines europäischen Staates eintreten, wobei nicht jede dieser Forderungen ernst gemeint ist.

Jenseits pragmatischer Effektivitätserwägungen und diplomatischer Bluffs wird darüber spekuliert, ob die Union de facto nicht schon längst ein Bundesstaat geworden sei. Ein Argument gegen diese Hypothese liegt in einem typisch völkerrechtlichen Strukturprinzip, das die europäische Institutionenlandschaft nach wie vor durchzieht, nämlich in der Allgegenwart der Machtbalance zwischen den Mitgliedstaaten.

Recht anschaulich lässt sich dieser Grundsatz an der Gestaltung der qualifizierten Mehrheit bei Abstimmungen im Rat der Europäischen Union demonstrieren. Die Modi ante und post 1. November 2014 (dem Tag, an dem ein neues Abstimmungsverfahren im Rat der Europäischen Union in Kraft treten wird) folgen dabei demselben Hintergedanken: Die Großen können den Kleinen ihren Willen nicht aufzwingen; jedoch reichen vier demographisch starke Länder für eine Sperrminorität aus. Es ist dies der Versuch, das Postulat der souveränen Gleichheit der Mitgliedstaaten mit der Realität der Machtverhältnisse zu versöhnen.

Für den Rat als "Länderkammer" ist eine solche Lösung zweifellos zu rechtfertigen. Anders verhält es sich mit der Kommission. Sie ist nach Art. 17 EUV dazu berufen, die "allgemeinen Interessen der Union" zu fördern. Ein zu großer mitgliedstaatlicher Einfluss müsste sich da eigentlich verbieten, da ja das Ganze etwas anderes ist als die Summe oder – wohl treffender formuliert – der Durchschnitt seiner Teile.

Nun wirken die Mitgliedstaaten über das Ausschusswesen (im Eurojargon: "Komitologie") an der Arbeit der Kommission mit. Außerdem darf jedes Land einen Kommissar stellen: Dies führt bei derzeit 27 Mitgliedstaaten zu einer – gelinde gesagt – dysfunktionalen Ressortverteilung: Über Portefeuilles wie "Digitale Agenda" oder "Klimapolitik" mag man lachen oder sich ärgern; dass der Kuchen "Handel", "Wettbewerb", "Binnenmarkt und Dienstleistungen" von drei Kellnern aufgetischt wird, lässt an einer effizienten Verwaltungs­führung zweifeln.

Verräterisch erscheint in der verlinkten Darstellung, dass über dem Foto jedes – weisungsfreien und nur den Unions­interessen verpflichteten – Kommissars die Flagge seines Herkunftslandes schwebt. Man vergleiche dies mit den fahnenlosen Abbildungen der 16 Mitglieder des deutschen Bundeskabinetts, bei denen – obwohl numerisch ohne weiteres möglich – gerade keine Länderparität herrscht. Eine solche wird weder vom Grundgesetz gefordert noch ist sie in der Praxis üblich, und zwar auch dann nicht, wenn zwei bundesweit operierende Parteien koalieren.

Dass die EU-Staaten die Kommission wie selbstverständlich als Vehikel ihrer eigenen Interessen betrachten, belegt die Gegenleistung, die sich Irland für die Zustimmung zum Vertrag von Lissabon ausbedungen hat: Die geplante Reduktion der Kommissarssessel auf zwei Drittel der Anzahl der Unionsländer findet nicht statt.



Der Sicherung des mitgliedstaatlichen Einflusses dient auch der Europäische Rat (der vom Rat der Europäischen Union zu unterscheiden ist): Aus der Unionsperspektive gesehen, bezieht dieses Gremium seine raison d'être vor allem daraus, dass die EU neben den supranationalen Politiken auch noch einen zwischenstaatlich organisierten Kompetenzbereich, nämlich die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP, Art. 21 ff. EUV) ihr Eigen nennt.

Der "Gemeinschaftsmethode", die vom Initiativmonopol der Kommission (ihrem ausschließlichen Recht, neue Gesetze vorzuschlagen) und der ordentlichen Gesetzgebung durch Rat und Parlament gekennzeichnet ist, stehen also klassisch völkerrechtliche Entscheidungsformen gegenüber, nämlich Vereinbarungen zwischen den Regierungen der einzelnen Länder. Dem Europäischen Rat kommt dabei die Aufgabe zu, die Kohärenz zwischen beiden Domänen zu sichern.

Historisch betrachtet spricht die Ausklammerung der hohen Diplomatie und des Militärwesens aus der supranationalen Sphäre gegen die Diagnose "Bundesstaat". Denn auch relativ zentrifugal angelegte Föderationen wie Österreich-Ungarn haben gerade diese für die Frage der Souveränität maßgeblichen Bereiche einem gemeinsamen Regime unterstellt.

Freilich könnte ein europäischer Bundesstaat die föderalistische Note genau dadurch betonen, dass er den Gliedstaaten die Hoheit über die jeweiligen Armeen belässt – auch dafür gibt es geschichtliche Vorbilder. Anderes wird auf absehbare Zeit wohl nicht konsensfähig sein. Ebenso ist es vorerst unwahrscheinlich, dass die Mitgliedsländer ihrer völkerrechtlichen Handlungsfähigkeit in toto zugunsten der EU entsagen.

Erwartungsgemäß ist auch Justitia für die Herkunft der Richter nicht blind: Gemäß Art. 19 Abs. 2 EUV besteht der Gerichtshof aus einem und das Gericht (erster Instanz) aus mindestens einem Richter je Mitgliedstaat. Diese Bestimmung lässt sich freilich dadurch sachlich begründen, dass der Vergleich zwischen den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zum Methodenkanon der europäischen Judikative gehört.

Ein kleiner Exkurs sei an dieser Stelle erlaubt: Die Liste der am Gericht (erster Instanz) tätigen Richter umfasst gegenwärtig nur 25 Einträge. Die Malteserin Ena Cremona und der Italiener Enzo Moavero Milanesi haben ihr Amt nämlich vorzeitig niedergelegt (mit etwas Scrollarbeit gelangt man zum Portrait der beiden Demissionäre): Cremona hat sich aufs Altenteil zurückgezogen; ihren Posten soll der Jura-Professor Eugene Buttigieg übernehmen. Moavero Milanesi ist als Europaminister in das Kabinett Monti eingetreten. Die Nominierung eines Nachfolgers scheint nicht ganz ohne Irrungen und Wirrungen zu verlaufen.

Dass den betroffenen Mitgliedstaaten aus diesem vorübergehenden Nichtvertretensein greifbare Nachteile erwüchsen, ist nicht zu konstatieren. Ob diese beruhigende Feststellung zu der Einsicht führt, dass die Quotenregelungen bei den Ernennungsverfahren für die Wahrung wichtiger nationaler Interessen nicht schlechterdings unerlässlich sind, bleibt mehr als fraglich.

Das wohl überzeugendste Argument gegen die Hypothese des Bundesstaatscharakters der EU liegt in der länderweisen, degressiv proportionalen Kontingentierung der Mandate im Europäischen Parlament: Je kleiner ein Land ist, desto mehr Mandate stehen ihm pro Kopf der Bevölkerung zu.

Dieser Modus bewirkt, dass die Erfolgschance einer französischen oder deutschen Wählerstimme wesentlich geringer ist als diejenige etwa einer maltesischen oder luxemburgischen Stimme. Eine gleiche Wahl ist auf europäischer Ebene also nicht gewährleistet. Dem Bundesverfassungsgericht ist in seinem Lissabon-Urteil (Rn. [Randnummer] 287) die Ironie nicht entgangen, die in dieser Regelung schlummert: Denn eines der tragenden Prinzipien des europäischen Einigungsprozesses war von Anfang an das Verbot offener und verdeckter Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit.

Doch gerade bei der Wahl ihrer Vertreter werden die – von der Union unterschiedslos mit Aufmerksamkeit zu bedenkenden – EU-Bürger hinsichtlich ihrer Nationalität, nun ja, diskriminiert. Zu Recht weist Karlsruhe darauf hin (Rn. 286 des zitierten Urteils), dass eine degressiv proportionale Sitzverteilung in einem föderalen Staat gewöhnlich nur für die zweite Kammer, nicht aber für die Volksrepräsentation vorgesehen ist. Deshalb sei das Europäische Parlament "in der Sache [...] eine Vertretung der Völker der Mitgliedstaaten" (Rn. 284 des zitierten Urteils) – und eben keine Deputation eines einheitlichen europäischen Souveräns.



Abschließend könnte man sich zu dem Bild versteigen, dass die EU wie ein Wal durch die hohe See des Völkerrechts schwimmt. So wie der König der Meere zwar im Wasser lebt, aussieht wie ein Fisch und vom Volksmund als solcher bezeichnet wird, aber trotzdem ein Säugetier ist, weist die Union in bestimmten Belangen einen staatsähnlichen Habitus auf; sie bleibt nichtsdestoweniger eine internationale Organisation.

Dies bedeutet nun aber nicht, dass unüberwindliche sachliche Hürden dem Übergang zum Bundesstaat den Weg versperrten, also – um das Bild fortzumalen – dass aus dem Wal nicht doch ein (Wahl-)Fisch werden könnte. Im Gegenteil: Mit dem derzeitigen Institutionsbestand und unter Beibehaltung des Prinzips des dezentralen Vollzugs (die Durchführung der Gesetze obliegt grundsätzlich den einzelnen Staaten) ließe sich der entscheidende Schritt ohne allzu große Transformationen unternehmen:

Die Kommission als oberste Verwaltungsbehörde würde gegebenenfalls den Europäischen Rat in dessen Impulsgeber-Rolle beerben und somit zu einer vollfunktionalen Regierung werden. Nach Beseitigung der gleichheitswidrigen Sitzzuteilung und einigen weiteren Veränderungen (etwa Einräumung eines umfassenden Gesetzesinitiativrechts und Gleichstellung mit dem Rat in den besonderen Gesetzgebungsverfahren oder Abschaffung derselben) wäre das Parlament eine nicht mehr zu beanstandende Volksvertretung.

Den giant leap in der Staatswerdung würde jedoch der Abbau der Mauer in den Köpfen darstellen: Erst wenn sich die Mitgliedsländer gegenseitig über den Weg trauen und nicht mehr auch dort auf Parität und Proporz bestehen, wo dies der praktischen Funktionalität und demokratisch-rechtsstaatlichen Legitimität der Organe und Verfahren abträglich ist, erst dann kann man mit gutem Gewissen von einem europäischen Bundesstaat sprechen.

Zu dieser Endstufe der Vereinigung muss es freilich nicht kommen. Denn entscheidend sollte sein, was sich die Unionsbürger wünschen und wozu sie bereit sind. Vonnöten wäre eine echte, die gesamte Bevölkerung involvierende Reflexionsphase, an deren Ende vielleicht ein gutes, vielleicht ein schlechtes oder auch gar kein Ergebnis steht. Die Methode "Wiener Kongress", eine von den Eliten oktroyierte Neuordnung Europas, wäre jedenfalls die schlechteste aller Lösungen – und sie wäre in nicht wenigen Mitgliedstaaten ohne Referendum verfassungswidrig.

Vielen Europäern ist "ihre" Union fremd geblieben oder geworden. In Anspielung auf ein berühmtes Zitat eines französischen Denkers lässt sich ihr Gefühl wohl in die folgenden Worte kleiden: "L'Europe, c'est les autres"; Europa, das sind die Anderen. So sollte es aber nicht sein. Denn, um die ontologische Einsicht eines deutschen Dichters abzuwandeln: "Europa, das sind wir selber."
Noricus



© Noricus. Für Kommentare bitte hier klicken. Abbildung: "Europa auf dem Stier" von Hendrik van Balen (1573 - 1632). Gemeinfrei, da das Copyright erloschen ist.