Zu dem gestrigen Artikel über die Bluttat von Karlsruhe hat mir ein Leser eine Mail geschickt und sich "über ein bißchen viel Boulevard" enttäuscht gezeigt. Ich habe ihm geantwortet, er möge doch einen Beitrag in ZR, dessen Thema ihn nicht interessiert, einfach nicht lesen.
Mich jedenfalls hat gestern die Meldung über dieses Bluttat interessiert; und ich habe mich sofort daran gemacht, Näheres in Erfahrung zu bringen. Das Thema hat mich beschäftigt; so, wie es offenbar viele in Deutschland beschäftigt hat. Die Hauptausgabe der Tagesschau brachte es gestern Abend als Aufmacher.
Das Verbrechen fasziniert uns. Die meisten alten Mythen handeln von nachgerade unglaublichen Verbrechen - Kronos, der seinen Vater Uranos kastrierte und seine Kinder fraß; in der nordischen Mythologie die Wanen, die Mimir töteten und seinen Kopf den Asen schickten. Es gibt kaum eine Mythologie ohne Verbrechen. Der Mörder Kain in unserer jüdisch-christlichen Schöpfungsmythologie ist einer der kleineren Verbrecher.
Das Interesse am Verbrechen durchzieht die Kulturgeschichte. Die Titelvignette zeigt eine der berühmtesten Sammlungen von Kriminalfällen, den "Neuen Pitaval". Stendhal hat in den Chroniques Italiennes berühmte italienische Kriminalfälle beschrieben. Kaum ein Literatur-, kaum ein Filmgenre kann heute mit so beständigem Interesse rechnen wie der Kriminalroman, der Kriminalfilm.
Diese Faszination ist erklärungsbedürftig. Das Verbrechen, wenn wir ihm real ausgeliefert sind, ist ja etwas Schlimmes. Warum fasziniert uns in seiner imaginären Gestalt das, was wir real nicht erleben möchten?
Es gibt, soweit ich sehe, im wesentliche drei Antworten; drei Hypothesen, die das erklären könnten: Katharsis, Endorphine, Neugier.
Katharsis: Dieses griechische Wort bedeutet Reinigung, Säuberung. Sigmund Freud und sein damaliger Weggefährte Breuer haben es 1895 in den "Studien über Hysterie" in die wissenschaftliche Terminologie eingeführt; als Bezeichnung für einen von ihnen vermuteten Vorgang, den Freud später so beschrieb:
Eine kathartische Erklärung - man kann sie auch eine vulgär-psychoanalytische nennen - unseres Interesses am Verbrechen bringt dieses mit unseren eigenen, unterdrückten aggressiven Impulsen in Zusammenhang:
Unsere Erziehung, unser Gewissen verbieten uns zwar, selbst das zu verüben, was Verbrecher tun. Aber die betreffenden Triebregungen erfahren doch eine gewisse Realisierung, indem wir uns in unserer Phantasie mit solchen Handlungen beschäftigen; indem die Menschen einst Mythen nacherlebten, heute einen Kriminalroman lesen. Oder eben, wie gestern, aus den Medien von einer Bluttat erfahren.
Endorphine: Das sind, wie inzwischen allgemein bekannt ist, "Glückshormone"; vom Körper selbst erzeugte (endogene) Opiate (Morphine). Ihre Ausschüttung geht subjektiv mit einem Lust- oder Glücksgefühl einher; und sie werden nicht nur in angenehmen Situationen produziert, sondern auch dann, wenn wir unter Stress stehen, Schmerzen haben, wenn wir erschrecken und uns fürchten.
Biologisch ist das sinnvoll; es erleichtert die Bewältigung solcher bedrohlicher Situationen. Und es tritt auch auf, wenn diese gar nicht real sind, sondern wenn wir Schauriges, wenn wir Entsetzliches mitgeteilt oder dargestellt bekommen; wenn wir es in unserer Phantasie durchleben. Das ist der "wohlige Schauer", die Lust an der Darstellung des Bösen.
Es ist eine Lust, der freilich oft unser Gewissen entgegensteht. Die meisten Menschen haben nichts dagegen, sich Morde im Krimi, sich ein Gemetzel im Action- oder Historienfilm anzusehen. Dasselbe, als dokumentarische Aufnahme, möchten sie sich nicht ansehen.
Wenn doch, dann mit Entsetzen und Empörung. Das Töten, allgegenwärtig in der Fiktion und dort mit Lust betrachtet, entsetzt uns und stößt uns ab, wenn es real geschieht. Dann überwiegt nicht die Ausschüttung von Endorphinen, sondern die negative kognitive Bewertung, deren Grundlage Prozesse in der Hirnrinde, vor allem im Frontalhirn sind.
Die Grenze ist freilich unscharf. Zu den Suchbegriffen, die Googelnde am häufigsten zu ZR führen, gehört "Hinrichtungsarten" (siehe Funktionalität und Irrationalität der Todesstrafe; ZR vom 3. 7. 2008).
Neugier: Neugier ist keine Untugend, sondern ein biologisch nützliches Muster aus Emotion und Verhalten.
Man findet Neugierverhalten fast überall in der Tierwelt; vor allem aber bei Säugetieren. Der offensichtliche biologische Nutzen dieses Verhaltens liegt darin, daß man sich "Wissen" aneignet, welches man später verwenden kann. Der Hund, der zum ersten Mal in ein ihm bisher fremdes Zimmer kommt, wird darin herumlaufen und herumschnüffeln; ebenso die Ratte, die man in ein Labyrinth setzt. Der kanadische Psychologe D. E. Berlyne hat das vor einem halben Jahrhundert ausführlich untersucht; an Tieren wie auch beim Menschen.
Unsere Neugier wird erregt durch das Erwartungswidrige, das Seltene, das Überraschende. Nachrichten über Verbrechen haben diesen Charakter. Sie sind - um einen Ausdruck aus der Literaturwissenschaft zu verwenden - "unerhörte Ereignisse". Wenn wir von einem solchen Ereignis erfahren - wie gestern von der Bluttat in Karlsruhe -, dann wollen wir Genaueres wissen, uns die Einzelheiten vorstellen können. Wir müssen uns dafür nicht bewußt entscheiden; es ist, wie alles Derartige, das eine biologische Grundlage hat, einfach ein Bedürfnis.
Es mag noch andere Erklärungen für unser Interesse am Verbrechen geben; aber diese drei sind vermutlich die plausibelsten.
Sie schließen einander nicht aus; das eine mag zum anderen kommen. Am wissenschaftlich wackligsten ist die Katharsis-Erklärung. Daß unerwartete, seltene Ereignissen Neugierverhalten als eine elementaren biologische Reaktion auslösen und daß auch Furcht und Schrecken mit der Ausschüttung von Endorphinen (und auch Adrenalin) einhergehen, ist hingegen gut belegt.
Mich jedenfalls hat gestern die Meldung über dieses Bluttat interessiert; und ich habe mich sofort daran gemacht, Näheres in Erfahrung zu bringen. Das Thema hat mich beschäftigt; so, wie es offenbar viele in Deutschland beschäftigt hat. Die Hauptausgabe der Tagesschau brachte es gestern Abend als Aufmacher.
Das Verbrechen fasziniert uns. Die meisten alten Mythen handeln von nachgerade unglaublichen Verbrechen - Kronos, der seinen Vater Uranos kastrierte und seine Kinder fraß; in der nordischen Mythologie die Wanen, die Mimir töteten und seinen Kopf den Asen schickten. Es gibt kaum eine Mythologie ohne Verbrechen. Der Mörder Kain in unserer jüdisch-christlichen Schöpfungsmythologie ist einer der kleineren Verbrecher.
Das Interesse am Verbrechen durchzieht die Kulturgeschichte. Die Titelvignette zeigt eine der berühmtesten Sammlungen von Kriminalfällen, den "Neuen Pitaval". Stendhal hat in den Chroniques Italiennes berühmte italienische Kriminalfälle beschrieben. Kaum ein Literatur-, kaum ein Filmgenre kann heute mit so beständigem Interesse rechnen wie der Kriminalroman, der Kriminalfilm.
Diese Faszination ist erklärungsbedürftig. Das Verbrechen, wenn wir ihm real ausgeliefert sind, ist ja etwas Schlimmes. Warum fasziniert uns in seiner imaginären Gestalt das, was wir real nicht erleben möchten?
Es gibt, soweit ich sehe, im wesentliche drei Antworten; drei Hypothesen, die das erklären könnten: Katharsis, Endorphine, Neugier.
Katharsis: Dieses griechische Wort bedeutet Reinigung, Säuberung. Sigmund Freud und sein damaliger Weggefährte Breuer haben es 1895 in den "Studien über Hysterie" in die wissenschaftliche Terminologie eingeführt; als Bezeichnung für einen von ihnen vermuteten Vorgang, den Freud später so beschrieb:
Es tauchten ... bei dem hypnotisierten Kranken Erinnerungen, Gedanken und Impulse auf, die in seinem Bewußtsein bisher ausgefallen waren, und wenn er diese seine seelischen Vorgänge unter intensiven Affektäußerungen dem Arzte mitgeteilt hatte, war das Symptom überwunden, die Wiederkehr desselben aufgehoben. (...)Heute wird der Begriff meist in einer allgemeineren Bedeutung verwendet; ohne Bezug auf die Hypnose und die Theorie des "eingeklemmten Affekts".
Die therapeutische Wirksamkeit ihres Verfahrens erklärten sie [Breuer und Freud; Zettel] sich aus der Abfuhr des bis dahin gleichsam "eingeklemmten" Affektes, der an den unterdrückten seelischen Aktionen gehaftet hatte ("Abreagieren").
Eine kathartische Erklärung - man kann sie auch eine vulgär-psychoanalytische nennen - unseres Interesses am Verbrechen bringt dieses mit unseren eigenen, unterdrückten aggressiven Impulsen in Zusammenhang:
Unsere Erziehung, unser Gewissen verbieten uns zwar, selbst das zu verüben, was Verbrecher tun. Aber die betreffenden Triebregungen erfahren doch eine gewisse Realisierung, indem wir uns in unserer Phantasie mit solchen Handlungen beschäftigen; indem die Menschen einst Mythen nacherlebten, heute einen Kriminalroman lesen. Oder eben, wie gestern, aus den Medien von einer Bluttat erfahren.
Endorphine: Das sind, wie inzwischen allgemein bekannt ist, "Glückshormone"; vom Körper selbst erzeugte (endogene) Opiate (Morphine). Ihre Ausschüttung geht subjektiv mit einem Lust- oder Glücksgefühl einher; und sie werden nicht nur in angenehmen Situationen produziert, sondern auch dann, wenn wir unter Stress stehen, Schmerzen haben, wenn wir erschrecken und uns fürchten.
Biologisch ist das sinnvoll; es erleichtert die Bewältigung solcher bedrohlicher Situationen. Und es tritt auch auf, wenn diese gar nicht real sind, sondern wenn wir Schauriges, wenn wir Entsetzliches mitgeteilt oder dargestellt bekommen; wenn wir es in unserer Phantasie durchleben. Das ist der "wohlige Schauer", die Lust an der Darstellung des Bösen.
Es ist eine Lust, der freilich oft unser Gewissen entgegensteht. Die meisten Menschen haben nichts dagegen, sich Morde im Krimi, sich ein Gemetzel im Action- oder Historienfilm anzusehen. Dasselbe, als dokumentarische Aufnahme, möchten sie sich nicht ansehen.
Wenn doch, dann mit Entsetzen und Empörung. Das Töten, allgegenwärtig in der Fiktion und dort mit Lust betrachtet, entsetzt uns und stößt uns ab, wenn es real geschieht. Dann überwiegt nicht die Ausschüttung von Endorphinen, sondern die negative kognitive Bewertung, deren Grundlage Prozesse in der Hirnrinde, vor allem im Frontalhirn sind.
Die Grenze ist freilich unscharf. Zu den Suchbegriffen, die Googelnde am häufigsten zu ZR führen, gehört "Hinrichtungsarten" (siehe Funktionalität und Irrationalität der Todesstrafe; ZR vom 3. 7. 2008).
Neugier: Neugier ist keine Untugend, sondern ein biologisch nützliches Muster aus Emotion und Verhalten.
Man findet Neugierverhalten fast überall in der Tierwelt; vor allem aber bei Säugetieren. Der offensichtliche biologische Nutzen dieses Verhaltens liegt darin, daß man sich "Wissen" aneignet, welches man später verwenden kann. Der Hund, der zum ersten Mal in ein ihm bisher fremdes Zimmer kommt, wird darin herumlaufen und herumschnüffeln; ebenso die Ratte, die man in ein Labyrinth setzt. Der kanadische Psychologe D. E. Berlyne hat das vor einem halben Jahrhundert ausführlich untersucht; an Tieren wie auch beim Menschen.
Unsere Neugier wird erregt durch das Erwartungswidrige, das Seltene, das Überraschende. Nachrichten über Verbrechen haben diesen Charakter. Sie sind - um einen Ausdruck aus der Literaturwissenschaft zu verwenden - "unerhörte Ereignisse". Wenn wir von einem solchen Ereignis erfahren - wie gestern von der Bluttat in Karlsruhe -, dann wollen wir Genaueres wissen, uns die Einzelheiten vorstellen können. Wir müssen uns dafür nicht bewußt entscheiden; es ist, wie alles Derartige, das eine biologische Grundlage hat, einfach ein Bedürfnis.
Es mag noch andere Erklärungen für unser Interesse am Verbrechen geben; aber diese drei sind vermutlich die plausibelsten.
Sie schließen einander nicht aus; das eine mag zum anderen kommen. Am wissenschaftlich wackligsten ist die Katharsis-Erklärung. Daß unerwartete, seltene Ereignissen Neugierverhalten als eine elementaren biologische Reaktion auslösen und daß auch Furcht und Schrecken mit der Ausschüttung von Endorphinen (und auch Adrenalin) einhergehen, ist hingegen gut belegt.
Zettel
© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Der "Neue Pitaval", eine Sammlung von Kriminalfällen (1878). Gemeinfrei, da das Urheberrecht erloschen ist. Für eine vergrößerte Version bitte auf das Bild klicken.