4. Juli 2012

Schwefelhölzer, Fenchel, Bricken – Die Deutschen und ihr Nationalgefühl. Ein Gastbeitrag von Noricus

In unregelmäßigen Abständen, häufig aber zu Fußball­großereignissen, flammt in Deutschland eine Diskussion auf, die man boshaft als querelle d’Allemand bezeichnen könnte und die mit Etiketten wie Nationalstolzdebatte oder Patriotismusstreit versehen wird. Auf den ersten Blick mag man vermuten, dass diese rezidivierende Kontroverse irgendwann nach 1945 ausgebrochen sein muss. Allzu einleuchtend scheint die Annahme, dass das "patriotische Problem" der Deutschen etwas mit der "Kriegsvergangenheit" zu tun habe. Blickt man jedoch weiter zurück in die Geschichte, und zwar in die Werke der für unser Land angeblich so charakteristischen Dichter und Denker, bekommt dieses klare Bild einige Risse.

Während in Europa allenthalben der Nationalismus en vogue war, fällte kein Geringerer als der Philosoph Arthur Schopenhauer über die Vaterlandsliebe ein vernichtendes Urteil:
Die wohlfeilste Art des Stolzes hingegen ist der Nationalstolz. Denn er verrät in dem damit Behafteten den Mangel an individuellen Eigenschaften, auf die er stolz sein könnte, indem er sonst nicht zu dem greifen würde, was er mit so vielen Millionen teilt. Wer bedeutende persönliche Vorzüge besitzt, wird vielmehr die Fehler seiner eigenen Nation, da er sie beständig vor Augen hat, am deutlichsten erkennen. Aber jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz sein könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu sein. Hieran erholt er sich und ist nun dankbarlich bereit, alle Fehler und Torheiten, die ihr eigen sind, mit Händen und Füßen zu verteidigen.
Schopenhauer war übrigens alles andere als ein "progressiver" Denker. Sein Werk umfasst vielmehr das, was man das misogyne Manifest der germanophonen Literatur nennen könnte, und verrät eine zementierte antisemitische Einstellung.

Demgegenüber gilt Hoffmann von Fallersleben gemeinhin als der patriotische Dichter Deutschlands; schließlich ist die dritte Strophe seines Lieds der Deutschen die Nationalhymne der Bundesrepublik. Die ersten beiden Strophen dieses Gedichts greifen offensichtlich ein vaterländisches Poem des großen Minnesängers Walther von der Vogelweide auf.

Wer sich nun Hoffmann als einen verknöcherten Chauvinisten vorstellt, wird überrascht sein, dass der Autor selbst sein berühmtes Gedicht ein Jahr vor dessen Schaffung gleichsam ex ante parodierte: Da nehmen "Schwefelhölzer, Fenchel, Bricken" den Platz von "Einigkeit und Recht und Freiheit" ein – freier Warenverkehr als Motor einer politischen Union, das dürfte eine uns Nachkriegseuropäern nicht unbekannte Strategie sein. Man stelle sich vor, Hoffmann hätte es bei den Schwefelhölzern belassen. Boatengs, Gómez', Khediras und Özils Schweigen wäre dann wohl für jedermann nachvollziehbar.

Aber ja, es gab ihn natürlich auch schon im 19. Jahrhundert, den aggressiven Nationalismus, der Liebe zum Vaterland mit Hass auf das Fremde paraphrasierte. Berüchtigt sind die frankophoben Big-is-beautiful-Phantasien des Ernst Moritz Arndt ("wo Zorn vertilgt den welschen Tand, Wo jeder Franzmann heißet Feind") oder Geibels Hymnus auf die (noch zu vollziehende) Reichseinigung, dessen vorletzte Strophe lautet:
Dann nicht mehr zum Weltgesetze
Wird die Laun' am Seinestrom,
Dann vergeblich seine Netze
Wirft der Fischer aus in Rom,
Länger nicht mit seinen Horden
Schreckt uns der Koloss im Norden.
Und zum Schluss folgen dann noch zwei Verse, deren Wirkungsgeschichte hinlänglich bekannt ist:
Und es mag am deutschen Wesen
Einmal noch die Welt genesen.
Ob man Hoffmanns Gewässernennungen in der ersten Strophe des Deutschlandlieds in diesen Kontext stellen muss, oder ob es sich dabei um einen typischen Reflex eines in irredentistischem Geist verfassten Gedichts handelt (vgl. den Vers "Dall'Alpi a Sicilia" in der italienischen Nationalhymne), mögen andere beurteilen.

Übertriebene Deutschtümelei reizte jedenfalls auch schon im 19. Jahrhundert zur Persiflage. So ließ Friedrich Rückert seine "Deutschlinge" in den Wettstreit darüber treten, wer von ihnen der "Deutschesterestereste[n]" sei. Und ausgerechnet bei Nietzsche, dessen Bedeutung für die nationalsozialistische Gedankenwelt Gegenstand publikumswirksamer Erörterungen war und ist, findet sich folgendes Diktum:
Deutsch denken, deutsch fühlen – ich kann alles, aber das geht über meine Kräfte.
Welch ein Unterschied auch zwischen Arndts martialischer Rhetorik und Gryphius' viele Generationen zuvor verfasstem Sonett über die Schrecken des 30-jährigen Krieges mit dem bezeichnenden Titel "Tränen des Vaterlandes".

Man könnte den Streifzug durch die deutsche Literatur ad nauseam fortsetzen. Die Botschaft dieses Beitrags dürfte jetzt schon angekommen sein: Die Nationalstolzdebatte hat eine etwa 200-jährige Tradition. Sie ist mitnichten ein Kind der Nachkriegszeit. Wenn also das Online-Portal einer großen deutschen Tageszeitung dem Phänomen des "Party-Patriotismus" erklecklichen Webspace widmet, dann ist das die Pflege eines ererbten nationalen Diskurses.

Schließlich mag man sich fragen, worauf die Deutschen denn eigentlich stolz sein sollen: Auf Dichter wie Goethe und Denker wie Kant? Auf das Reinheitsgebot von 1516? Auf das Wunder von Bern? Andere Völker beziehen ihre Identität in der Regel aus einem politischen Ereignis (einer Revolution oder der Erlangung der Unabhängigkeit) oder der Verehrung einer nationalen Heldengestalt. Da hat man es in Deutschland schwer: Etwa die Revolution von 1848 blieb erfolglos. Die Weimarer Republik führte direkt in die Katastrophe. Der Alte Fritz, heuer immerhin Jubilar, oder Bismarck dürften unabhängig von ihrer Vereinnahmung durch die Nazis für (katholische) Nichtpreußen kaum identitätsstiftend sein.

Es wird wohl dabei bleiben: Die Nationalstolzdebatte gehört zu Deutschland.

Noricus



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