2. Juli 2012

Das Singen der Nationalhymne, die Piratenpartei und Barack Obama. Eine These

Nach aktuellen Umfragen liegt die Piratenpartei derzeit bei acht bis zehn Prozent. Bundesweit. In Berlin sieht sie eine heute veröffentlichte Umfrage von Forsa bei dreizehn Prozent - einen Prozentpunkt über der Partei "Die Linke", die einst als SED das halbe Berlin regierte.

Bei der gestern zu Ende gegangenen Fußball-EM haben eine Reihe von deutschen Spielern die Nationalhymne nicht mitgesungen; unter anderem der Berliner Jérôme Boateng, der in der Nähe von Stuttgart geborene und aufgewachsene Sami Khedira und der Gelsenkirchender Mesut Özil; wenn ich es recht gesehen habe, auch der aus Riedlingen stammende Mario Gómez nicht.

Ich möchte jetzt die These vortragen und begründen, daß es zwischen diesem Verhalten und dem frappierenden Erfolg der Piratenpartei einen Zusammenhang gibt.



Wenn alle die Nationalhymne singen - die Zuschauer, Trainer und Betreuer, die Mannschaft - , und einige Spieler schließen sich aus, dann hat das einen demonstrativen Charakter. Die Interpretation drängt sich auf (in der Tat sehe ich keine andere), daß sie damit ausdrücken wollen: Ich fühle mich nicht als Deutscher. Ich spiele zwar in dieser National­mannschaft, aber ich habe keine deutsche Identität.

Wenn das der im polnischen Gleiwitz geborene Lukas Podolski ausdrückt, dann ist dies nicht weiter erklärungsbedürftig; er ist eben Pole und Deutscher zugleich, in dem für die erste Generation von Einwanderern typischen Identitätskonflikt.

Aber die anderen sind in Deutschland geboren. Boateng, Khedira und Gómez haben eine deutsche Mutter. In der Familie Özil wuchs schon Mesuts Vater in Deutschland auf, wohin er als zweijähriges Kind gekommen war; auch er hat bereits die deutsche Staatsbürgerschaft. Mesut Özil ist ebenso Deutscher wie Jérôme Boateng, wie Sami Khedira, wie Mario Gómez (wenn dieser auch zusätzlich einen spanischen Paß hat; aber er hat nie in Spanien gelebt).

Es handelt sich also um Biographien wie diejenige von Barack Obama, der als Sohn einer amerikanischen Mutter und eines Vaters aus Kenya in den USA geboren wurde.

Diese Fußballer sind so sehr Deutsche, wie Obama Amerikaner ist; eigentlich sogar noch eindeutiger, denn Barack Obama wuchs teilweise in Indonesien auf, im Haus seines indonesischen Stiefvaters.

Warum fällt diesen deutschen Fußballern das so schwer, was Barack Obama und anderen Amerikanern mit einer ähnlichen Biographie so leicht fällt - sich zu ihrem Land, ihrer Heimat zu bekennen?

Das ist eine deutsche Seltsamkeit. Seltsam wie der weltweit einmalige Erfolg der Piratenpartei.

Sehen Sie sich einmal diese Liste an. In Schweden, wo sie herkommen, haben die Piraten insgesamt (alle politischen Ebenen zusammengenommen) zwei Mandate, nämlich im Europäischen Parlament. In vier Ländern (in Österreich, Tschechien, der Schweiz und in Spanien) haben sie einen bis drei Sitze in Stadt- oder Gemeinderäten. Das ist alles. In Deutschland sind es 45 Sitze in Landesparlamenten und 163 Sitze in Stadt- und Gemeinderäten.

Ähnlich sieht es bei den Grünen aus. Nur in Deutschland sind sie eine der großen Parteien; überall sonst eine randständige Erscheinung. Bei den Präsident­schafts­wahlen in Frankreich erreichte die grüne Kandidatin Eva Joly 2,31 Prozent. Daß eine grüne Partei einen Außenminister stellen könnte, ist überall undenkbar. In Deutschland war es Realität.



In keiner der großen westlichen Demokratien gibt es eine solche Neigung, sich randständigen, alternativen, auf ideologischen Fundamenten ruhenden Parteien zuzuwenden wie in Deutschland. In kaum einem anderen Land fällt es offenbar Menschen mit ausländischen Vorfahren so schwer, sich zu ihrem Heimatland zu bekennen.

Natürlich könnte es sein, daß diese beiden deutschen Seltsamkeiten nichts miteinander zu tun haben. Aber es könnte auch einen Zusammenhang geben. Aus meiner Sicht gibt es ihn.

Das, was die beiden Seltsamkeit verbindet, möchte ich Traditions­vergessenheit nennen. Es ist das Phänomen - das es so in kaum einem anderen Land gibt -, sich nicht an nationalen Traditionen zu orientieren; seine eigene Identität nicht mit der Geschichte der Nation zu verknüpfen. Der Kölner Psychologe Ulrich Schmidt-Denter hat das eingehend erforscht und dokumentiert (siehe "Am schwächsten ist die nationale Identität in Deutschland"; ZR vom 13. 1 2012.



Parteien sind geschichtlich gewachsen. Die deutsche Sozialdemokratie ist fast 150 Jahre alt. Die FDP geht zurück auf die liberalen Parteien des 19. Jahrhunderts wie die Deutsche Fortschrittspartei, die Nationalliberalen und die Deutsche Volkspartei. Die Kommunisten blicken auf eine inzwischen auch schon fast hundertjährige Tradition zurück. Die CDU steht in der Tradition zum einen des Zentrum, zum anderen bürgerlicher Parteien aus dem Kaiserreich und der Weimarer Republik.

Die Besonderheit der Grünen, als sie um 1980 herum entstanden, und heute der Piratenpartei ist, daß sie traditionslos sind. Die meisten ihrer Mitglieder kamen und kommen nicht aus einer der bestehenden Parteien; bei den Grünen allenfalls aus der einen oder anderen K-Gruppe.

Parteien ohne Tradition haben in einer Demokratie in normalen Zeiten keine Chance. Die einzige Ausnahme ist das gelegentliche Aufkommen von populistischen Strömungen, deren Grundmotiv in der Regel das Sich-Wehren ist - gegen zu hohe Steuern, wie in Frankreich einst bei den Poujadisten, aus denen der heutige Front National hervorging; gegen eine als bedrohlich empfundene Einwanderung beispielsweise.

Ansonsten sind Parteien verwurzelt in der nationalen Geschichte. Sie mögen sich spalten, sich umbenennen, sich wieder zusammenschließen, wie das zum Beispiel in Frankreich und Italien nicht selten ist - es bleiben doch dieselben, traditionellen politischen Strömungen. Nur nicht in Deutschland mit seiner Traditionsvergessenheit, wo man Parteien gerade deshalb schätzt, weil sie ohne Tradition sind, anders und neu, eben "alternativ".

Wenn Sie einen Eindruck von der Piratenpartei bekommen wollen, dann hören Sie sich vielleicht einmal dieses Gespräch an, das Spitzenpolitiker der Berliner Piraten miteinander führten; der frühere Landesvorsitzende Gerhard Anger und der Fraktionsvorsitzende im Abgeordnetenhaus Andreas Baum.

Es ist ein sehr langes Gespräch, mit einem dritten Teilnehmer von der "Basis" der Partei; ungefähr drei Stunden. Vermutlich werden Sie es sich - wie ich - nur zum Teil anhören. Es ist eine Mischung aus Kneipengerede (Biertrinken und der Toilettengang durchziehen die Aufzeichnung) und einer Betroffenheits-Diskussion in der Wohnküche einer WG; in einem Jargon, von dem ich gar nicht gedacht hätte, daß es ihn noch gibt. Gebrüder Blattschuß, Insterburg und Co.; das fiel mir dazu ein.

Das sind und so reden Spitzenpolitiker einer Partei, für die sich laut Forsa-Umfrage fast jeder siebte Berliner entscheiden würde. Pas sérieux, nicht ernstzunehmen - das wäre in Frankreich die schulterzuckende Reaktion auf eine solche Partei. In einem Land, das sich seiner großen Traditionen bewußt ist.



Ist aber ein Land sich seiner Traditionen nicht bewußt - wer möchte sich dann zur nationalen Identität dieses Landes bekennen? Wer möchte freiwillig Deutscher sein, wenn er die Alternative hat, ein stolzer Türke zu sein, ein Spanier; wenn er sich wie Jérome Boateng auf das bedeutende westafrikanische Reich der Akan zurückführen kann, das Volk, aus dem sein Vater, Prince Boateng, stammt?

In diesem traditionsvergessenen Deutschland gilt man bereits als des Rechtsradikalismus verdächtig, wenn man sagt, daß man stolz ist, Deutscher zu sein. Statt unsere Geschichte so - überwiegend - positiv zu sehen, wie das jede normale Nation der Welt tut, sind wir nachgerade pathologisch fixiert auf eine einzige Epoche von dreizehn Jahren in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts; und nicht wenige wollen die deutsche Geschichte in vielen ihrer Aspekte als auf diese Nazizeit hinführend, als für die Barbarei der Nazis mitverantwortlich verstehen.

Wir haben die traditionslosen Parteien, die wir verdienen. Wir haben, wie wir es verdienen, Deutsche wie Boateng, Özil und Khedira, die es vorziehen, keine Deutschen zu sein; jedenfalls es vorziehen, sich nicht durch Mitsingen des Deutschlandlieds zu Deutschland zu bekennen.­
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Der Pirat "Captain Kidd" beim Vergraben eines Schatzes. Buchillustration, vor 1911.