20. Juli 2012

Marginalie: Deutsche und Amerikaner. Die Gretchenfrage

Gibt es einen wirklich fundamentalen Unterschied zwischen den Deutschen und den Amerikanern? Ja. Er betrifft die Gretchenfrage. Also die Frage nach der Religion:
Gretchen:
Nun sag, wie hast du's mit der Religion?
Du bist ein herzlich guter Mann,
Allein ich glaub, du hältst nicht viel davon.

Faust:
Laß das, mein Kind! Du fühlst, ich bin dir gut;
Für meine Lieben ließ' ich Leib und Blut,
Will niemand sein Gefühl und seine Kirche rauben.

Gretchen:
Das ist nicht recht, man muß dran glauben.
Dran glauben tut eine große Mehrheit der Amerikaner. Dran glauben tun viele Deutsche nicht; zumal dort, wo einst der atheistische Sozialismus herrschte.

Der "Spiegel" hat kürzlich über eine Konferenz in London berichtet, die sich mit dem Atheismus befaßte. Es gab dazu eine Grafik mit Daten des Leibniz-Instituts für Sozialwissenschaften, aus der hervorging, daß 95,8 Prozent der US-Amerikaner an Gott glauben, aber nur 34,7 Prozent der Ostdeutschen. Kaum irgendwo auf der Welt gibt es prozentual so viele Atheisten wie auf dem Gebiet der einstigen DDR.

In Westdeutschland glauben nach diesen Daten immerhin 89,2 Prozent an Gott. Nach einer anderen, EU-weiten Umfrage sind es im gesamten Deutschland allerdings nur 47 Prozent, die an Gott glauben. Bei solchen Umfragen kommt es auf die Formulierung der Frage an und den Kontext, in dem sie gestellt wird.

Die Amerikaner sehen sich als - so steht es seit 1954 im Pledge of Allegiance, dem bei vielen Gelegenheiten gesprochenen Bekenntnis zu den USA - , "one nation under God"; als eine einige Nation unter Gott. In der Präambel unseres Grundgesetzes steht zwar auch der Gottesbezug ("Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen (...) hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben"). Er ist aber inzwischen umstritten; und gelebte Wirklichkeit ist er gewiß nicht.



Mir ist dieser Unterschied zwischen Deutschland und den USA wieder einmal aufgefallen, als ich einen Artikel über den Fall des George Zimmerman las, der Trayvon Martin erschoß (siehe Ein "Mörder" und sein Hinterhaupt. Der Fall Trayvon Martin in den deutschen Medien; ZR vom 2. 6. 2012).

Zimmerman hat jetzt dem Sender Fox News ein Interview gegeben. Darin drückte er den Eltern von Trayvon Martin sein Mitgefühl aus und sagte, wie sehr ihn das Geschehen belaste.

Aber er wolle nicht grübeln, wie es dazu habe kommen können: "I feel that it was all God's plan"; er glaube, daß alles Gottes Plan gewesen sei. Was der Vater des Getöteten, Tracy Martin, so kommentierte: "We must worship a different God. There is no way that my God wanted George Zimmerman to murder my teenage son" - "Wir beten offenbar nicht zum selben Gott. Mein Gott könnte unmöglich gewollt haben, daß George Zimmerman meinen Jungen ermordet".

Ein Austausch, über den man philosophisch, über den man in einem theologischen Kontext nachdenken könnte. Zimmerman will, als Fatalist, sagen, daß das Geschehene, wie alles auf dieser Welt, Gottes Wille war. Tracy Martin kennt nur den gütigen, den gerechten Gott und kann diesem das tragische Geschehen nicht zuschreiben. Es ist, wenn man so will, das Problem der Theodizee; der Frage, wie Gott das Böse und das Leid in der Welt zulassen kann.

In Deutschland kann man sich schwer vorstellen, daß jemand, der eine solche Tat begangen hat, sagt, Gott habe es so gewollt; oder daß der Vater des Opfers antwortet, das könne nicht sein, denn ein solcher Gott wäre nicht sein Gott.

Wir haben es uns abgewöhnt, in solchen Kategorien zu denken. Für Amerikaner sind sie selbstverständlich.­
Zettel



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