Im zweiten Teil habe ich mich mit zwei der kleineren arabischen Länder befaßt; Jordanien und Bahrain. Trotz oberflächlicher Ähnlichkeiten in der momentanen politischen Lage zeigte die genauere Analyse, daß die jeweiligen Unruhen ganz unterschiedliche Ursachen haben.
Im jetzigen dritten Teil gehe ich auf nur ein Land ein, Libyen. Zum einen, weil es seit einigen Tagen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. Zweitens aber auch, weil über dieses Land, vor allem den historischen Hintergrund des jetzigen Aufruhrs, in den Medien selten Konkretes berichtet wird. Mehr als in den ersten beiden Teilen gehe ich dabei über das hinaus, was dazu Stratfor an Informationen geliefert hat.
Libyen ist eines der vielen Länder, die Anfang des 20. Jahrhunderts aus der, sagen wir, Konkursmasse des zerbrechenden Osmanischen Reichs hervorgingen.
Es gibt aber eine wesentliche Besonderheit: Nicht Frankreich oder England lösten dort als die vorläufigen neuen Herren die Osmanische Herrschaft ab, wie auf der Arabischen Halbinsel, sondern Italien. Und das fand nicht als ein Ergebnis des Ersten Weltkriegs statt, sondern schon zuvor.
Das damals noch längst nicht faschistische Italien, eine konstitutionelle Monarchie, hatte im September 1911 die Osmanischen Provinzen Tripolitanien, Fezzan und Cyrenaica schlicht überfallen, um ein Stück aus dem immer schwächer werdenden Reich des Sultans im fernen Istanbul zu rauben. So entstand die Kolonie Italienisch-Nordafrika; unter Mussolini in Libya umgetauft, nach einem antiken Namen der Region. Mussolini liebte ja das Antike; der Begriff "Faschismus" selbst ist bekanntlich dem Justizsystem des Römischen Reichs entlehnt.
Die Kolonialmacht Italien herrschte brutal und versuchte Italiener in der Kolonie anzusiedeln; die einheimische Bevölkerung führte gegen die Landräuber einen blutigen, aber erfolglosen Unabhängigkeitskrieg. Es gibt Schätzungen, daß mehr als die Hälfte der Beduinen-Bevölkerung dabei ums Leben kam.
Nachdem im Zweiten Weltkrieg die Briten in Nordafrika gegen Italien und Rommels Afrikakorps gesiegt hatten, geriet Libyen zuerst unter britische, teils auch französische Verwaltung und wurde dann Ende 1951 selbständig; und zwar als Königreich unter dem einstigen Emir von Cyrenaika Idris, der den Widerstand gegen die Italiener angeführt hatte und der als Idris I (und, wie sich dann zeigte, auch Idris der Letzte) den Thron bestieg.
Bemerkenswert ist, daß dieser neue, sofort in die UNO aufgenommene Staat eine ausgesprochen liberale, rechtsstaatliche Verfassung hatte und damit in der gesamten arabischen Welt an der Spitze lag. Bis zum Putsch Gaddafis im Jahr 1969 war Libyen das politisch modernste arabische Land mit einer in ihrer großen Mehrheit moslemischen Bevölkerung (der gemischt christlich-moslemische Libanon ist ein Sonderfall); auch wenn es im Lauf der Regierungszeit von Idris gewisse Einschränkungen gab.
Als am 1.September 1969 der König wegen einer ärztlichen Behandlung außer Landes war, putschte eine Gruppe von sozialistischen Offizieren unter Anführung durch den erst 27jährigen Hauptmann Gaddafi, erklärten die Monarchie für abgeschafft, löste das Parlament auf und proklamierte den Sozialismus innerhalb einer Arabischen Republik Libyen. Der Putsch war nach dem Vorbild von Nassers Machtergreifung in Ägypten 17 Jahre zuvor modelliert. Wie Nasser lehnte man den Kommunismus ab und trat für einen eigenen arabischen, nicht rigoros atheistischen Sozialismus ein.
Anfang der siebziger Jahre inszenierte Gaddafi nach dem Vorbild Maos eine "Kulturrevolution" zwecks der völligen sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft. Das Land hieß ab 1977 "Sozialistische Libysche Arabische Volks-Jamahiriya". Das letzte Wort in diesem etwas länglichen Namen ist schwer zu übersetzen; Arabisten schlagen etwas in Richtung "Massenbewegung" oder "Volksgemeinschaft" vor.
Ebenfalls nach dem Vorbild Maos verfaßte Gaddafi ein grundlegend-theoretisches Werk. Diese Gedanken des Vorsitzenden Gaddafi waren aber nicht in einem roten, sondern einem grünen Buch niedergelegt. Gaddafi trug fortan die beiden schönen Titel "Führer der Großen Revolution des Ersten September der Sozialistischen Libyschen Arabischen Volks-Jamahiriya" sowie "Brüderlicher Leiter und Führer der Revolution". Den Text des Grünen Buchs können Sie (auf Englisch) hier lesen.
In den folgenden Jahrzehnten ging das Land seinen sozialistischen Gang, wie man ihn überall sieht, wo der arabische Sozialismus gesiegt hatte; freilich besonders häßlich: Gewaltherrschaft, Armut, Stagnation in allen Lebensbereichen. Eine Besonderheit war, daß Gaddafi sich bei der Unterstützung des internationalen Terrorismus hervortat. In den letzten Jahren sagte er sich allerdings vom Terrorismus los; an den desolaten inneren Zuständen, die zu dem jetzigen Aufruhr führten, änderte sich aber nichts.
In den Schlagzeilen, in der TV-Berichterstattung hat in den letzten Tagen Libyen den Krisenstaat Bahrain abgelöst, der die vergangene Woche dominiert hatte. Die Aufmerksamkeit der Medien wendet sich nun einmal immer dorthin, wo es gerade am spektaklärsten, wo es am blutigsten zugeht. Das ist, wie man zum Beispiel in diesem Bericht in der Wochenendausgabe der FAZ lesen kann, im Augenblick Libyen; Berichte von dort dominierten auch die meisten Fernseh-Nachrichten.
Ein offensichtlicher Unterschied zur Berichterstattung aus Bahrain und Ägypten ist allerdings, daß aus Libyen kaum Informationen, vor allem so gut wie keine Bilder nach außen dringen. Man ist weitgehend auf Berichte von Reisenden und Gastarbeitern angewiesen, die das Land jetzt verlassen; sowie auf das, was mutige Libyer an Berichten, Fotos und gelegentlich auch Videos ins Internet stellen. Dazu gibt es die propagandistischen Berichte der vollständig vom Staat kontrollierten Medien.
Die Unruhen scheinen am Dienstag vergangener Woche in Benghazi begonnen zu haben, wo Demonstranten die Freilassung des inhaftierten Rechtsanwalts und Menschenrechtlers Fathi Turbil verlangten. Bereits am Donnerstag, der von der Opposition als der erste "Tag des Zorns" angekündigt worden war, kam es dann in Benghazi and Al Bayda zu blutigen Aktionen der Sicherheitskräfte gegen Demonstranten; mit Todesopfern. Das Staatsfernsehen in Tripoli zeigte derweil Bilder des Diktators Muammar al-Gaddafi, wie er über einer Schar von Anhängern thronte und Küsse verteilte.
Viele werden nicht in Stimmung gewesen sein, ihm mit einem Kußhändchen zu antworten. Denn in diesem durch sein Öl eigentlich reichen, aber vom Sozialismus völlig heruntergewirtschafteten Land liegt die Jugend-Arbeitslosigkeit höher als irgendwo sonst im nördlichen Afrika; sie wird auf zwischen 40 und 50 Prozent geschätzt. Auch die allgemeine Arbeitslosigkeit ist sehr hoch. Außerhalb des von Ausländern gemanagten Ölsektors gibt es praktisch keine Industrie.
Es fehlt an der einfachsten Grundversorgung. Die Versorgung mit Wohnungen ist miserabel. Zwei Drittel der Bevölkerung in diesem reichen Ölstaat leben von weniger als 2 Dollar am Tag. Von auch nur annähernd unabhängigen Medien kann keine Rede sein. Eine innere Opposition konnte wegen der polizeistaatlichen Repression bisher kaum entstehen; die meisten Oppositionellen sind im Exil oder sitzen im Gefängnis.
Stratfor meint, es sei bemerkenswert, daß es in einem derartigen Polizeistaat überhaupt zu Demonstrationen hatte kommen können. Das Regime werde versuchen, den Aufruhr mit eiserner Faust zu beenden; allerdings gehören zum Konzept auch gewisse Konzessionen. Beispielsweise wurde Turbil jetzt freigelassen.
Bei der Niederschlagung etwaiger weiterer Aufstände kann sich Gaddafi auf ihm ergebene Truppen stützen; nicht wie in Ägypten Wehrpflichtige, sondern Berufssoldaten und Söldner aus dem Ausland.
Ein geschickter Schachzug Gaddafis war es gewesen, einen Teil der militanten Islamisten, die auch in Libyen aktiv sind, abzuspalten und in seine Streitkräfte zu integrieren; auch die Beduinenstämme sind eng mit dem Militär verbunden. Anders als in Ägypten bei Mubarak ist also eher nicht damit zu rechnen, daß das Militär sich gegen Gaddafi stellt.
Die Lage ist aber offenbar im Fluß. Heute Vormittag hat sich der Aufruhr ausgeweitet. Al Jazeera meldet soeben, es hätte heute bereits Dutzende von Toten gegeben. Die Protestierer hätten ein Militärlager besetzt, das darauf von der Luftwaffe bombardiert worden sei. Es gibt Gerüchte, daß Aufrührer die Stadt Benghazi "erobert" hätten. Auch Al Jazeera meldet wie schon Stratfor, daß Gaddafi möglicherweise ausländische Söldner gegen die Aufständischen einsetzen werde.
Eine besondere Note erhält die Situation in Libyen durch den Machtkampf um Gaddafis Nachfolge, den sich seine beiden Söhne Seif al-Islam und Motasem liefern.
Seif al-Islam gilt als der Gemäßigtere. Er hat die Ölindustrie hinter sich; mit dem Chef der Nationalen Ölgesellschaft Shukri Ghanem ist er ein Bündnis eingegangen. Mosem, der Sicherheitschef des Landes, hat das Militär und die Betonköpfe der Revolution auf seiner Seite.
Gestern trat nicht Gaddafi selbst, sondern Seif al-Islam im Staatsfernsehen auf und hielt eine Rede, in der er zugleich Reformen wie aber auch ein hartes Durchgreifen gegen Demonstranten ankündigte. Man kann das so interpretieren, daß er im Augenblick in diesem Bruderkampf in Führung gegangen ist.
Ob er damit durchkommt, oder ob ihm gerade sein Reformwille das Genick bricht (er war sogar so weit gegangen, eine von ihm kontrollierte Organisation Berichte über Verletzungen der Menschenrechte in Libyen publizieren zu lassen), ist im Augenblick völlig offen.
Von den bisher in dieser Artikelfolge behandelten Staaten - Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten, Jordanien und Bahrain - hat Libyen das mit Abstand repressivste System.
Der Vergleich macht deutlich, daß man nicht nur zwischen den konstitutionellen Monarchien mit weitgehenden politischen Freiheiten (Marokko, Jordanien, in Grenzen Bahrain) auf der einen Seite und den sozialistisch geprägten, bisher diktatorisch regierten Ländern (Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten; dazu das später zu besprechende Syrien) auf der anderen Seite unterscheiden muß.
Auch in dieser zweiten Gruppe gibt es große Unterschiede. Das Ägypten Mubaraks war vergleichsweise frei; mit (wenn auch unfairen) Wahlen und mit zugelassenen Oppostionsparteien. Härter war die Repression im Tunesien von Ben Ali; noch erheblich brutaler ist sie in Algerien. Mit Abstand am weitesten fortgeschritten bei der Verwirklichung des Sozialismus aber ist die Sozialistische Libysche Arabische Volks-Jamahiriya. (Wird fortgesetzt).
Im jetzigen dritten Teil gehe ich auf nur ein Land ein, Libyen. Zum einen, weil es seit einigen Tagen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. Zweitens aber auch, weil über dieses Land, vor allem den historischen Hintergrund des jetzigen Aufruhrs, in den Medien selten Konkretes berichtet wird. Mehr als in den ersten beiden Teilen gehe ich dabei über das hinaus, was dazu Stratfor an Informationen geliefert hat.
Libyen ist eines der vielen Länder, die Anfang des 20. Jahrhunderts aus der, sagen wir, Konkursmasse des zerbrechenden Osmanischen Reichs hervorgingen.
Es gibt aber eine wesentliche Besonderheit: Nicht Frankreich oder England lösten dort als die vorläufigen neuen Herren die Osmanische Herrschaft ab, wie auf der Arabischen Halbinsel, sondern Italien. Und das fand nicht als ein Ergebnis des Ersten Weltkriegs statt, sondern schon zuvor.
Das damals noch längst nicht faschistische Italien, eine konstitutionelle Monarchie, hatte im September 1911 die Osmanischen Provinzen Tripolitanien, Fezzan und Cyrenaica schlicht überfallen, um ein Stück aus dem immer schwächer werdenden Reich des Sultans im fernen Istanbul zu rauben. So entstand die Kolonie Italienisch-Nordafrika; unter Mussolini in Libya umgetauft, nach einem antiken Namen der Region. Mussolini liebte ja das Antike; der Begriff "Faschismus" selbst ist bekanntlich dem Justizsystem des Römischen Reichs entlehnt.
Die Kolonialmacht Italien herrschte brutal und versuchte Italiener in der Kolonie anzusiedeln; die einheimische Bevölkerung führte gegen die Landräuber einen blutigen, aber erfolglosen Unabhängigkeitskrieg. Es gibt Schätzungen, daß mehr als die Hälfte der Beduinen-Bevölkerung dabei ums Leben kam.
Nachdem im Zweiten Weltkrieg die Briten in Nordafrika gegen Italien und Rommels Afrikakorps gesiegt hatten, geriet Libyen zuerst unter britische, teils auch französische Verwaltung und wurde dann Ende 1951 selbständig; und zwar als Königreich unter dem einstigen Emir von Cyrenaika Idris, der den Widerstand gegen die Italiener angeführt hatte und der als Idris I (und, wie sich dann zeigte, auch Idris der Letzte) den Thron bestieg.
Bemerkenswert ist, daß dieser neue, sofort in die UNO aufgenommene Staat eine ausgesprochen liberale, rechtsstaatliche Verfassung hatte und damit in der gesamten arabischen Welt an der Spitze lag. Bis zum Putsch Gaddafis im Jahr 1969 war Libyen das politisch modernste arabische Land mit einer in ihrer großen Mehrheit moslemischen Bevölkerung (der gemischt christlich-moslemische Libanon ist ein Sonderfall); auch wenn es im Lauf der Regierungszeit von Idris gewisse Einschränkungen gab.
Als am 1.September 1969 der König wegen einer ärztlichen Behandlung außer Landes war, putschte eine Gruppe von sozialistischen Offizieren unter Anführung durch den erst 27jährigen Hauptmann Gaddafi, erklärten die Monarchie für abgeschafft, löste das Parlament auf und proklamierte den Sozialismus innerhalb einer Arabischen Republik Libyen. Der Putsch war nach dem Vorbild von Nassers Machtergreifung in Ägypten 17 Jahre zuvor modelliert. Wie Nasser lehnte man den Kommunismus ab und trat für einen eigenen arabischen, nicht rigoros atheistischen Sozialismus ein.
Anfang der siebziger Jahre inszenierte Gaddafi nach dem Vorbild Maos eine "Kulturrevolution" zwecks der völligen sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft. Das Land hieß ab 1977 "Sozialistische Libysche Arabische Volks-Jamahiriya". Das letzte Wort in diesem etwas länglichen Namen ist schwer zu übersetzen; Arabisten schlagen etwas in Richtung "Massenbewegung" oder "Volksgemeinschaft" vor.
Ebenfalls nach dem Vorbild Maos verfaßte Gaddafi ein grundlegend-theoretisches Werk. Diese Gedanken des Vorsitzenden Gaddafi waren aber nicht in einem roten, sondern einem grünen Buch niedergelegt. Gaddafi trug fortan die beiden schönen Titel "Führer der Großen Revolution des Ersten September der Sozialistischen Libyschen Arabischen Volks-Jamahiriya" sowie "Brüderlicher Leiter und Führer der Revolution". Den Text des Grünen Buchs können Sie (auf Englisch) hier lesen.
In den folgenden Jahrzehnten ging das Land seinen sozialistischen Gang, wie man ihn überall sieht, wo der arabische Sozialismus gesiegt hatte; freilich besonders häßlich: Gewaltherrschaft, Armut, Stagnation in allen Lebensbereichen. Eine Besonderheit war, daß Gaddafi sich bei der Unterstützung des internationalen Terrorismus hervortat. In den letzten Jahren sagte er sich allerdings vom Terrorismus los; an den desolaten inneren Zuständen, die zu dem jetzigen Aufruhr führten, änderte sich aber nichts.
In den Schlagzeilen, in der TV-Berichterstattung hat in den letzten Tagen Libyen den Krisenstaat Bahrain abgelöst, der die vergangene Woche dominiert hatte. Die Aufmerksamkeit der Medien wendet sich nun einmal immer dorthin, wo es gerade am spektaklärsten, wo es am blutigsten zugeht. Das ist, wie man zum Beispiel in diesem Bericht in der Wochenendausgabe der FAZ lesen kann, im Augenblick Libyen; Berichte von dort dominierten auch die meisten Fernseh-Nachrichten.
Ein offensichtlicher Unterschied zur Berichterstattung aus Bahrain und Ägypten ist allerdings, daß aus Libyen kaum Informationen, vor allem so gut wie keine Bilder nach außen dringen. Man ist weitgehend auf Berichte von Reisenden und Gastarbeitern angewiesen, die das Land jetzt verlassen; sowie auf das, was mutige Libyer an Berichten, Fotos und gelegentlich auch Videos ins Internet stellen. Dazu gibt es die propagandistischen Berichte der vollständig vom Staat kontrollierten Medien.
Die Unruhen scheinen am Dienstag vergangener Woche in Benghazi begonnen zu haben, wo Demonstranten die Freilassung des inhaftierten Rechtsanwalts und Menschenrechtlers Fathi Turbil verlangten. Bereits am Donnerstag, der von der Opposition als der erste "Tag des Zorns" angekündigt worden war, kam es dann in Benghazi and Al Bayda zu blutigen Aktionen der Sicherheitskräfte gegen Demonstranten; mit Todesopfern. Das Staatsfernsehen in Tripoli zeigte derweil Bilder des Diktators Muammar al-Gaddafi, wie er über einer Schar von Anhängern thronte und Küsse verteilte.
Viele werden nicht in Stimmung gewesen sein, ihm mit einem Kußhändchen zu antworten. Denn in diesem durch sein Öl eigentlich reichen, aber vom Sozialismus völlig heruntergewirtschafteten Land liegt die Jugend-Arbeitslosigkeit höher als irgendwo sonst im nördlichen Afrika; sie wird auf zwischen 40 und 50 Prozent geschätzt. Auch die allgemeine Arbeitslosigkeit ist sehr hoch. Außerhalb des von Ausländern gemanagten Ölsektors gibt es praktisch keine Industrie.
Es fehlt an der einfachsten Grundversorgung. Die Versorgung mit Wohnungen ist miserabel. Zwei Drittel der Bevölkerung in diesem reichen Ölstaat leben von weniger als 2 Dollar am Tag. Von auch nur annähernd unabhängigen Medien kann keine Rede sein. Eine innere Opposition konnte wegen der polizeistaatlichen Repression bisher kaum entstehen; die meisten Oppositionellen sind im Exil oder sitzen im Gefängnis.
Stratfor meint, es sei bemerkenswert, daß es in einem derartigen Polizeistaat überhaupt zu Demonstrationen hatte kommen können. Das Regime werde versuchen, den Aufruhr mit eiserner Faust zu beenden; allerdings gehören zum Konzept auch gewisse Konzessionen. Beispielsweise wurde Turbil jetzt freigelassen.
Bei der Niederschlagung etwaiger weiterer Aufstände kann sich Gaddafi auf ihm ergebene Truppen stützen; nicht wie in Ägypten Wehrpflichtige, sondern Berufssoldaten und Söldner aus dem Ausland.
Ein geschickter Schachzug Gaddafis war es gewesen, einen Teil der militanten Islamisten, die auch in Libyen aktiv sind, abzuspalten und in seine Streitkräfte zu integrieren; auch die Beduinenstämme sind eng mit dem Militär verbunden. Anders als in Ägypten bei Mubarak ist also eher nicht damit zu rechnen, daß das Militär sich gegen Gaddafi stellt.
Die Lage ist aber offenbar im Fluß. Heute Vormittag hat sich der Aufruhr ausgeweitet. Al Jazeera meldet soeben, es hätte heute bereits Dutzende von Toten gegeben. Die Protestierer hätten ein Militärlager besetzt, das darauf von der Luftwaffe bombardiert worden sei. Es gibt Gerüchte, daß Aufrührer die Stadt Benghazi "erobert" hätten. Auch Al Jazeera meldet wie schon Stratfor, daß Gaddafi möglicherweise ausländische Söldner gegen die Aufständischen einsetzen werde.
Eine besondere Note erhält die Situation in Libyen durch den Machtkampf um Gaddafis Nachfolge, den sich seine beiden Söhne Seif al-Islam und Motasem liefern.
Seif al-Islam gilt als der Gemäßigtere. Er hat die Ölindustrie hinter sich; mit dem Chef der Nationalen Ölgesellschaft Shukri Ghanem ist er ein Bündnis eingegangen. Mosem, der Sicherheitschef des Landes, hat das Militär und die Betonköpfe der Revolution auf seiner Seite.
Gestern trat nicht Gaddafi selbst, sondern Seif al-Islam im Staatsfernsehen auf und hielt eine Rede, in der er zugleich Reformen wie aber auch ein hartes Durchgreifen gegen Demonstranten ankündigte. Man kann das so interpretieren, daß er im Augenblick in diesem Bruderkampf in Führung gegangen ist.
Ob er damit durchkommt, oder ob ihm gerade sein Reformwille das Genick bricht (er war sogar so weit gegangen, eine von ihm kontrollierte Organisation Berichte über Verletzungen der Menschenrechte in Libyen publizieren zu lassen), ist im Augenblick völlig offen.
Von den bisher in dieser Artikelfolge behandelten Staaten - Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten, Jordanien und Bahrain - hat Libyen das mit Abstand repressivste System.
Der Vergleich macht deutlich, daß man nicht nur zwischen den konstitutionellen Monarchien mit weitgehenden politischen Freiheiten (Marokko, Jordanien, in Grenzen Bahrain) auf der einen Seite und den sozialistisch geprägten, bisher diktatorisch regierten Ländern (Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten; dazu das später zu besprechende Syrien) auf der anderen Seite unterscheiden muß.
Auch in dieser zweiten Gruppe gibt es große Unterschiede. Das Ägypten Mubaraks war vergleichsweise frei; mit (wenn auch unfairen) Wahlen und mit zugelassenen Oppostionsparteien. Härter war die Repression im Tunesien von Ben Ali; noch erheblich brutaler ist sie in Algerien. Mit Abstand am weitesten fortgeschritten bei der Verwirklichung des Sozialismus aber ist die Sozialistische Libysche Arabische Volks-Jamahiriya. (Wird fortgesetzt).
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