17. Februar 2011

Angela Merkel. Die Preußin im Kanzleramt. Über ein Mißverständnis

Wie Cora Stephan, deren Buch "Angela Merkel. Ein Irrtum" heute erscheint - ich erwarte ein interessantes, nein ein ausgezeichnetes Buch; alles, was Cora Stephan schreibt, ist klug und ist zudem glänzend formuliert - wie Cora Stephan also bin ich von Angela Merkel enttäuscht.

Ich bin enttäuscht, weil ich, wie Cora Stephan, eine Hoffnung gehabt hatte; die Hoffnung auf eine christlich-liberale Wende nach dem Wahlsieg 2009.

Die Kanzlerin der Großen Koalition, so dachte ich, hatte Kompromisse schließen müssen; die SPD war ja nicht der Juniorpartner gewesen, sondern annähernd gleich stark wie die Union. Zusammen mit der FDP aber würde sich Angela Merkel wieder als die Liberale zeigen können, die sie im Wahlkampf 2005 gewesen war; die Kanzlerkandidatin, die damals den Mut gehabt hatte, den radikalen Steuerreformer Paul Kirchhof als Schatten-Finanzminister in ihr Team aufzunehmen.

Gerhard Schröders SPD und die Grünen hatten 1998 nach ihrem Wahlsieg ein "Rotgrünes Projekt" verkündet; in der Langfassung: "Ökologischer Umbau der Industriegesellschaft". Etwas Analoges habe ich nach dem Wahlsieg von Union und FDP am 27. September 2009 erwartet. Ein Ruck würde durch Deutschland gehen; wie ihn der Bundespräsident Herzog in seiner "Berliner Rede" 1997 gefordert hatte.

Ich war naiv gewesen. Ich hatte Jahrzehnte zuvor diese Aufbruchstimmung Anfang der siebziger Jahre miterlebt und mich von ihr begeistern lassen. Das war, als Willy Brandt sein "Mehr Demokratie wagen" im Bundestag sagte; als die FDP mit dem Slogan "Wir schaffen die alten Zöpfe ab" in den Wahlkampf gezogen war. Von etwas Ähnlichem habe ich 2009 geträumt. Von etwas, wie es Margaret Thatcher 1979 verkörpert hatte, und Ronald Reagan 1981.

Aber es gab keinen Ruck. Vielmehr gab es ein sehr unschönes Ruckeln. Kein gemeinsames christlich-liberales Projekt begann, sondern ein Gerangel zwischen Christdemokraten und Liberalen.

Unter Termindruck war durchverhandelt worden, bis man einen Koalitionsvertrag voller Formelkompromisse gezimmert hatte. Kaum war Angela Merkel am 28. Oktober 2009 zur Kanzlerin gewählt worden, da ging es auch schon los mit den Streitereien, wie sie jeder schlecht verhandelte Vertrag leicht mit sich bringt. Ich habe das damals zuerst mit Verwunderung, dann mit wachsender Sorge kommentiert; siehe zum Beispiel Die schwarzgelben Lemminge; ZR vom 3. 2. 2010.

Statt eines strahlenden Neuanfangs business as usual also. Statt einer Kanzlerin mit der Strahlkraft eines Willy Brandt eine dröge Angela Merkel; uninspiring, wie man im Englischen sagt: Eine Frau, die keine Funken sprühen läßt, sondern die auf kleiner Flamme kocht. Sorgfältig freilich, nach bewährtem Rezept.

Ja, was hatte ich denn erwartet?



Unter den Kanzlern der Bundesrepublik Deutschland gab es - man kann das so grob einteilen - die Visionäre und die Pragmatiker.

Konrad Adenauer war ein Pragmatiker; das Wort kommt vom griechischem prattein, machen. Nichts kennzeichnet diesen größten der deutschen Kanzler mehr, als daß er ein Erfinder praktischer Gerätschaften und Vorrichtungen war; er war Inhaber zahlreicher Patente.

Ein Pragmatiker war auch der - nach meinem Dafürhalten - zweitbedeutendste deutsche Kanzler, Helmut Schmidt. Von ihm stammt bekanntlich das Wort, daß jemand, der Visionen hat, zum Psychiater gehen soll. Helmut Schmidt wollte niemanden begeistern, aber alle zur Vernunft bringen. Er hat mit kühler Rationalität, mit Standfestigkeit und mit einer an Kant geschulten Ethik dem Terrorismus widerstanden; er hat Deutschland durch Energiekrisen geführt.

Ein grundsolider Pragmatiker war auch Helmut Kohl. Kein Intellektueller, kein Mann der geschliffenen Rede. Aber ein Kanzler, der zur richtigen Zeit das Richtige tat; der mit seiner Zuverlässigkeit und seiner Berechenbarkeit höchstes Ansehen in der Welt genoß. Unter ihm lebte es sich gut in der alten Bundesrepublik; als sich die Möglichkeit der neuen, der wiedervereinigten Bundesrepublik abzeichnete (als der "Mantel der Geschichte" wehte), hat Kohl sich mutig und mit kühlem Kopf der Herausforderung gestellt.

Wie sieht es auf der anderen Seite aus?

Auf den Pragmatiker Adenauer folgte der Visionär Ludwig Erhard. Auch er ein mutiger Mann, ein überzeugter Liberaler. Der Erfolg seiner Wirtschaftspolitik, als er Minister unter Adenauer gewesen war, hatte wesentlich auf dem beruht, was man damals "Seelenmassage" nannte. Der Dicke mit der Zigarre hatte verstanden, wie wichtig die Psychologie für die Wirtschaft ist. Er versprach, daß alles gut werden würde; also wurde alles gut.

Als Kanzler war dieser Visionär einer "formierten Gesellschaft" (er meinte eine liberale Gesellschaft, aber das Wort wurde ihm um die Ohren gehauen) ein Fiasko. Mit fast allem, was er tat, bestätigte er Adenauers schlichte Diagnose: "Der Herr Erhard ist kein Politiker".

Als Kanzler hielt der vormals so erfolgreiche Minister noch nicht einmal eine Legislaturperiode durch. Am Ende war es ein zermürbender Prozeß, in dem man ihn schließlich dazu brachte, nun bitte zurückzutreten. Alle waren erleichtert, als er endlich weg war.

Mit einem Rücktritt endete auch die Amtszeit des zweiten Visionärs im Kanzleramt, Willy Brandt. Er hatte das Lebensgefühl einer Epoche verkörpert. Seine Regierungszeit war ein Desaster gewesen; wie diejenige Ludwig Erhards.

Willy Brandt, dieser bedeutende Intellektuelle, dieser durch und durch redliche Mann, eignete sich so wenig zum Kanzler wie Ludwig Erhard. "Der Herr badet gern lau" hat der erbarmungslose Ex-Kommunist (vielleicht auch nicht Ex) Herbert Wehner über ihn gesagt; und zwar ausgerechnet in Moskau.

Brandt hatte das Glück, wegen Guillaume zurücktreten zu können, bevor seine Kanzlerschaft zerfiel. Sehen Sie sich einmal dieses Titelbild des "Spiegel" von Ende 1973 an.

Der dritte Visionär unter den deutsche Kanzlern war keiner: Gerhard Schröder. Dieser ausgekochte Machtpolitiker mußte so tun, als sei er ein Visionär; denn er präsidierte ja dem "Rotgrünen Projekt". Unter seiner Kanzlerschaft - das heißt unter der Herrschaft von Ideologen wie anfangs Lafontaine, dann Riester, Trittin, Künast - ging es mit der Bundesrepublik bergab wie noch nie in ihrer Geschichte. Als Schröder 2005 scheiterte, hätte er eigentlich zurücktreten müssen wie Ludwig Erhard und Willy Brandt. Der Hazardeur wagte stattdessen den Husarenritt hinein in Neuwahlen. Fast hätte er alle niedergeritten.



Große Männer sind ein Unglück für ihr Volk, hat einmal Sebastian Haffner eine chinesische Redensart zitiert.

Es gibt allerdings Situationen, in denen eine Nation Große Männer braucht, oder auch eine Große Frau. Margaret Thatcher hat das vom Sozialismus fast zugrunde gerichtete Vereinigte Königreich wieder auf die Beine gebracht; Ronald Reagan ein Land, das nach dem Vietnam-Krieg und Jimmy Carter ebenfalls am Boden lag.

Die größte derartige Leistung vollbrachte Charles de Gaulle, als er das von Sozialisten auf den Rang eines Kranken Manns Europas beförderte Frankreich ab 1958 nicht nur gesunden ließ, sondern ihm Impulse gab, die es bis heute beflügeln.

Es kommt eben auf die Situation an. Braucht Deutschland heute einen Charles de Gaulle, eine Margaret Thatcher, einen Ronald Reagan?

Das kann durchaus sein; siehe Die dritte Phase in der Geschichte der Bundesrepublik geht in diesen Tagen zu Ende. Eine These; ZR vom 14. 9. 2010.

Aber Angela Merkel kann das nicht. Sie hat es nie gekonnt; sie hat nie verheimlicht, daß sie das nicht kann und nicht will. Angela Merkel ist eine nüchterne Preußin. Sie ist eine Frau ohne Visíonen, ohne Flausen im Kopf, ohne die Hazardeur-Mentalität Gerhard Schröders.

Ja gewiß, sie findet viele Entscheidungen "alternativlos". Rationale Entscheidungen sind sehr oft alternativlos. Wenn man alle relevanten Faktoren kennt, dann kann man gewissermaßen ausrechnen, was die richtige Entscheidung ist. Was Profis von Amateuren vor allem unterscheidet, das ist, daß man ihr Verhalten vorhersagen kann. Sie tun das in der Situation Optimale und haben insofern keine Alternativen.



Ich habe den liberalen Wahlkampf von Angela Merkel 2005 erwähnt. Als ich jetzt nachgesehen habe, zeigte sich, daß ich ihn falsch in Erinnerung gehabt hatte. Angela Merkel war damals nicht anders als heute; nur war sie eben Oppositionspolitikerin und nicht Kanzlerin. Hier ist ein (leider in der Internet-Version nicht namentlich gezeichneter) Artikel aus der FAZ vom 14. 9. 2005. Lesen Sie:
Angela Merkel kam von außen in die politische Wirklichkeit der Bundesrepublik. Die Reformaufgabe, die sie jetzt als ihr Credo propagiert, ist ihr schon lange gegenwärtig gewesen; sie wuchs damit auf. (...) Denn die Kanzlerkandidatin will Deutschland nicht allein regieren. Sie will, daß vorher mindestens eine Mehrheit der Deutschen ihre An- und Einsichten teilt.
Das Gegenteil also einer Visionärin. Weiter damals die FAZ:
Hinter dem Versprechen, einen "ehrlichen Wahlkampf" zu machen - was auf die "Lügen" des rot-grünen Lagers zielt -, steckt auch eine Erwartung an die Wähler. Und im Zweifel kam es der Kanzlerkandidatin bei der Ehrlichkeit mehr auf diese Erwartung an. Sie lautet: Wenn wir jetzt alles vorher vor euch ausbreiten, die Lage und unsere Absichten, und wenn ihr dann uns die Stimme gebt, dann tragt ihr auch einen Teil unserer Verantwortung für den Erfolg der Sache.
Die nüchterne Preußin. Die Naturwissenschaftlerin, die kühl analysiert und die alle Anderen einlädt, sich von der Richtigkeit ihre Analysen zu überzeugen. Die FAZ damals:
Und die Vertrauensbereitschaft des Wahlvolks ist ohnedies die zweite, noch wichtigere Bedingung für den Erfolg Merkelscher Überzeugungsarbeit. In den vergangenen Jahren sei "soviel Vertrauen verschwendet worden", lautet einer der bittersten Vorwürfe der Kanzlerkandidatin an die rot-grüne Konkurrenz. Mittlerweile aber ahnt sie womöglich, daß die Rückgewinnung dieses Vertrauens für bestimmte politische Richtungen und Reformprogramme noch viel schwieriger ist als für Personen.


Angela Merkel war damals so, wie sie heute ist: Unemotional, nüchtern, ohne jeden Anspruch, die Welt besser zu machen.

Nur habe ich diese Hoffnung auf sie projiziert, daß sie wie Margaret Thatcher, wie Ronald Reagan, wie Charles de Gaulle sein würde. Vielleicht hat auch Cora Stephan diese Hoffnung auf sie projiziert. Sie schreibt im Untertitel ihres Buchs "Ein Irrtum". Ich würde eher sagen, ein Mißverständnis.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelbild: Bundeskanzlerin Merkel am 20. 4. 2008 in Aachen vor der Entgegennahme des Karlspreises. Vom Autor Aleph unter Creative Commons-Lizenz Namensnennung-Weitergabe freigegeben.