15. Februar 2011

Anmerkungen zur Sprache (10): "Ich wußte, daß ich heute Tor mache". Mesut Özil, Kiezdeutsch, Standarddeutsch. Wann ist etwas sprachlich falsch?

"Wenn Jugendliche systematisch neue Ausdrücke und Satz-stellungen benutzen, dann ist das nicht falsch, sondern eine neue Sprechweise". So zitierte "Welt-Online" gestern die Potsdamer Sprachwissenschaftlerin Heike Wiese. Ich möchte das kommentieren, weil es zum einen um einen Aspekt des Problems der Einwanderung geht; denn die "neuen Ausdrücke und Satzstellungen" kommen überwiegend aus dem Türkischen und dem Arabischen. Zum anderen ist das Zitat aber auch interessant im Hinblick auf die Sprachwissenschaft und ihren Forschungsgegenstand.

Die Linguistin Heike Wiese macht in ihrer Forschung etwas, das wir aus "My Fair Lady" kennen (und manche vielleicht aus dessen Vorbild, George Bernard Shaws sehr witzigem Theaterstück "Pygmalion"): Sie untersucht Slang. Wie der Professor Higgins, der dazu freilich noch ein gewaltiges Gerät zur Aufzeichnung von Sprache brauchte, sammelt sie Sprechproben aus einem bestimmten sozialen Milieu - dem, wie sie es nennt, "Kiez" - und analysiert sie linguistisch.

Das ist, richtig gemacht, solide wissenschaftliche Arbeit. Es ist Arbeit in einer empirischen Wissenschaft; und natürlich gibt es für eine empirische Wissenschaft kein Richtig und kein Falsch. Der Dialekt der Schwaben ist kein falsches Deutsch, sondern für den Sprachwissenschaftler eben Dialektdeutsch; so, wie der Ethnologe, der sich mit einer Kultur befaßt, nicht fragt, ob deren Religion richtig oder falsch ist. Er will, wie jeder empirische Wissenschaftler, wissen, was der Fall ist. Die Bewertung liegt außerhalb seiner Kompetenz.

Nun gibt es aber nicht nur empirische, sondern auch normative Disziplinen. Der Religionswissenschaftler fragt nicht danach, ob die Religion, die er untersucht, richtig oder falsch ist. Der Theologe, jedenfalls der Dogmatiker, befaßt sich aber sehr wohl damit, ob bestimmte Glaubensinhalte mit der kirchlichen Lehre übereinstimmen.

Der Mathematik-Didaktiker mag sich in einer empirischen Untersuchung dafür interessieren, welche Fehler Schülern typischerweise beim Rechnen unterlaufen. Für die Mathematik als eine normative Disziplin sind es aber eben Fehler. Sie fragt nicht, warum und wie jemand einen Fehler macht, sondern ob etwas fehlerhaft ist oder richtig.



Sprachen sind empirische Gegebenheiten. Sie wandeln sich ständig. Aber Sprachen sind auch Regelwerke. Bei verschriftlichten Sprachen sind diese Regeln meist enger und vor allem expliziter als bei Sprachen, die nur gesprochen existieren. Aus der Syntax wird dann eine Grammatik; lexikalisch wird der Gebrauch von Wörtern danach beurteilt, ob er richtig oder falsch ist. Es gibt guten und schlechten Stil.

In jeder Hochkultur dient die Sprache nicht nur der Kommunikation zwischen Menschen, sondern auch der Dokumentation von Gedanken. In dem Maß, in dem in einer Kultur gemeinsam an Gedanken gearbeitet wird - etwa in der Philosophie, in den Wissenschaften, aber auch in der Literatur -, braucht man die Sprache als eine allen eigene und für alle verbindliche Grundlage.

Deshalb legen Hochkulturen einen so großen Wert auf Sprache. Die, wie man es nannte, humanistische Erziehung war bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein ganz wesentlich eine Schulung in Latein und Griechisch; das sollte nicht nur mit den Grundlagen unserer Kultur in der Antike vertraut machen, sondern auch für den Gebrauch des Deutschen schulen. In China wurde über Jahrtausende die Bildung eines Menschen danach beurteilt, wie gut er die Schriftzeichen beherrschte.

Die Erziehung zu richtigem Deutsch war immer eine zentrale Aufgabe des deutschen Schulwesens; so, wie es die Erziehung zum richtigen Gebrauch der Sprache in jeder Kulturnation war und ist. Wer kein Hochdeutsch kann, der galt und gilt auch heute noch als ungebildet. Wer fehlerhaft spricht und schreibt, der kommt für keine mittlere oder höhere berufliche Position in Frage.



Die Linguistin Heike Wiese hat aus der Perspektive ihres Fachs recht: Wenn auf dem "Kiez" ein Slang - ein "Soziolekt", um genau zu sein; Wiese spricht auch von einem "Multiethnolekt" - gesprochen wird, der mit Elementen des Türkischen und Arabischen durchsetzt ist, dann ist das sprachwissenschaftlich interessant; nicht richtig oder falsch.

Aber für den Lehrer, der diese Kinder und Jugendlichen im Fach Deutsch unterrichtet, gibt es ein Richtig oder Falsch und muß es das geben. Die Kategorien der empirischen Sprachforschung auf den Deutschunterricht zu übertragen und Formulierungen wie "Ich geh' Görlitzer Park" oder "Gib mal Handy" nicht mehr als falsch anzustreichen - das wäre das Ende des Deutschunterrichts.

Dem widerspricht übrigens auch die Professorin Wiese nicht. Sie erhalte böse Emails von "Schützern der deutschen Sprache", wird sie von "Welt-Online" zitiert. Dafür gibt es keinen Anlaß; und davon kann man sich auf Wieses Internetauftritt kiezdeutsch überzeugen.

Zwar ist schon der Titel dieser Seiten orthographisch falsch (im Deutschen werden Substantive noch immer groß geschrieben); aber was Wiese vorschlägt, ist durchaus vernünftig: Sie regt an, das Kiezdeutsch selbst zum Unterrichtsgegenstand zu machen und dadurch das Verständnis für das Hochdeutsche ("Standarddeutsch" nennt es die Linguistin) zu verbessern:
Der Vergleich mit dem Standarddeutschen, die Diskussion von Paralellen [sic] und Unterschieden, ermöglicht einen lebensnahen Einstieg in grammatische Themen des Deutschunterrichts und kann dabei helfen, Kenntnisse des Standarddeutschen zu verbessern, das für die spätere berufliche Laufbahn und die gesellschaftliche Teilhabe der Jugendlichen ja wesentlich ist. In diesem Zusammenhang bietet sich eine Diskussion zu normativem im Unterschied zu informellem gesprochenen Deutsch an sowie zu Variationen des Deutschen, die sich aus Sprachwandelprozessen ergeben.
Ein guter Ansatz, scheint mir. Nur steht davon in dem Artikel von "Welt-Online" kein Wort. Dort erfährt der Leser nur, Kiezdeutsch sei kein falsches Deutsch. Das ist es aber; nicht für die empirische Sprachforschung, aber sehr wohl im Deutschunterricht.



Der Satz im Titel "Ich wußte, daß ich heute Tor mache" kommt in dem Artikel in "Welt-Online" nicht vor. Der deutsche Fußball-Nationalspieler Mesut Özil, dessen Großeltern nach Deutschland einwanderten, hat ihn gesagt; und ich habe ihn in einem Artikel zur Fußball-Weltmeisterschaft zitiert (Özils Scheitern, Özils Treffer; ZR vom 24. 6. 2010). Özil sagte das nicht auf seinem Kiez, sondern in einem Interview. Ich zitiere in dem Artikel aus einem anderen Gespräch mit ihm, in dem Özil ebenfalls kein richtiges Deutsch spricht. Er kann es augenscheinlich nicht besser.

Offenbar hatte Mesut Özil keinen guten Deutschunterricht. Vielleicht hatte er Deutschlehrer, die mit der Professorin Wiese nur darin übereinstimmen, daß es - sprachwissenschaftlich betrachtet - kein richtiges und falsches Sprechen gibt; die aber, anders als die Professorin, nicht verstanden haben, daß es dennoch - bezogen auf unsere gemeinsame deutsche Kultur - nur eine einzige richtige Sprache gibt: das Hoch- oder Standarddeutsche.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Johann Gottfried Herder. Gemälde von Johann Ludwig Strecker (1775). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist. Links zu allen Folgen dieser Serie findet man hier.