6. Februar 2011

Aufruhr in Arabien (8): Bricht jetzt der arabische Sozialismus so zusammen wie nach 1989 der osteuropäische? Über die Weitsicht von George W. Bush

Sie werden den Titel dieser Folge der Serie vielleicht provokativ finden, ja abwegig. Geht es denn bei dem Aufruhr in Arabien überhaupt um Sozialismus? Ist dies nicht vielmehr ein Aufstand gegen verkrustete, überwiegend prowestliche Diktaturen? War Zine el-Abidine Ben Ali, der - angeblich unter Mitnahme von Reichtümern - floh, denn ein Sozialist? Ist es der einstige Berufssoldat Hosni Mubarak, Held des Jom-Kippur-Kriegs gegen Israel?

Sie sind so viel und so wenig Sozialisten, wie der General Wojciech Jaruzelski ein Sozialist war, der Polen bis zur Revolution gegen das kommunistische Regime 1989/1990 regierte; wie es Nicolae Ceauşescu war. Der eine ein autokratischer Herrscher, der andere ein diktatorischer. Sie herrschten über Länder, deren beiden konstitutiven Merkmale die Einparteienherrschaft und die staatliche Kontrolle über die Wirtschaft waren; mit der Folge allgemeiner Armut und Unfreiheit.

Es gab dort die Wechselwirkungen, die konstitutiv sind für den Sozialismus:

Staatliche Planwirtschaft bedeutet Ineffizienz und damit Armut. In keiner Spielart des Sozialismus hat die Mehrheit der Bevölkerung einen auch nur bescheidenen Wohlstand erreicht.

Armut erzeugt Unmut im Volk; also muß das Regime repressiv sein. Die Repression wiederum verhindert jede Eigeninitiative und perpetuiert damit die Armut. Planwirtschaft und Repression verlangen einen großen, unproduktiven Staatsapparat. Dessen Unproduktivität trägt wiederum zur Armut bei und damit zur Unzufriedenheit in der Bevölkerung; also muß der Repressionsapparat beibehalten, wenn nicht weiter ausgebaut werden. Und so fort; ein in sich geschlossenes und bis zu einem gewissen Punkt auch stabiles System aus Unterdrückung und Armut.

So ist es heute in Ländern wie Tunesien und Ägypten, in denen es jetzt zu Aufständen kam; so ist es in Algerien, dem Jemen und Syrien, die jederzeit folgen können. Ihre politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen Systeme verbinden Armut mit Repression, und die Wechselwirkungen sind dieselben wie bis 1990 in Osteuropa. Die Misere Arabiens ist nur eine Spielart der allgemeinen Misere des Sozialismus (siehe die Serie "Arabiens Misere").

Sie werden vielleicht einwenden, das sei eine Ähnlichkeit nur an der Oberfläche. Sozialistisch könne man diese arabischen Länder doch nur dann nennen, wenn die jetzigen Systeme explizit als sozialistische Systeme entstanden wären.

Ja, so ist es. So sind sie entstanden, in jedem einzelnen dieser Länder. Ich will das jetzt am Beispiel Tunesien zeigen. Für Ägypten, Algerien, Syrien, den Jemen läßt sich dasselbe nachweisen.



Tunesien ist - vielleicht wird sich das jetzt, nach der Revolution, ändern - das Land einer sozialistisch-nationalistischen Einheitspartei.

Gegründet wurde sie schon 1920 - also, als Tunesien ein französisches Protektorat war -, als Destour. Damals allerdings war sie noch eine bürgerlich-liberale Partei, deren Ziel ein selbständiges Tunesien mit einer parlamentarischen Demokratie war.

1934 spaltete sich eine Gruppe unter Habib Bourguiba ab, die Néo-Destour, die bald an die Stelle der alten Destour trat. Sie blieb eine nationalistische, bürgerlich-liberale Partei bis über die Unabhängigkeit im Jahr 1957 hinaus.

Dann aber geriet auch die Destour in den Sog des Sozialismus, der die ganze arabische Welt seit den späten fünfziger Jahren erfaßt hatte. Ab 1961 wuchs der Einfluß des Sozialisten Ahmed Ben Salah in der Partei. Bis 1964 war sie eine Partei nach dem Vorbild kommunistischer Parteien geworden.

Bourguiba schloß sich der neuen Mehrheit in seiner Partei an. Grund und Boden wurden verstaatlicht; gegen den Widerstand der Bauern wurde ein System aus Kolchosen eingerichtet. Der bis dahin freie Handel wurde durch eine staatliche Handelsorganisation ersetzt. Ausländische Unternehmen wurden verstaatlicht.

Im Oktober 1964 fand in Bizerta ein Parteikongreß statt, auf dem die Partei in Sozialistische Destour-Partei umbenannt wird. Die Parteiorganisation wurde nach dem Vorbild kommunistischer Parteien umgestaltet; mit einem Zentralkomitee und einem Politbüro an der Spitze.

Die Wirtschaft wurde in drei Sektoren gegliedert: Den staatlichen, den genossenschaftlichen und einen kleinen verbleibenden privaten. 1965 wurde auch die schon bestehende, aber noch unabhängige Einheitsgewerkschaft nach kommunistischem Vorbild gleichgeschaltet. Von da an war Tunesien ein sozialistisches Land, das sich in kaum einem Merkmal von den sozialistischen Ländern Osteuropas unterschied. Bourguiba verfolgte allerdings außenpolitisch einen von der UdSSR unabhängigen Kurs.

Mit der Einführung des Sozialismus begann der Niedergang Tunesiens. Er beschleunigte sich für den Rest der Amtszeit Bourguibas, auch wenn - teils nach Aufständen - gewisse Züge des Sozialismus wieder gelockert wurden. Aber auch Ende der siebziger Jahre standen noch 80 Prozent der Wirtschaft unter staatlicher Kontrolle.

Als 1987 Bourguiba wegen medizinisch festgestellter Amtsunfähigkeit seines Amtes enthoben wurde und der in Frankreich und den USA ausgebildete Zine el-Abidine Ben Ali an seine Stelle tritt, hatte Tunesien den Zustand der Unterentwicklung erreicht, wie er für jedes sozialistische Land charakteristisch ist.

Ben Ali wurde anfangs als eine Hoffnung für Tunesien wahrgenommen, denn er versuchte zunächst gewisse Liberalisierungen. Als einen der ersten Schritte schaffte er das "sozialistisch" im Parteinamen ab; die Einheitspartei hieß ab 1988 auf französisch Rassemblement constitutionnel démocratique; also ungefähr: Sammlungsbewegung für Verfassung und Demokratie (RCD).

Auch nach dieser erneuten Umbenennung ist die Partei aber bis heute nach kommunistischem Vorbild organisiert; mit einem Zentralkomitee und einem Politbüro. Nach kommunistischem Vorbild durchdringt die Partei die gesamte Gesellschaft. Es gibt in Tunesien beispielsweise nach wie vor einen offiziellen Jugendverband, der FDJ vergleichbar (JCD, rund eine halbe Million Mitglieder). Bis zur Januar-Revolution regierte die RCD als Staatspartei, wie jede kommunistische Partei.

Wirtschaftlich hingegen blieben die von Ben Ali anfangs vorangetriebenen Liberalisierungen bestehen und wurden teilweise sogar ausgebaut. Der private Sektor durfte erweitert werden; vor allem in den Bereichen Tourismus, Agrarindustrie und Fischerei sowie in der Elektrotechnik. Heute hat Tunesien eine halbstaatliche Wirtschaft mit Wachstumsraten in der Größenordnung von 5 Prozent.

Im letzten Jahrzehnt war in Tunesien damit ein Hauch des chinesischen Modells zu verspüren: Wirtschaftliche Liberalisierung bei gleichzeitigem Fortbestehen einer staatlichen Repression. Die Wirtschaft genießt heute für ein sozialistisches Land ungewöhnlich viel Freiheit; noch immer freilich wenig im Vergleich zu kapitalistischen Ländern. Die Zahl der Unternehmens-Neugründungen beträgt in Tunesien beispielsweise noch immer erst ein Zehntel der Zahl in dem vergleichbaren kapitalistischen Land Portugal.

Die Januar-Revolution kann auch als Ausdruck der Spannungen verstanden werden, die ein solches sich wirtschaftlich liberalisierendes sozialistisches System erzeugt. Gewährt man den Menschen mehr wirtschaftliche Freiheit, dann bringt man das eingangs skizzierte sozialistische System aus Repression und Armut leicht aus dem Gleichgewicht. Irgendwann wird es instabil; wurde es das jedenfalls jetzt in Tunesien.



Die Zukunft Tunesiens wird demnach davon abhängen, ob die nun eingeleiteten Reformen zu einer Abkehr vom Sozialismus führen werden. Gelingt das, dann kann das Land - vor allem auch mit Hilfe der EU, mit der es ein Assoziierungssabkommen hat - den Weg der Länder Osteuropas gehen und sich aus der sozialistischen Rückständigkeit befreien. Gelingt das nicht, dann dürfte die Gefahr einer zweiten, diesmal islamistischen Revolution wachsen.

Es geht in Tunesien, es geht in Äypten und den anderen Ländern des Arabischen Sozialismus, somit nicht um Demokratisierung allein. Es geht zentral um die Überwindung des Sozialismus und den Aufbau einer kapitalistischen Wirtschaft; nur sie kann die Grundlage für eine stabile Demokratie sein.

Daß Präsident Obama, der auch in der jetzigen Krise wieder eine denkbar unglückliche Rolle spielt, das verstanden hat, ist nicht zu erkennen. George W. Bush aber hatte es verstanden. Am 18. Mai 2008 hielt er auf dem Weltwirtschafts-Forum im ägyptischen Scharm El-Scheich eine Rede über die Zukunft des Nahen Ostens, auf die ich kürzlich in einem kleinen Quiz aufmerksam gemacht habe.

Ich möchte nun einige Passagen aus dieser Rede zitieren; sie liest sich wie ein Drehbuch für den Umbruch in Arabien, der sich jetzt abzeichnet.

Bush erwähnte den Fall von Diktaturen weltweit in den vergangenen Jahrzehnten und wandte sich dann an die anwesenden Staatsmänner aus Arabien:
I strongly believe that if leaders like those of you in this room act with vision and resolve, the first half of 21st century can be the time when similar advances reach the Middle East. This region is home to energetic people, a powerful spirit of enterprise, and tremendous resources. It is capable of a very bright future -- a future in which the Middle East is a place of innovation and discovery, driven by free men and women. (...)

America appreciates the challenges facing the Middle East. Yet the light of liberty is beginning to shine. There is much to do to build on this momentum. From diversifying your economies, to investing in your people, to extending the reach of freedom, nations across the region have an opportunity to move forward with bold and confident reforms -- and lead the Middle East to its rightful place as a center of progress and achievement.

Ich bin der festen Überzeugung, daß dann, wenn führende Staatsmänner wie die in diesem Raum versammelten mit Visionen und Entschlossenheit handeln, die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts eine Epoche werden kann, in der im Nahen Osten ähnliche Fortschritte gemacht werden. Diese Region beherbergt Menschen voller Energie und mit einem starken Unternehmungsgeist sowie gewaltige Ressourcen. Ihr steht eine leuchtende Zukunft offen - eine Zukunft, in welcher der Nahe Osten ein Ort der Innovation und der Entdeckungen ist, gestaltet von freien Männern und Frauen. (...)

Amerika weiß um die Herausforderungen, denen sich der Nahe Osten gegenübersieht. Und doch beginnt das Licht der Freiheit zu leuchten. Es ist viel zu tun, um auf diesem Schwung aufzubauen. Von der Diversifizierung ihrer Volkswirtschaften bis zu Investitionen in Ihre Menschen und zur Ausdehnung der Freiheiten haben die Nationen dieser Region die Chance, mit mutigen und zuversichtlichen Reformen vorwärts zu schreiten - und dem Nahen Osten den ihm zustehenden Platz als ein Zentrum des Fortschritts und des Erfolgs zu geben.
Später in der Rede wird Bush konkret und weist auf die Notwendigkeit bestimmter Schritte zur wirtschaftlichen Liberalisierung hin. Die Nationen des Nahen Osten müßten ihre Volkswirtschaften dynamischer machen und sie diversifizieren:
Your greatest asset in this quest is the entrepreneurial spirit of your people. The best way to take advantage of that spirit is to make reforms that unleash individual creativity and innovation. Your economies will be more vibrant when citizens who dream of starting their own companies can do so quickly, without high regulatory and registration costs.

Your economies will be more dynamic when property rights are protected and risk-taking is encouraged -- not punished -- by law. Your economies will be more resilient when you adopt modern agricultural techniques that make farmers more productive and the food supply more secure. And your economies will have greater long-term prosperity when taxes are low and all your citizens know that their innovation and hard work will be rewarded.

Ihr größter Aktivposten bei diesem Bestreben ist der Unternehmungsgeist Ihrer Menschen. Am besten kann man diesen Geist nutzen, wenn man Reformen vornimmt, welche die Kreativität und den Erfindungsreichtum des Einzelnen freisetzen. Ihre Volkswirtschaften werden stärker pulsieren, wenn Bürger, die von der Gründung eines eigenen Unternehmens träumen, das schnell und ohne hohe Kosten für Regulierung und Registrierung umsetzen können.

Ihre Volkswirtschaften werden dynamischer werden, wenn die Eigentumsrechte geschützt sind und wenn durch die Gesetze die Risikobereitschaft gefördert wird - nicht bestraft. Ihre Volkswirtschaften werden belastbarer sein, wenn sie moderne Agrartechnik übernehmen, welche die Landwirtschaft produktiver und die Versorgung mit Nahrung sicherer machen. Und Ihre Volkswirtschaften werden auf lange Sicht mehr prosperieren, wenn die Steuern niedrig sind und alle Ihre Bürger wissen, daß sich Innovationen und ihre harte Arbeit lohnen.
Das war Bushs neoliberales Konzept zur Überwindung des Arabischen Sozialismus. Es war damals, vor fast drei Jahren, richtig. Es ist jetzt erst recht richtig, wo der Aufruhr in Ländern des Arabischen Sozialismus zeigt, daß es dort so wie bisher nicht weitergehen kann.

Wenn Sie wissen wollen, was der richtige Weg für Arabien ist; wenn Sie sich auch das Vergnügen gönnen wollen, die Rede eines klar denkenden US-Präsidenten zu lesen, als Kontrastprogramm zu Obamas Wischiwaschi - dann nehmen Sie sich, sofern Sie Englisch lesen können, die Zeit und lesen Sie diese Rede.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Großmoschee von Kairouan, Tunesien. Vom Autor Wotan unter Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0-Lizenz freigegeben. Bearbeitet. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier.