5. Februar 2011

Aufruhr in Arabien (7): Wie ist eigentlich die Lage in Tunesien? Erstaunlich!

Krisengebiete geraten oft nur kurz in den Fokus des Interesses. Geht es woanders los, dann schwenkt der Scheinwerfer dorthin. So war es jetzt mit Tunesien.

Die Aufmerksamkeit richtete sich auf Tunesien, als Präsident Ben Ali am 14. Januar das Land verließ und damit klar war, daß die Unruhen einen Machtwechsel bedeuteten; welcher Art auch immer (siehe Einige Anmerkungen zur tunesischen Revolution; zu revolutionären Situationen überhaupt; ZR vom 19. 1. 2011). Aus dem Fokus des Interesses verschwand das Land, als die revolutionären Wirren in Ägypten begannen. Wie ist es seither in Tunesien weitergegangen?

Zuletzt habe ich in dieser Serie 30. Januar über Tunesien berichtet; und zwar gestützt auf die ausführlichen täglichen Augenzeugenberichte von Alma Allende, einer Hispano-Tunesierin. Sie schilderte, wie Demonstranten, die nicht nur aus Tunis kamen, sondern auch aus dem Umland, einen Teil des Zentrums von Tunis besetzt hatten und dort die Keimzelle eines revolutionären Tunesien schaffen wollten. Ihr - sie ist eine Linksaktivistin - zunächst enthusiastischer Bericht endete mit einer tiefen Enttäuschung: Am 28. Januar räumte die Polizei den Platz der Kasbah und machte den revolutionären Träumen ein vorläufiges Ende.

Wie ist es seither weitergegangen? Am vergangenen Dienstag schrieb Alma Allende:
Hemos vuelto esta mañana a la Qasba, cerrada por sus cuatro costados por alambradas de espino. Los policías sólo dejan entrar a los funcionarios que trabajan en el recinto. Pero hemos podido ver desde fuera, y fotografíar, esa cal nueva que, como un lifting facial, revela una historia oculta, una antigüedad sofocada.

Han hecho un buen trabajo, no cabe duda. Ni un rastro de pintada ni la coma de un grafito ni un jironcito de tinta negra. Ni siquiera sobre la piedra del palacio del primer ministro se puede localizar el menor rastro del bullicio palabrero que durante cinco días fundió política y vida en un presente puro sin porvenir.

Wir sind heute Morgen zur Kasbah zurückgekehrt, die auf allen vier Seiten mit Stacheldraht abgesperrt ist. Die Polizei läßt nur die Regierungsangestellen durch, die in dem Komplex arbeiten. Aber wir haben von außen diesen neuen Kalkanstrich sehen und fotografieren können, der wie ein Facelifting eine verdeckte Geschichte, eine erstickte Vergangenheit enthüllt.

Sie haben gute Arbeit geleistet, keine Frage. Keine Spur von Malerei, kein Strich eines Grafitos mehr, kein Fitzelchen schwarzer Farbe. Noch nicht einmal auf dem Gemäuer des Palasts des Premierministers kann man die geringste Spur von dem Sprachgetöse finden, das fünf Tage lang Politik und Leben in einer reinen Gegenwart ohne Zukunft verschmelzen ließ.
Poetisch formuliert, und nicht ohne Symbolik: Denn es hat im Augenblick den Anschein, daß die tunesische Revolution zu Ende gegangen ist.

Die Regierung hat das gemacht, was in Ägypten Mubarak bisher nur ankündigte: Sie hat beherzt Reformen innerhalb des bestehenden Systems in Angriff genommen.

Vor allem auf der personellen Ebene. Ministerpräsident Mohammed Ghanouchi hat am 27. Januar sein Kabinett gründlich umgebildet. Mit Ausnahme weniger Ressorts (wie Verteidigung) gehören ihm keine Politiker des alten Regimes mehr an, sondern überwiegend Fachleute aus Wissenschaft und Wirtschaft.

Eine Schlüsselposition hat der Ökonom Elyès Jouni, der bisher Professor an der Universität Paris-Dauphine war. Er wird als Staatsminister beim Premierminister die wirtschaftlichen und sozialen Reformen koordinieren. Gesundheitsministerin ist jetzt Habiba Zéhi Ben Romdhane, Medizinprofessorin und Mitgründerin der tunesischen Sektion von Amnesty International. Der Minister für Wirtschaft und Technologie, Afif Chelbi, hat in Frankreich studiert und war zuletzt Vorstandsvorsitzender einer großen Bank.

Nicht nur in die Regierung sind glaubwürdige neue Personen eingezogen. Sämtliche Gouverneure wurden ausgetauscht; eine Säuberung der Polizei ist im Gang. Als ich gestern die Internetausgabe der tunesischen Zeitung La Presse durchgesehen habe, gab es dort eine ganze Spalte mit den Biografien der neuen Gouverneure (inzwischen anscheinend nicht mehr zugänglich).

Wie sehr sich die Lage normalisiert hat und wie schnell man die Spuren der revolutionären Tage zu beseitigen trachtet, zeigt ein Blick in La Presse:
  • Man macht sich Sorgen um die Nationalparks, die teilweise durch die Wirren der Revolution in Mitleidenschaft gezogen wurden; sie sollen dringend wieder in Ordnung gebracht werden.

  • Der Winterschlußverkauf hat begonnen und findet wie gewohnt statt; allerdings üben die Verbraucher noch eine gewisse Zurückhaltung. Aufgrund von Hamsterkäufen während der Revolution gibt es noch Engpässe bei der Versorgung.

  • Die Regierung hat Mittel für eine Entschädigung der Opfer der Revolution bereitgestellt.

  • Ein Theater bietet heute um 16 Uhr eine Benefizvorstellung an, deren Erlös den durch die Revolution Geschädigten zugute kommen wird.

  • Ein tunesischer Architekt, der bisher in Europa lebte, schlägt die Errichtung eines Museums für die Revolution vom Januar 2011 vor.
  • Schon ein Museum für diese Revolution! Es scheint, daß sie tatsächlich vorbei ist, und daß sie gelungen ist. Kommende Woche soll der Ausnahmezustand aufgehoben werden.

    Wenn man sich die Biographien derer ansieht, die jetzt in die verantwortlichen Positionen einrücken, dann fällt auf, wie viele von ihnen Verbindungen zu Europa, vor allem zu Frankreich haben. Sie haben mindestens dort studiert. Etliche lebten dort für längere Zeit; oder überhaupt bis zur jetzigen Revolution.

    Das könnte ein entscheidender Faktor werden: Tunesien verfügt, dank der historischen Beziehung zu Frankreich (es war von 1881 bis 1956 französisches Protektorat) über eine europäisch gebildete Elite. Das sind nicht nur gute Voraussetzungen für einen wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Ende der Diktatur, sondern diese Elite könnte auch die personelle Basis für eine parlamentarische Demokratie sein.

    Oder ist sie dafür zu dünn, diese Elite? In der jetzigen Phase dominiert sie. Aber das sagt wenig darüber aus, wie freie Wahlen ausgehen werden. Die Masse der Bevölkerung war nicht an den revolutionären Ereignissen beteiligt. Wie sie politisch denkt, ist schwer zu sagen.

    Rachid Ghanouchi, der Führer der islamistischen Ennahda, ist inzwischen wieder in Tunesien. Ähnlich den Moslem-Brüdern in Ägypten gibt er sich im Augenblick gemäßigt. Wie die Islamisten agieren werden, falls sie in einem demokratischen Tunesien bestimmenden Einfluß gewinnen sollten, ist freilich eine andere Frage. Auch die russische Revolution fand im Februar 1917 zunächst als eine bürgerliche Revolution statt, bevor daraus die Oktoberrevolution wurde.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Großmoschee von Kairouan, Tunesien. Vom Autor Wotan unter Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0-Lizenz freigegeben. Bearbeitet. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier.