19. Januar 2011

Marginalie: Gero von Randow in Tunis. Einige Anmerkungen zur tunesischen Revolution; zu revolutionären Situationen überhaupt

Wer Ende 1989 in der DDR lebte, der hat das miterlebt; die meisten anderen Deutschen nie: Wie eine revolutionäre Situation entsteht und sich entwickelt; welche Stimmung die Menschen erfaßt, wenn das Unerhörte sich entfaltet. Ich habe es nicht wirklich erlebt, aber ein wenig doch, in den vibrierenden Jahren zwischen 1967 und 1969 an einer deutschen Universität.

In diesen Tagen gibt es in Tunesien eine solche Umwälzung. Wenn Sie etwas von dieser Stimmung erfahren wollen, dann lesen Sie, was in der "Zeit" von heute Gero von Randow aus Tunis berichtet. So soll eine Reportage sein: Konkret, detailliert; ohne daß uns der Reporter seine Meinung aufdrängt oder uns mit "Analysen" behelligt, die in einer solchen revolutionären Lage meist ohnehin wenig wert sind.

Denn es ist das Wesen einer solchen Situation, daß sie unbestimmt ist. Wohin ein solcher seiner Natur nach ungesteuerter und nicht steuerbarer Prozeß sich entwickelt, kann niemand prognostizieren. Nie ist die Zukunft offener als während einer Revolution. Strukturen zerbrechen. Es beginnt ein Spiel der Kräfte, von denen man in der Regel nicht weiß, wie stark oder wie schwach sie sind. Was werden wird, weiß niemand.

Das schlägt sich auch auf der subjektiven Seite nieder. Eine allgemeinen Aufgeregtheit erfaßt die Menschen. Die Politik, für die sich viele nicht oder nur wenig interessiert hatten, ist plötzlich das hauptsächliche, nachgerade das einzige Thema, um das ihre Gedanken kreisen; über das man spricht, oft mit wildfremden Menschen.

Diese aufgeregte, etwas fiebrige Stimmung umfaßt verschiedene Komponenten.

Was bisher galt - was die Menschen beengte, ihnen aber auch eine gewisse Sicherheit gab -, gilt nicht mehr. Soziale Rollen geraten aus dem Gleichgewicht. Wer gestern noch Untertan war, redet heute von Gleich zu Gleich mit denen, die geherrscht hatten. Wer eine Autorität anerkannt hatte, der setzt sich jetzt lustvoll über sie hinweg. 1967 haben Studenten das extensiv an ihren Professoren erprobt.

Man darf Tabus verletzen, ja man muß es oft. Man gerät in eine nie erträumte Rolle, in der man sich erst zurechtfinden muß. Andere fallen buchstäblich aus ihrer Rolle. In den Bildern vom Herbst 1989 in der DDR sah man Generäle des MfS, die vor Freundlichkeit fast zitterten; und man sah Pfarrer und andere Intellektuelle, die sich in Positionen des Machtapparats wiederfanden.

Hinzu kommt das intensiv Kollektive einer solchen Zeit. Als Individuum war man vor der Revolution schwach gewesen. Jetzt ist man Teil der revolutionären Bewegung und spürt deren Stärke; ein rauschhaftes, ein für manche Menschen auch beklemmendes Erlebnis. Gustave le Bon, der die Revolution von 1848 als Kind und der die Commune von 1871 als Dreißigjähriger erlebte, hat das in seiner "Psychologie der Massen" geschildert und zu analysieren versucht.

Dann ist da für viele die plötzliche Unsicherheit des eigenen Lebens; die Ungewißheit darüber, was werden wird. Manche fühlen sich bedroht; andere spüren zwar den Boden unter ihren Füßen wanken, sehen aber auch die Tür zu einem neuen Leben sich öffnen. Manche, die am Rand der Gesellschaft gestanden hatten, wittern die Chance, im Handstreich nach ganz oben zu stürmen.

Das alles fordert die Menschen. Sie sind in einem Zustand erhöhter Aktiviertheit, den der menschliche Organismus nicht auf Dauer aufrechterhalten kann. Ihr Organismus tendiert oft ins Instabile, so wie die objektive Situation das tut. Niemand kann ständig aufgeregt sein.

Das ist die Chance zum einen der bisher Herrschenden, zum anderen derer unter den Revolutionären, die kühl kalkulieren; die den Kopf bewahren, die entschlossen und diszipliniert ihre Ziele verfolgen.

Am Ende wird die eine oder die andere Art von Stabilität stehen.

Die Aufgeregtheit legt sich; die Menschen kehren in ihren Alltag zurück, die Revolution ist gescheitert, wenigstens vorerst. Das ist die eine Möglichkeit. So war es beispielsweise in verschiedenen Ländern Europas 1848; so war es im Frühsommer 2009 im Iran.

Oder es siegen diejenigen unter den Revolutionären, die sich als fähig erweisen, die Aufgeregtheit zu nutzen, statt sich an ihr zu beteiligen. Lenin beispielsweise; auf eine ganz andere Art auch der Ayatollah Chomeini. 1989 in der DDR - untypisch für eine Revolution - waren es bedächtige, verantwortungsbewußte Intellektuelle überwiegend aus dem kirchlichen Bereich, die diesen (sonst selten erfolgreichen) Prozeß einer friedlichen und zugleich erfolgreichen Revolution zu steuern verstanden.



In Tunesien erscheint derzeit alles möglich; von einer erneuten Diktatur mit anderem Personal über die Errichtung einer leidlichen Demokratie (sie wäre dann die dritte in einem arabischen Land, nach dem Libanon und dem Irak) bis hin zu einer zweiten Stufe der Revolution, in der diejenigen religiösen und politischen Extremisten ins Spiel kommen und möglicherweise siegreich sein werden, die sich jetzt noch im Hintergrund halten.

Weil das eben alles ganz ungewiß ist, tut der Journalist gut daran, sich nicht in Spekulationen zu verstricken, sondern das Konkrete zu berichten. Aufzuschreiben, was ist; was er wahrnimmt, was man ihm berichtet.

In Deutschland hat diese Art des Journalismus, für die einst der "Rasende Reporter" Egon Erwin Kisch stand, keine sehr starke Verankerung. Gero von Randows Artikel ist das Paradebeispiel einer guten Reportage; um so erstaunlicher, als von Randow eigentlich, wie schon sein verstorbener Vater, von Haus aus Wissenschaftsjournalist ist (kürzlich erst war er in dieser Rolle im Philosophischen Quartett zu sehen).

Gegenwärtig berichtet er für die "Zeit" aus Paris und hat sich von dort aufgemacht, uns ein Bild von dem zu vermitteln, was in Tunesien geschieht. Ein überaus gelungenes Bild.



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