14. Januar 2011

Notizen zu Sarrazin (10): Deutschland, das "Land der Niedertracht"? Jakob Augstein wütet weiter gegen Sarrazin. Und was sagt Stéphane Hessel wirklich?

Der Journalist Jakob Augstein hat sich in das Thema Sarrazin verbissen. Er polemisiert gegen Thilo Sarrazin in einer Weise, die jede Vernunft vermissen läßt, und bei der auch der Verstand auf der Strecke bleibt.

Das Pamphlet gegen Thilo Sarrazin, das er kürzlich in seiner Zeitschrift "Freitag" publiziert hat, bestand teils aus rüden Verbalinjurien ("Rassist", "Kulturchauvinist", "gewohnheitsmäßiger Lügner", "gefährlicher Demagoge"); zum anderen Teil aus sachlichen Irrtümern und einer Argumentation bar jeder Logik (siehe Augstein über Sarrazin; ZR vom 27. 12. 2010).

Nun arbeitet Augstein sich weiter an Sarrazin ab. Diesmal nicht im "Freitag", dessen alleiniger Besitzer er ist, sondern in "Spiegel-Online", das ihm (über seine Beteiligung an der "Spiegel"-Gruppe) nur zum Teil gehört. Überschrift seines gestrigen Artikels: "Im Land der Niedertracht".

Das Land der Niedertracht ist - Sie ahnen es - für Jakob Augstein, den Sohn Martin Walsers und Erben Rudolf Augsteins, sein eigenes Land, Deutschland. Warum? Weil viele Deutsche das Buch Thilo Sarrazins gekauft haben.

Rund eine Million von achtzig Millionen mögen das jetzt sein; aber Augstein nimmt die restlichen 79 Millionen in Sippenhaft. Er diagnostiziert eine "deutsche Empörung", die "etwas Böses" habe.

Wo Schatten ist, da ist auch Licht. Wenn das Böse waltet, dann gibt es auch das Gute. Also kontrastiert der Autor Augstein dem Finsterling Sarrazin eine Lichtgestalt. Also stellt er dem "Land der Niedertracht" - seinem eigenen - ein vorbildliches Land gegenüber, in dem die Empörung nicht etwas Böses sei, sondern "etwas Befreiendes" hätte. Die Lichtgestalt ist Stéphane Hessel. Das Land ist Frankreich.



Stéphane Hessel ist ein eindrucksvoller Mann. Überlebender von Buchenwald, Mitglied der Résistance, Weggefährte von Charles de Gaulle; mit seinen 93 Jahren immer noch geistig fit wie Helmut Schmidt. Er hat im Oktober vergangenen Jahres in dem kleinen Verlag Indigène eine Broschüre publiziert, deren Titel- und Rückseite Sie hier sehen können: "Indignez-vous!", zu deutsch: "Empört euch!"

Es eine Broschüre zu nennen ist fast schon übertrieben. Es ist ein Heftchen mit 13 Seiten Text, dazu 16 Seiten mit Anmerkungen und Werbung für Verlagsprodukte. Verkauft wird es für 3 Euro; nicht nur in Buchhandlungen, sondern auch an den Kiosken.

Wie das Heft zustandekam, hat Hessel gegenüber dem Nouvel Observateur geschildert: Er hatte einen Vortrag über die Werte der Résistance gehalten, den die Verlegerin von Indigène, Sylvie Crossman, hörte. Sie schlug Hessel vor, ihn in erweiterter Form zu publizieren; der Text erschien dann in ihrer Reihe Ceux qui marchent contre le vent - "Die gegen den Strom schwimmen", frei übersetzt.

Gegen den Strom. Daß es eine Botschaft "gegen den Strom" enthält, dürfte den Verkaufserfolg dieses Hefts in Frankreich ebenso ausmachen, wie es in Deutschland Sarrazins Buch eine Millionenauflage bescherte.

Beide Texte befassen sich mit einer staatlichen, einer gesellschaftlichen Lebenslüge: Daß alles gut ist, so wie es ist; daß es ruhig so weitergehen kann. Beide verteidigen die nationale Würde gegen diese Nonchalance; beide äußern sich mit Sorge über die Zukunft. In dem Interview mit dem Nouvel Observateur sagt Hessel:
Il y a beaucoup de gens en France, et c'est largement la responsabilité de M. Sarkozy qui trouvent qu'on ne respecte pas quelque chose qui touche à la dignité de la France - y compris sur le plan de la langue, preuve par "Casse-toi pauvre con!". Et donc, quand quelqu'un s'avance et dit: "Indignez- vous !", on l'écoute. D'autant plus s'il est très vieux et ne prétend pas se faire élire président de la République. Les partis politiques traditionnels inspirent désormais de la méfiance.

Es gibt in Frankreich viele Menschen, und dafür ist größtenteils Sarkozy verantwortlich, die finden, daß es an Respekt vor Dingen fehlt, welche die Würde Frankreichs berühren - auch auf der sprachlichen Ebene, man nehme "Casse-toi pauvre con!" [Zu dieser vulgären Äußerung von Präsident Sarkozy siehe Sarkozy nervt die Franzosen; ZR vom 26. 2. 2008)]. Wenn also jemand vortritt und sagt: Empört euch!, dann hört man ihm zu. Vor allem dann, wenn er sehr alt ist und sich nicht zum Präsidenten der Republik wählen lassen will. Die traditionellen politischen Parteien erwecken heute Mißtrauen.
Nicht wahr, so ähnlich hätte auch Sarrazin schreiben können.

Hessel wie Sarrazin sind Sozialdemokraten. Beide sind besorgt um die Kultur, um die Gesellschaft ihres jeweiligen Landes; um dessen Zukunft. Den einen als den Guten und den anderen als den Bösen zu zeichnen; ihre Texte als ein "Buch der Hoffnung" und ein "Buch der Niedertracht" einander entgegenzustellen, wie Augstein das macht, ist abwegig.

Aber geht denn nicht aus dem, was Augstein zitiert, hervor, daß Hessel und Sarrazin in Fragen der Einwanderung diametral entgegengesetzte Auffassungen haben? Stimmt denn nicht das, was Augstein schreibt:
Wenn Hessel sich um Frankreichs Zukunft sorgt, geht es um Gerechtigkeit. Sarrazins Sorge um die Zukunft Deutschlands dreht sich um Geld und Gene.
Nein, es stimmt nicht. Sarrazin geht es nicht um Geld und Gene, sondern um die Zukunft unserer Kultur und die Sicherung unseres Wohlstands. Nichts, wirklich nichts von dem, was er schreibt, zielt auf Ungerechtigkeit. Und wie sieht Hessel die Einwanderung nach Frankreich? Aus dem Interview mit dem Nouvel Observateur:
Je considère que la France a un rôle très important à jouer à ce propos de par la multiplicité des cultures présentes sur son territoire. La France devrait être un exemple pour l'Europe entière dans sa façon d'intégrer les immigrés.

Ich bin der Auffassung, daß Frankreich aufgrund der Vielfalt der Kulturen, die es auf seinem Territorium gibt, in dieser Hinsicht eine sehr wichtige Rolle zu spielen hat. Frankreich sollte durch die Art, wie es die Einwanderer integriert, ein Vorbild für ganz Europa sein.
Das Problem der Integration von Einwanderern ist auch ein zentrales Thema Sarrazins (nicht das zentrale übrigens, obwohl die öffentliche Debatte das suggeriert).

Gewiß setzen die beiden Autoren verschiedene Akzente. Der frühere Gaullist Hessel mag heute innerhalb der Sozialdemokratie etwas weiter links stehen als Sarrazin. Vor allem aber ist in Frankreich die Situation eine andere als in Deutschland. Dort hat es immer eine Assimilationspolitik gegeben; Multikulti als offizielle Politik spielte in Frankreich nie eine Rolle. Es gab und gibt aber Maßnahmen gegen Einwanderer, die in Deutschland undenkbar wären, zum Beispiel Abschiebungen in großem Umfang, "une politique scandaleuse d'expulsions massives", wie Hessel sagt; eine skandalöse Politik massiver Abschiebungen.

Aus der Sicht Sarrazins ist demgemäß die Integration ein Problem der Überwindung der Multikulti-Ideologie. Aus der Sicht Hessels ist sie ein Problem des menschlichen, des auch juristisch einwandfreien Umgangs mit Einwanderern.

Sarrazin - der Deutsche mit französischen Vorfahren - hätte, wäre er Franzose, einen ähnlichen Text schreiben können wie Hessel, der Franzose mit deutschen Vorfahren; und umgekehrt. Sie haben sich unterschiedlich geäußert; denn jeder reagiert auf die Schwierigkeiten, wie sie in seinem eigenen Land existieren.

Daraus einen Gegensatz von Gut und Böse zu konstruieren, von "Buch der Hoffnung" und "Buch der Niedertracht", und dies dann auch noch auf die ganze jeweilige Bevölkerung zu generalisieren, ist absurd. Nein, es ist unanständig.

Neigte ich zu Augsteins Sprache, dann würde ich sagen: Es ist niederträchtig.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: Thilo Sarrazin und Necla Kelek bei der Vorstellung von Sarrazins Buch am 30. August 2010. Vom Autor Richard Hebestreit unter Creative Commons Attribution 2.0 Generic-Lizenz freigegeben.