27. Dezember 2010

Zitat des Tages: Augstein über Sarrazin. Ein indiskutabler Artikel, der aber doch einen Kommentar verdient

Die Zeitung geht dabei weit unter ihr eigenes Niveau. Die FAZ lässt Sarrazin den Satz schreiben: "Die von mir genannten Statistiken und Fakten hat keiner bestritten". Das stimmt einfach nicht. Es ist eine Lüge. Und zwar eine offensichtliche, die den Leser fassungslos macht. Es ist nicht nur so, dass keineswegs keiner Sarrazins Thesen bestritten hat - sondern es ist vielmehr so, dass die Experten geradezu kohortenweise über Sarrazins Kurzschlüsse hergefallen sind. Es sind nämlich nicht die Daten falsch, die er nutzt. Sondern die Schlüsse, die er daraus zieht.

Jakob Augstein in der Online-Ausgabe der Wochenschrift "Freitag" unter der Überschrift "Die FAZ, Sarrazin und Lügen zu Weihnachten".



Haben Sie genau gelesen?

Augsteins Vorwurf lautet:
Die FAZ lässt Sarrazin den Satz schreiben: "Die von mir genannten Statistiken und Fakten hat keiner bestritten". Das stimmt einfach nicht. Es ist eine Lüge.
Es sei eine Lüge, sagt Augstein, daß niemand die von Sarrazin genannten Statistiken und Fakten bestritten habe. Und warum ist es eine Lüge? Augstein:
Es sind nämlich nicht die Daten falsch, die er nutzt. Sondern die Schlüsse, die er daraus zieht.
Augstein bezichtigt Sarrazin der Lüge, weil dieser gesagt hat, daß die von ihm genannten Statistiken und Daten nicht bestritten worden seien. Wenige Sätze später schreibt Augstein, daß diese Daten nicht falsch seien, sondern die aus ihnen von Sarrazin gezogenen Schlüsse.

Zu seinen Schlüssen hat sich aber Sarrazin in dem zitierten Satz ja gerade nicht geäußert, sondern zu den Fakten und Statistiken. Augstein nennt das eine Lüge, was er selbst bestätigt.



Es wäre die Mühe nicht wert, diese offensichtliche Unlogik zu kommentieren, wenn es nicht um Sarrazin und um Augstein ginge.

Was Jakob Augstein angeht: Er ist, auch wenn er sich in seinem Blatt kokett als "Journalist und Gärtner in Berlin" vorstellt, Besitzer und Herausgeber des "Freitag". Kaufen konnte er das Blatt, weil er einer der Erben von Rudolf Augstein ist; von diesem gesetzlich anerkannt, obwohl er wußte, daß der leibliche Vater Jakobs sein Freund Martin Walser war.

Immerhin, Jakob Augstein trägt den Namen dieses großen Journalisten. Das sollte eigentlich zu einem gewissen Anspruch an sich selbst verpflichten; zu wenigstens dem Bemühen um journalistische Qualität.

Daran fehlt es an dem Artikel in einem bemerkenswerten Ausmaß. Nicht nur schimpft Augstein ungehemmt; er nennt Sarrazin einen "Rassisten und Kulturchauvinisten", einen "gewohnheitsmäßigen Lügner", einen "gefährlichen Demagogen". Sondern die Argumentation in dem ganzen Artikel ist gedanklich nicht weniger dürftig als die eingangs zitierte Textpassage.

Augstein behauptet, in einer Stellungnahme des Deutschen Biologenverbands stehe:
Dass es messbare Unterschiede in Intelligenzleistungen gibt, liege nur daran, dass die Intelligenztests kulturell beeinflusst seien.
Einige Sätze später schreibt er von derselben Stellungnahme:
Die Unterschiede innerhalb der Gruppe übertreffen den Biologen zufolge die Unterschiede zwischen den Gruppen bei weitem. Gleiches gilt für das Genom schlechthin. Die Abweichungen innerhalb von Ethnien seien fünfmal so hoch wie zwischen ihnen.
Augstein schreibt also, daß erstens kein genetischer Unterschied in der Intelligenz von Populationen existiert und daß zweitens die Messung dieses nicht existenten genetischen Unterschied ergibt, daß er nur ungefähr ein Fünftel des genetischen Unterschieds innerhalb von Gruppen beträgt. Wo bleibt da die Logik?

Augstein an anderer Stelle:
Ein anderes Beispiel sind Sarrazins Äußerungen zum Verschwinden der Deutschen. Er schreibt: "Beim gegenwärtigen demografischen Trend wird Deutschland in 100 Jahren noch 25 Millionen, in 200 Jahren noch acht Millionen und in 300 Jahren noch drei Millionen Einwohner haben." Dazu äußerte der Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg, dass die Zahl der Deutschen im Jahr 2100 bei 46,1 Millionen liegen werde. Es spielt hier keine Rolle, wer Recht hat. Eine Rolle spielt, dass Sarrazin lügt und dass die FAZ ihn lügen lässt.
Wenn es keine Rolle spielt, wer Recht hat, dann kann man aus der angeblichen Diskrepanz zwischen Birgs und Sarrazins Zahlen offensichtlich nicht ableiten, daß Sarrazin lügt.

Wiederum: Wo bleibt da die Logik?



Im übrigen gibt es den Widerspruch zwischen Sarrazins und Birgs Angaben, den Augstein behauptet, überhaupt nicht.

Sarrazin macht in der zitierten Passage keine Prognose, sondern er stellt eine Modellrechnung an. (Zum Unterschied zwischen Prognosen und Modellrechnungen siehe ausführlich Sarrazin auf dem Prüfstand der Wissenschaft (4): Demographische Entwicklung und Geburtenziffer von Einwanderern - Teil 1: Grundbegriffe; ZR vom 21. 9. 2010 sowie Teil 2: Sarrazins Zahlen; ZR vom 24. 9. 2010 und Teil 3: Sarrazins Szenarien; ZR vom 29. 10. 2010).

"Beim gegenwärtigen demographischen Trend" bezieht sich auf die heutige Netto-Reproduktionsrate von 0,64 in Deutschland (Seite 339 des Buchs von Sarrazin). Das bedeutet, daß jede Generation um 36 Prozent kleiner ist als die vorausgehende. Es genügt Mathematik der Mittelstufe, um auszurechnen, daß beim Anhalten dieses demographischen Trends eine Bevölkerung von 80 Millionen in der vierten Generation auf knapp über 20 Millionen abgesunken sein wird.

Birg hingegen - auf dessen Berechnungen Sarrazin in anderen Passagen seines Buchs wesentlich aufbaut - versucht eine Prognose unter Berücksichtigung von weiteren Faktoren wie Einwanderung. Sarrazin verwechselt seine - unbestreitbare, weil rein mathematische - Modellrechnung keineswegs mit einer solchen Prognose; er widmet einen ganzen Abschnitt unter der Überschrift "Weshalb die Nettoreproduktionsrate kein Schicksal sein darf" (S. 372 ff) den unterschiedlichen möglichen realen Entwicklungen.

Die beiden Aussagen, die Augstein konfrontieren möchte, widersprechen sich somit so wenig, wie die Aussage "Wenn der Wertgewinn meiner XYZ-Aktie von 20 Prozent im Jahr 2010 im nächsten Jahrzehnt anhält, dann ist sie in zehn Jahren rund sechs mal so viel wert wie jetzt" der Aussage widerspricht, daß realistischerweise sich der Kurs ganz anders entwickeln dürfte.



Also: Jakob Augsteins Artikel ist indiskutabel, im Wortsinn. Man kann ihn nicht diskutieren, weil er fast nur aus sachlichen und logischen Fehlern besteht; sowie Verbalinjurien gegen Sarrazin und Vorwürfen an die Adresse der FAZ. Wer so etwas schreibt, der disqualifiziert sich als Journalist. Er sollte besser den Beruf des Gärtners zu seinem einzigen machen.

Aber es geht um Sarrazin. Und das ist die andere Seite des Vorgangs. Das macht es wert, sich mit Jakob Augsteins Artikel zu befassen.

Die erste Reaktion auf Sarrazins Buch, die schon vor dessen Erscheinen einsetzte, war der Versuch, ihn durch Diffamierung zur Unperson zu machen (siehe Pawlow'sche Reflexe. Diffamierungen statt einer Auseinandersetzung mit den Thesen von Thilo Sarrazin; ZR vom 25. 8. 2010 und Thilo Sarrazin gestern bei Beckmann, seziert mit Stoppuhr und Notizblock. Ein Gastbeitrag von Calimero; ZR vom 31. 8. 2010).

Das ist gescheitert. Inzwischen konnte Sarrazin in Jauchs Jahresrückblick und bei Sandra Maischberger seine Auffassungen darlegen. Und nun hat die FAZ ihm ein Forum gegeben. Den Artikel in der Weihnachtsausgabe der FAZ, der Jakob Augstein zu seinem Pamphlet veranlaßt hat, können Sie hier lesen.

Es ist ein ausgezeichneter, ein zurückhaltender und sachlicher Artikel. Lesen Sie ihn bitte und vergleichen Sie ihn mit der Art, wie Jakob Augstein auf ihn reagiert. Eine maßlose, eine so abwegige Reaktion, daß man nach einer Erklärung suchen sollte.

Daß Sarrazin nicht erfolgreich ausgegrenzt werden konnte, ist eine der großen, vielleicht die größte Niederlage der Linken in Deutschland in den letzten Jahren. Eine als sicher geglaubte Meinungsdominanz ist durchbrochen worden. Ich habe das so formuliert, daß jetzt der Mehltau verschwindet, der sich seit 1998 über das Land gelegt hatte (Die dritte Phase in der Geschichte der Bundesrepublik geht in diesen Tagen zu Ende. Eine These; ZR vom 14. 9. 2010).

Jakob Augsteins Artikel ohne jedes Maß ist ein Symptom dafür, wie sehr die Linke, für die er steht, sich nun in ihrer Dominanz bedroht fühlt, die doch so sicher gewesen zu sein schien.

Aber wird sich wirklich etwas grundlegend ändern, oder war alles nur ein Strohfeuer? Auch Sarrazin läßt das offen. Er schreibt am Ende des FAZ-Artikels:
Manches starke Wort der letzten vier Monate wäre ohne mein Buch wohl ungesagt geblieben. Aber über Worte ging es bislang eben nicht hinaus, in der Sache hat sich noch gar nichts geändert. Viele Politiker warten offenbar darauf, dass die durch das Buch ausgelöste Resonanz im Windschatten der nächsten Aufregung verschwindet. Mag sein, dass sie sich täuschen, für ein Resümee ist es noch zu früh.
Da haben Sie den nüchternen, skeptischen, lakonischen Thilo Sarrazin. Noch einmal: Lesen Sie bitte den Artikel in der FAZ. Sie können sich dann ein Bild von Sarrazin machen, auch wenn Sie das Buch vielleicht nicht gelesen haben und nicht lesen werden.

Sie können dann selbst urteilen, was von Autoren wie Jakob Augstein zu halten ist.



Nachbemerkung: Der Artikel Augsteins wurde inzwischen verändert. Ich habe diesen Beitrag auf der Grundlage der ursprünglichen Fassung vom 24. 12. 2010, 10.33 Uhr geschrieben, die man noch im Google cache lesen kann.



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