Klischees halten sich oft lang, zumal Klischees, die Nationen betreffen. Deutschland wurde von Vielen im Ausland noch als das Land der "Jawoll!" brüllenden, mit den Hacken knallenden Militaristen gesehen, als wir schon auf dem Weg in den Hedonismus eines kollektiven Freizeitparks waren.
Die Vorstellung vom prüden England überlebte die viktorianische Zeit um viele Jahrzehnte. Frankreich wurde noch als ein romantisches "Agrarland" geschildert, als die Gaullisten längst begonnen hatten, es in ein Land der Hochtechnologie zu verwandeln. Und Schweden gilt oft noch als ein liberales, ja freizügiges Land.
Das war es wirklich einmal: Vor einem halben Jahrhundert, als die Bezeichnung "Schwedenfilme" für Schmuddelsex im Kino gebräuchlich war; als aus Schweden Pornohefte nach Deutschland geschmuggelt wurden. Als der schwedische Film "Sie tanzte nur einen Sommer" in Deutschland ein Skandalfilm war, weil in ihm eine kurze, dezente Nacktszene vorkam. Als Ingmar Bergmans "Das Schweigen" einen noch größeren Skandal auslöste.
Aber kein Land ist heute so wenig militaristisch wie Deutschland. Und kaum irgendwo geht es derart prüde zu - jedenfalls, was die Gesetze angeht - wie in Schweden.
Mir ist das erstmals bewußt geworden, als ich erfuhr, daß in Schweden die Prostitution strafbar ist. Allerdings nur für den Freier. Irgendwann habe ich einmal einen dieser seltsam brutalen schwedischen Krimis gesehen; da wurde jemand damit erpreßt, daß er die Dienste einer Prostituierten in Anspruch genommen hatte. Rückkehr also der Doppelmoral; nur mit umgekehrtem Vorzeichen.
Das ganze Ausmaß der Veränderung, die sich auf dem Gebiet der vom Gesetz vorgeschriebenen Sexualmoral in Schweden vollzogen hat, ist mir aber erst jetzt bewußt geworden; anläßlich des Falls Julian Assange.
Was ich von dessen Unternehmen WikiLeaks halte, habe ich geschrieben (siehe zuletzt Nobelpreis für Julian Assange?; ZR vom 9. 11. 2010). Aber es gibt einen zweiten Fall Assange, der damit nichts zu tun hat.
Oder genauer: Er hat nur indirekt etwas damit zu tun, weil Assange sich nach Schweden begeben hatte, um dort nach einem Server für sein WikiLeaks Ausschau zu halten. Und dabei ist er mit der schwedischen Gesetzeslage in Sachen Sexualmoral in Konflikt geraten.
In Konflikt geraten. Ob er das getan hat, was ihm vorgeworfen wird, ist so ungewiß wie im Fall Kachelmann. Das will ich nicht diskutieren. Aufmerksam machen will ich aber darauf, was ihm vorgeworfen wird. Man kann es heute in einem ausführlichen Bericht von Detlef Borchers in der FAZ zu lesen. Und was man da lesen kann, ist bemerkenswert. Nein, es ist beklemmend.
Borchers berichtet im wesentlichen, was zum Fall Assange von schwedischen Journaisten recherchiert wurde.
Danach reiste Julian Assange im August dieses Jahres auf der Suche nach einem Server für WikiLeaks nach Schweden, nahm Kontakt mit der dortigen "Piratenpartei" auf und machte die persönliche Bekanntschaft einer, wie es heißt "feministischen Sozialdemokratin", die ihn zu einem Vortrag über WikiLeaks nach Schweden eingeladen hatte.
Diese Frau gehört einer politisch-weltanschaulichen Strömung an, die in Deutschland Aufsehen erregen würde - einer "Bruderschafts-Bewegung", dem "Verband der schwedischen christlichen Sozialdemokraten".
Das war die eine Frauenbekanntschaft, die Assange zum Verhängnis werden sollte. Nennen wir sie Frau X. Die andere Bekanntschaft war das Zusammentreffen mit einer 20jährigen Fotokünstlerin - sagen wir, Frau Y -, die zu Assanges Vortrag kam, wo sie zusammen mit Frau X in der ersten Reihe saß.
Zunächst nahm Assanges Bekanntschaft mit Frau X konkrete Formen an. Er machte von ihrem Angebot Gebrauch, bei ihr zu übernachten. Man hatte Sex miteinander. Dann sagte Frau X, sie werde verreisen, und überließ Assange ihre Wohnung für einige Tage. In dieser Zeit nahm Frau Y Kontakt mit Assange auf, von dessen Auftritt bei dem Vortrag sie augenscheinlich beeindruckt gewesen war.
Die Folge war, daß Assange nun auch bei Frau Y übernachtete, auch mit ihr Sex hatte - ohne Kondom, wie sich herausstellte - und, nachdem man gemeinsam gefrühstückt hatte, wieder in die Wohnung von Frau X zurückfuhr. Dort erwartete ihn diese; sie war gar nicht verreist gewesen.
So weit, so banal. Nach einer Vergewaltigungsgeschichte sieht das, nicht wahr, nicht unbedingt aus. Jetzt kommen wir aber zur schwedischen Sexualgesetzgebung.
Frau Y nämlich machte sich offenbar nachträglich Gedanken über die Nacht mit ungeschütztem Sex, rief Frau X an und schilderte ihr die Sorgen, die sie sich jetzt mache; und zwar wegen einer möglichen Aids-Infektion. Ob man nicht gemeinsam Assange zu einem Aids-Test bewegen könne?
Was sich dann genau abspielte, geht aus dem Bericht in der FAZ nicht klar hervor. Jedenfalls gingen die beiden Frauen gemeinsam zur Polizei und erstatteten Strafanzeige gegen Assange.
Was mag sie, die doch beide Assange gemocht hatten, dazu bewogen haben? Wenn man dem folgt, was man aus den Daily Soaps und den Telenovelas über das wahre Leben lernen kann, dann darf man vielleicht vermuten, daß sie gemeinsam wütend waren. In sozusagen schwesterlicher Gemeinschaft wütend, weil jede der Meinung gewesen war, sie sei das einzige schwedische Abenteuer des Julian Assange. Aber das ist Spekulation.
Was aber konnte denn der Inhalt der gemeinsamen Anzeige sein? Ist es in Schweden strafbar, zugleich eine sexuelle Beziehung zu zwei Frauen zu unterhalten, die nichts voneinander wissen?
Nein. Sondern die Polizistin, bei der die beiden Frauen Anzeige erstatteten, formulierte eine Strafanzeige anderen Inhalts. Es wurde eine Fahndung gegen Assange in Gang gesetzt - wegen, unter anderem, "Vergewaltigungsverdachts". Dieser Verdacht wurde dann wieder zurückgenommen, und es wurde nur noch wegen sexueller Belästigung gefahndet. Worin immer diese, oder gar eine Vergewaltigung, bestanden haben mag.
Aber dann kam Frau Z ins Spiel, deren Namen wir diesmal kennen: Die Göteborger Staatsanwältin Marianne Ny. Die FAZ über deren Rechtsverständnis:
Wie konnte Frau Ny aus dem, was vorgefallen war, den Verdacht einer Vergewaltigung herausholen? Gibt es tatsächlich im schwedischen Strafrecht einen Paragraphen, der es als Vergewaltigung definiert, wenn sich eine Frau "nach dem Sex unwohl fühlt oder sich ausgenutzt vorkommt"?
Hier finden Sie, von Interpol zusammengestellt, eine vollständige Liste der Sexualdelikte im schwedischen Strafrecht. Der Absatz, der Vergewaltigung definiert, lautet so:
Ich habe keinen anderen Paragraphen gefunden, der das hergibt, was die Staatsanwältin Ny behauptet.
Aber Ny wird das ja nicht so dahergeredet haben. Vielleicht gibt es Urteile, die den betreffenden Paragraphen (Kapitel 5, Abschnitt 1 des schwedischen Strafgesetzbuchs) so auslegen, wie Ny das beschreibt. Vielleicht gibt es ja Entscheidungen des Inhalts, daß allein schon ein gekonnter Schlafzimmerblick Frauen "in einen ähnlich hilflosen Zustand versetzt" wie eine Betäubung.
Vielleicht stimmt auch das, was nicht in dem FAZ-Bericht, aber in anderen Medien zu lesen ist; daß es nämlich vier Anklagepunkte gegen Assange gebe: Er hätte beim Verkehr mit einer der Frauen (vermutlich Frau X) "sein Körpergewicht benutzt, sie niederzudrücken"; er hätte mit ihr Sex ohne Kondom gehabt; er hätte sie "mit Absicht belästigt" (deliberately molested), und zwar auf eine Art, die geeignet gewesen sei, ihre sexuelle Integrität zu verletzen (in a way designed to violate her sexual integrity; was immer das bedeutet). Und er hätte mit der anderen Frau (vermutlich Frau Y) Sex ohne Kondom gehabt, während sie schlief.
Was auch immer sich zwischen Assange und Frau X, was auch immer sich zwischen Assange und Frau Y zugetragen hat - jedenfalls scheint das Vorgehen der Staatsanwältin Marianne Ny zu zeigen, daß man in Schweden sehr schnell in den Verdacht geraten kann, ein Vergewaltiger zu sein. Die Anwendung von oder eine Drohung mit Gewalt wird Assange nicht vorgeworfen; aber das ist eben im heutigen Schweden offenbar gar nicht mehr erforderlich, um von einer Staatsanwältin als Vergewaltiger verfolgt zu werden.
"Jeder Mann ist ein potentieller Vergewaltiger" war einer der starken Sprüche der Frauenbewegung in den siebziger und achtziger Jahren.
Ist er das nicht schon dann, wenn er mit seinem Körpergewicht auf der Frau liegt und diese dadurch niederdrückt? So scheint man das jedenfalls in Schweden zu sehen; so scheint es jedenfalls die Staatsanwältin Ny zu sehen.
Alice Schwarzer würde sich gewiß freuen, wenn es in Deutschland ebenso wäre wie in Schweden. Ich komme auf sie, weil ich kürzlich dazu in Cora Stephans Blog BLogisch einen Text gelesen habe, auf den ich Sie gern aufmerksam machen möchte.
Er ist nicht neu; geschrieben wurde er 1988, und Cora Stephan hat ihn jetzt wieder publiziert. Er handelt von Alice Schwarzers damaliger "PorNo"-Kampagne und davon, wie Schwarzer und ihr Vorbild Andrea Dworkin sich den Sex mit Männern nur als etwas Unangenehmes, Gewaltsam-Bedrohliches vorstellen können.
Lesen Sie, was Cora Stephan damals schrieb. Freuen Sie sich, daß sich seither in Deutschland manches verändert hat; die Reaktion auf Schwarzers Kritik an Kristina Schröder hat es bewiesen (Alice Schwarzer vs. Kristina Schröder; ZR vom 10. 11. 2010).
Nachtrag am 10. 12.: In der ersten Fassung dieses Artikels hatte ich die Staatsanwältin Marianne Ny als Autorin eines Buchs "7 Steps to Legal Revenge" bezeichnet. Das beruhte auf einem irrtümlichen Verständnis der betreffenden Passage in dem Artikel von Detlef Borchers. Tatsächlich handelte es sich um Frau X, die eine Übersetzung dieses Buchs auf ihre WebSite gestellt hatte. Der Artikel ist jetzt entsprechend geändert.
Inzwischen habe ich des weiteren - aufgrund des Kommentars von Hermann in Zettels kleinem Zimmer - nach der Begründung für den Haftbefehl gesucht und sie hier gefunden. Das habe ich in den Artikel eingearbeitet.
Beim Recherchieren bin ich auf einige weitere Informationen gestoßen, die mir interessant erscheinen:
Die Vorstellung vom prüden England überlebte die viktorianische Zeit um viele Jahrzehnte. Frankreich wurde noch als ein romantisches "Agrarland" geschildert, als die Gaullisten längst begonnen hatten, es in ein Land der Hochtechnologie zu verwandeln. Und Schweden gilt oft noch als ein liberales, ja freizügiges Land.
Das war es wirklich einmal: Vor einem halben Jahrhundert, als die Bezeichnung "Schwedenfilme" für Schmuddelsex im Kino gebräuchlich war; als aus Schweden Pornohefte nach Deutschland geschmuggelt wurden. Als der schwedische Film "Sie tanzte nur einen Sommer" in Deutschland ein Skandalfilm war, weil in ihm eine kurze, dezente Nacktszene vorkam. Als Ingmar Bergmans "Das Schweigen" einen noch größeren Skandal auslöste.
Aber kein Land ist heute so wenig militaristisch wie Deutschland. Und kaum irgendwo geht es derart prüde zu - jedenfalls, was die Gesetze angeht - wie in Schweden.
Mir ist das erstmals bewußt geworden, als ich erfuhr, daß in Schweden die Prostitution strafbar ist. Allerdings nur für den Freier. Irgendwann habe ich einmal einen dieser seltsam brutalen schwedischen Krimis gesehen; da wurde jemand damit erpreßt, daß er die Dienste einer Prostituierten in Anspruch genommen hatte. Rückkehr also der Doppelmoral; nur mit umgekehrtem Vorzeichen.
Das ganze Ausmaß der Veränderung, die sich auf dem Gebiet der vom Gesetz vorgeschriebenen Sexualmoral in Schweden vollzogen hat, ist mir aber erst jetzt bewußt geworden; anläßlich des Falls Julian Assange.
Was ich von dessen Unternehmen WikiLeaks halte, habe ich geschrieben (siehe zuletzt Nobelpreis für Julian Assange?; ZR vom 9. 11. 2010). Aber es gibt einen zweiten Fall Assange, der damit nichts zu tun hat.
Oder genauer: Er hat nur indirekt etwas damit zu tun, weil Assange sich nach Schweden begeben hatte, um dort nach einem Server für sein WikiLeaks Ausschau zu halten. Und dabei ist er mit der schwedischen Gesetzeslage in Sachen Sexualmoral in Konflikt geraten.
In Konflikt geraten. Ob er das getan hat, was ihm vorgeworfen wird, ist so ungewiß wie im Fall Kachelmann. Das will ich nicht diskutieren. Aufmerksam machen will ich aber darauf, was ihm vorgeworfen wird. Man kann es heute in einem ausführlichen Bericht von Detlef Borchers in der FAZ zu lesen. Und was man da lesen kann, ist bemerkenswert. Nein, es ist beklemmend.
Borchers berichtet im wesentlichen, was zum Fall Assange von schwedischen Journaisten recherchiert wurde.
Danach reiste Julian Assange im August dieses Jahres auf der Suche nach einem Server für WikiLeaks nach Schweden, nahm Kontakt mit der dortigen "Piratenpartei" auf und machte die persönliche Bekanntschaft einer, wie es heißt "feministischen Sozialdemokratin", die ihn zu einem Vortrag über WikiLeaks nach Schweden eingeladen hatte.
Diese Frau gehört einer politisch-weltanschaulichen Strömung an, die in Deutschland Aufsehen erregen würde - einer "Bruderschafts-Bewegung", dem "Verband der schwedischen christlichen Sozialdemokraten".
Das war die eine Frauenbekanntschaft, die Assange zum Verhängnis werden sollte. Nennen wir sie Frau X. Die andere Bekanntschaft war das Zusammentreffen mit einer 20jährigen Fotokünstlerin - sagen wir, Frau Y -, die zu Assanges Vortrag kam, wo sie zusammen mit Frau X in der ersten Reihe saß.
Zunächst nahm Assanges Bekanntschaft mit Frau X konkrete Formen an. Er machte von ihrem Angebot Gebrauch, bei ihr zu übernachten. Man hatte Sex miteinander. Dann sagte Frau X, sie werde verreisen, und überließ Assange ihre Wohnung für einige Tage. In dieser Zeit nahm Frau Y Kontakt mit Assange auf, von dessen Auftritt bei dem Vortrag sie augenscheinlich beeindruckt gewesen war.
Die Folge war, daß Assange nun auch bei Frau Y übernachtete, auch mit ihr Sex hatte - ohne Kondom, wie sich herausstellte - und, nachdem man gemeinsam gefrühstückt hatte, wieder in die Wohnung von Frau X zurückfuhr. Dort erwartete ihn diese; sie war gar nicht verreist gewesen.
So weit, so banal. Nach einer Vergewaltigungsgeschichte sieht das, nicht wahr, nicht unbedingt aus. Jetzt kommen wir aber zur schwedischen Sexualgesetzgebung.
Frau Y nämlich machte sich offenbar nachträglich Gedanken über die Nacht mit ungeschütztem Sex, rief Frau X an und schilderte ihr die Sorgen, die sie sich jetzt mache; und zwar wegen einer möglichen Aids-Infektion. Ob man nicht gemeinsam Assange zu einem Aids-Test bewegen könne?
Was sich dann genau abspielte, geht aus dem Bericht in der FAZ nicht klar hervor. Jedenfalls gingen die beiden Frauen gemeinsam zur Polizei und erstatteten Strafanzeige gegen Assange.
Was mag sie, die doch beide Assange gemocht hatten, dazu bewogen haben? Wenn man dem folgt, was man aus den Daily Soaps und den Telenovelas über das wahre Leben lernen kann, dann darf man vielleicht vermuten, daß sie gemeinsam wütend waren. In sozusagen schwesterlicher Gemeinschaft wütend, weil jede der Meinung gewesen war, sie sei das einzige schwedische Abenteuer des Julian Assange. Aber das ist Spekulation.
Was aber konnte denn der Inhalt der gemeinsamen Anzeige sein? Ist es in Schweden strafbar, zugleich eine sexuelle Beziehung zu zwei Frauen zu unterhalten, die nichts voneinander wissen?
Nein. Sondern die Polizistin, bei der die beiden Frauen Anzeige erstatteten, formulierte eine Strafanzeige anderen Inhalts. Es wurde eine Fahndung gegen Assange in Gang gesetzt - wegen, unter anderem, "Vergewaltigungsverdachts". Dieser Verdacht wurde dann wieder zurückgenommen, und es wurde nur noch wegen sexueller Belästigung gefahndet. Worin immer diese, oder gar eine Vergewaltigung, bestanden haben mag.
Aber dann kam Frau Z ins Spiel, deren Namen wir diesmal kennen: Die Göteborger Staatsanwältin Marianne Ny. Die FAZ über deren Rechtsverständnis:
Sie hob hervor, dass nach schwedischem Recht Nötigung oder Vergewaltigung in einem minder schweren Fall vorliegen kann, wenn sich eine Frau nach dem Sex unwohl fühlt oder sich ausgenutzt vorkommt.Diese Staatsanwältin Marianne Ny also übernahm offenbar den Fall, und nun wurde wieder wegen des Verdachts der Vergewaltigung gefahndet. Bis sich Assange in England den Behörden stellte.
Wie konnte Frau Ny aus dem, was vorgefallen war, den Verdacht einer Vergewaltigung herausholen? Gibt es tatsächlich im schwedischen Strafrecht einen Paragraphen, der es als Vergewaltigung definiert, wenn sich eine Frau "nach dem Sex unwohl fühlt oder sich ausgenutzt vorkommt"?
Hier finden Sie, von Interpol zusammengestellt, eine vollständige Liste der Sexualdelikte im schwedischen Strafrecht. Der Absatz, der Vergewaltigung definiert, lautet so:
A person who, by violence or threat involving or appearing to the threatened person as imminent danger, forces the latter to have sexual intercourse or to engage in a comparable sexual act, shall be sentenced for rape to imprisonment for at least two and at most six years. Rendering the person unconscious or otherwise placing the person in a similarly helpless state shall be regarded as equivalent to violence.Nichts von Unwohlfühlen oder dem Gefühl, ausgenutzt worden zu sein.
Wer durch Gewalt oder durch eine Drohung, die für die betroffene Person eine unmittelbare Gefahr beinhaltet oder von ihr so wahrgenommen wird, diese zu Sexualverkehr oder zu einer vergleichbaren sexuellen Handlung zwingt, wird wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei und höchstens sechs Jahren verurteilt. Wenn die Person betäubt oder auf andere Art in einen ähnlich hilflosen Zustand versetzt wird, wird dies als Äquivalent zur Vergewaltigung angesehen.
Ich habe keinen anderen Paragraphen gefunden, der das hergibt, was die Staatsanwältin Ny behauptet.
Aber Ny wird das ja nicht so dahergeredet haben. Vielleicht gibt es Urteile, die den betreffenden Paragraphen (Kapitel 5, Abschnitt 1 des schwedischen Strafgesetzbuchs) so auslegen, wie Ny das beschreibt. Vielleicht gibt es ja Entscheidungen des Inhalts, daß allein schon ein gekonnter Schlafzimmerblick Frauen "in einen ähnlich hilflosen Zustand versetzt" wie eine Betäubung.
Vielleicht stimmt auch das, was nicht in dem FAZ-Bericht, aber in anderen Medien zu lesen ist; daß es nämlich vier Anklagepunkte gegen Assange gebe: Er hätte beim Verkehr mit einer der Frauen (vermutlich Frau X) "sein Körpergewicht benutzt, sie niederzudrücken"; er hätte mit ihr Sex ohne Kondom gehabt; er hätte sie "mit Absicht belästigt" (deliberately molested), und zwar auf eine Art, die geeignet gewesen sei, ihre sexuelle Integrität zu verletzen (in a way designed to violate her sexual integrity; was immer das bedeutet). Und er hätte mit der anderen Frau (vermutlich Frau Y) Sex ohne Kondom gehabt, während sie schlief.
Was auch immer sich zwischen Assange und Frau X, was auch immer sich zwischen Assange und Frau Y zugetragen hat - jedenfalls scheint das Vorgehen der Staatsanwältin Marianne Ny zu zeigen, daß man in Schweden sehr schnell in den Verdacht geraten kann, ein Vergewaltiger zu sein. Die Anwendung von oder eine Drohung mit Gewalt wird Assange nicht vorgeworfen; aber das ist eben im heutigen Schweden offenbar gar nicht mehr erforderlich, um von einer Staatsanwältin als Vergewaltiger verfolgt zu werden.
"Jeder Mann ist ein potentieller Vergewaltiger" war einer der starken Sprüche der Frauenbewegung in den siebziger und achtziger Jahren.
Ist er das nicht schon dann, wenn er mit seinem Körpergewicht auf der Frau liegt und diese dadurch niederdrückt? So scheint man das jedenfalls in Schweden zu sehen; so scheint es jedenfalls die Staatsanwältin Ny zu sehen.
Alice Schwarzer würde sich gewiß freuen, wenn es in Deutschland ebenso wäre wie in Schweden. Ich komme auf sie, weil ich kürzlich dazu in Cora Stephans Blog BLogisch einen Text gelesen habe, auf den ich Sie gern aufmerksam machen möchte.
Er ist nicht neu; geschrieben wurde er 1988, und Cora Stephan hat ihn jetzt wieder publiziert. Er handelt von Alice Schwarzers damaliger "PorNo"-Kampagne und davon, wie Schwarzer und ihr Vorbild Andrea Dworkin sich den Sex mit Männern nur als etwas Unangenehmes, Gewaltsam-Bedrohliches vorstellen können.
Lesen Sie, was Cora Stephan damals schrieb. Freuen Sie sich, daß sich seither in Deutschland manches verändert hat; die Reaktion auf Schwarzers Kritik an Kristina Schröder hat es bewiesen (Alice Schwarzer vs. Kristina Schröder; ZR vom 10. 11. 2010).
Nachtrag am 10. 12.: In der ersten Fassung dieses Artikels hatte ich die Staatsanwältin Marianne Ny als Autorin eines Buchs "7 Steps to Legal Revenge" bezeichnet. Das beruhte auf einem irrtümlichen Verständnis der betreffenden Passage in dem Artikel von Detlef Borchers. Tatsächlich handelte es sich um Frau X, die eine Übersetzung dieses Buchs auf ihre WebSite gestellt hatte. Der Artikel ist jetzt entsprechend geändert.
Inzwischen habe ich des weiteren - aufgrund des Kommentars von Hermann in Zettels kleinem Zimmer - nach der Begründung für den Haftbefehl gesucht und sie hier gefunden. Das habe ich in den Artikel eingearbeitet.
Beim Recherchieren bin ich auf einige weitere Informationen gestoßen, die mir interessant erscheinen:
Laut einer Meldung von Yahoo! News wurde im November ein von der schwedischen Regierung in Auftrag gegebener Bericht vorgelegt, der vorschlägt, die Gesetzgebung zur Vergewaltigung weiter zu verschärfen. Danach sollen alle sexuellen Handlungen bestraft werden, zu denen beide Beteiligten nicht ausdrücklich ihre Zustimmung erteilt haben (schriftlich?, möchte man fragen); unabhängig davon, ob Gewalt angewandt wird. Wie die Huffington Post meldet, handele es sich bei Frau X um eine gewisse Anna Ardin; eine Friedensaktivistin, die inzwischen Schweden verlassen hätte, um im Westjordanland für die Versöhnung zwischen Israelis und Palästinensern zu arbeiten. Im Blog "Arlesheim reloaded" können Sie das Video einer Sendung von FoxNews sehen, die den Ablauf der Ereignisse (auf eine nach meinem Geschmack allerdings arg theatralische Weise) rekonstruiert. Wenn diese Rekonstruktion stimmt, dann hat nicht nur Frau Y nach der vorgeblichen Vergewaltigung ein gemeinsames Frühstück mit Assange eingenommen, sondern es hat auch Frau X nach einem der von ihr behaupteten sexuellen Übergriffe eine Party für ihn veranstaltet.
© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Ingrid Thulin und Ingmar Bergman. Aus dem Archiv des Svenska filminstitutet; gemäß dem schwedischen Copyright in der public domain. - Mit Dank an Dirk, FTT_2.0, Hermann und vivendi.