14. Dezember 2010

Islam und christlich-jüdische Tradition. Einwanderung und Republikanismus. Fünf FDP-Politiker stoßen eine überfällige Debatte an (Teil 1)

Die FDP hat das Problem jeder kleineren Partei in einer Koalition: Paßt sie sich dem größeren Partner an, dann fragt sich der Bürger, wozu er sie denn eigentlich gewählt hat und warum er sie wieder wählen sollte. Riskiert sie Konflikte, dann wird das als Zerstrittenheit interpretiert; und dieser "schlechte Zustand der Koalition" wird wieder hauptsächlich dem kleineren Partner in die Schuhe geschoben.

Die FDP steckt gegenwärtig fest in dieser Zwickmühle; mit Umfrageergebnissen, die seit Monaten kaum noch über fünf Prozent liegen. Wolfgang Kubicki sieht an der Basis schon Zeichen einer "Auflösung".

Was tun? Die FDP muß mehr eigenes Profil zeigen; das ist die Binsenweisheit. Aber sie muß das so tun, daß der Bürger Stärke und Selbständigkeit wahrnimmt, nicht kleinliche Zankerei.

Also die strategische Ebene statt der taktischen. Also Grundsätzliches. Ein Grundsatzprogramm wird vorbereitet und soll 2012 verabschiedet werden. Öffentliche Diskussionen zum Grundsätzlichen sind auf dem Weg dorthin wahrscheinlich hilfreich.



Eine solche Grundsatzdiskussion haben jetzt fünf Abgeordnete der FDP angestoßen; mit einem gemeinsam verfaßten Thesenpapier "Sechs Thesen für ein republikanisches Integrationsleitbild", das "endlich die offene Debatte um ein integrationspolitisches Leitbild ... eröffnen" soll.

Nicht ohne einen stolzen Anspruch melden sich die fünf Autoren (Marco Buschmann, der Generalsekretär Christian Lindner, Stefan Ruppert, Serkan Tören und Johannes Vogel) also zu Wort. Endlich! Aber sie haben ja recht: Multikulti ist zwar als Leitbild mausetot. Aber dazu, was denn an seine Stelle treten soll, gibt es außer der Leerformel von "unserer christlich-jüdischen Kultur" noch kaum eine ernsthafte Diskussion. Platz also für die FDP; eine liberale Chance.

"Spiegel-Online" hat über den Text am vergangenen Donnerstag in gewohnt oberflächlicher Manier berichtet. Aber es gibt auch Diskussionen mit Substanz. Hervorheben möchte ich besonders Raysons Artikel "Tradition, Leitbild und Leitreligion" in B.L.O.G. und die Diskussion in The European; wo allerdings nur der Artikel von Alexander Görlach das gedankliche Niveau von Rayson erreicht.

Sehen wir uns die sechs Thesen an :
1. "Wesentliche Vorgabe für das Leitbild zur Integration macht das Grundgesetz, besonders der Grundrechtekatalog".

2. "Die Formel vom christlich-jüdischen Abendland kann kein integratives Leitbild sein".

3. "Gesellschaftliche Vielfalt und staatliche Einheit werden durch die Idee der kooperativen Vielfalt zusammengeschmiedet". Gemeint ist damit "einerseits eine Einladung an Zuwanderer"; andererseits soll von diesen der Wille zur "produktiven Kooperation" verlangt werden.

4. "Weltoffenheit, Toleranz und Leistung". Gefordert wird ein "Leistungsprinzip", das "blind für Vorbehalte gegenüber Ethnien oder Religionen" ist.

5. "Integration arbeitet nicht auf ein Sonderleitbild für Migranten hin. Vielmehr soll das Leitbild den Weg zum gleichberechtigten deutschen Staatsbürger weisen".

6. "Integrationspolitik ist keine mildtätige Geste gegenüber Zuwanderern, sondern liegt im Interesse Deutschlands".
Mit Ausnahme der These 2 sind das Thesen, die dadurch bemerkenswert sind, daß nichts an ihnen bemerkenswert ist. Sie beschreiben eine Einwanderungspolitik, wie sie alle klassischen Einwanderungsländer haben:

Man will Einwanderung aus eigenem nationalem Interesse (aber eben auch nur, soweit dieses eigene Interesse besteht). Für Einwanderer gilt das Leistungsprinzip, wie für jeden Bürger - jeder ist seines Glückes Schmied: Sein Glück selbst zu schmieden ist schließlich das klassische Motiv für Migration.

Es gibt kein gesondertes Leitbild für Einwanderer; der Einwanderer von heute ist der normale Staatsbürger von morgen. Und den Rahmen für das Zusammenleben liefert die jeweilige Verfassung; für uns also das Grundgesetz.

Auch wenn sie diesen Begriff vermeiden, fordern die fünf Autoren damit eine Assimilationspolitik. Im Rahmen der grundgesetzlichen Ordnung und der Freiheit, ohne Bevormundung sein Leben gestalten, soll jeder Einwanderer zu einem Deutschen wie andere auch werden. Das soll ihm - wenn ich die Autoren richtig verstehe - natürlich nicht aufgezwungen werden; das wäre illiberal. Aber es ist das Leitbild.

Die fünf Abgeordneten fordern, mit anderen Worten, die konsequente Abkehr von einem Multikulti-Leitbild, das ja gerade keine Assimilation will. Das gerade nicht blind ist für Ethnien und Religionen. Das nicht das nationale Interesse Deutschlands in den Vordergrund stellt, sondern die Einwanderung überwiegend aus der Perspektive der Interessen und Rechte der Einwanderer sieht.

Dieses Multikulti-Leitbild dominierte lange in Deutschland. Deshalb ist das, was in anderen Einwanderungsländern nur einen breiten Konsens zusammenfassen würde, in Deutschland provokativ.



So weit kann ich das nur begrüßen. Es beschreibt die Politik, die ich in diesem Blog immer wieder befürwortet habe (siehe zum Beispiel "Wegen mangelnder Assimilation". Wie eine Muslima nicht Französin werden durfte; ZR vom 14. 7. 2008 und "Mit der Integration geht es jetzt schnell"; ZR vom 25. 1. 2009).

Die Diskussionen in B.L.O.G. und in The European entzündeten sich allerdings (wie auch andere Kommentare) weniger an diesen Thesen als vielmehr an der These 2.

Diese These ist negativ formuliert - "Die Formel vom christlich-jüdischen Abendland kann kein integratives Leitbild sein" -; und als einzige richtet sie sich nicht gegen Multikulti, sondern gegen eine Idee, die im eigenen Regierungslager vertreten wird.

Es ist diese These, die Rayson in B.L.O.G. zurückhaltend kritisiert ("Nein, die Tradition Deutschlands ist eine christliche. Wer hiergegen noch römische oder griechische Einflüsse in Stellung bringen will, übersieht, dass auch diese Denktraditionen sich in der Überlieferung des Christentums wiederfinden"). Es ist diese These, die Alexander Görlach in The European mit nachgerade biblischem Zorn kritisiert ("Ihr Salon-Säkularismus ist abgeschmackt"). Mit dieser These befasse ich mich im zweiten Teil.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Friedrich Naumann. Skizze von Max Liebermann zu einem Porträt.