18. Dezember 2010

Zettels Meckerecke: "Wutbürger" - Wort des Jahres? Nein, Unwort des Jahres

Bereits zum 35. Mal hat die Gesellschaft für deutsche Sprache das "Wort des Jahres" gekürt. Eine so katastrophale Fehlentscheidung wie diesmal hat sie in diesen 35 Jahren nicht getroffen.

"Wutbürger" ist das Wort des Jahres 2010; so ist es einer Pressemitteilung von gestern zu entnehmen. Lesen Sie die Begründung:
Als Wort des Jahres wurde Wutbürger gewählt. Diese Neubildung wurde von zahlreichen Zeitungen und Fernsehsendern verwendet, um einer Empörung in der Bevölkerung darüber Ausdruck zu geben, dass politische Entscheidungen über ihren Kopf hinweg getroffen werden. Das Wort dokumentiert ein großes Bedürfnis der Bürgerinnen und Bürger, über ihre Wahlentscheidung hinaus ein Mitspracherecht bei gesellschaftlich und politisch relevanten Projekten zu haben.
Bitte lesen Sie das sorgfältig. In der Begründung ist von "Empörung" und von einem "Bedürfnis" nach einem "Mitspracherecht" die Rede. Nicht von Wut.

"Wut" ist - vielleicht hat ja der eine oder der andere der Juroren darüber einmal auf der Schule einen Besinnungsaufsatz geschrieben - etwas durchaus anderes als Empörung; sie ist auch nicht die Formulierung eines Bedürfnisses.

Der Wütende läßt sich gehen; er hat sich nicht unter Kontrolle. Er erleidet unter Umständen einen Wutanfall, einen Wutausbruch.

Er "erleidet" das, wie die Sprache es sehr richtig faßt. Denn der Wütende ist nicht sein eigener Herr. Er ist - auch das ein schöner Ausdruck im Deutschen - "außer sich".

Im Grimm'schen "Deutschen Wörterbuch" findet man Begriffe wie wutbebend, wutentstellt, Wutgebrüll, Wutgeheul, Wutgelächter, Wutgeschrei, Wutgezeter, wutkeuchend, Wutrausch, wutrot, wutschnaubend.

Nicht wahr, das ist nicht unbedingt das Wortfeld, in das ein Begriff paßt, der für das "Bedürfnis der Bürgerinnen und Bürger" stehen soll, "ein Mitspracherecht bei gesellschaftlich und politisch relevanten Projekten zu haben"?



Und er steht ja auch nicht dafür, dieser Begriff. Der "Wutbürger" ist - jedenfalls in seiner aktuellen politischen Bedeutung - ein Wort, das auf Dirk Kurbjuweit zurückgeht, den Leiter des Hauptstadtbüros des "Spiegel". Er propagierte es in einem Essay "Der Wutbürger", der in der Nummer 41 des Blatts vom 11. Oktober erschien.

Anders als offenbar die Juroren der "Gesellschaft für deutsche Sprache" verfügt Kurbjuweit über Sprachgefühl. Mit diesem Wort wollte er keineswegs eine berechtigte Empörung beschreiben, ein Bedürfnis nach Mitsprache. Sondern er meinte das, was das Wort ausdrückt - einen blinden, einen untrollierten Affekt.

Ich habe Kurbjuweits Essay damals kommentiert (Ein Gutmensch erfindet den Wutbürger.; ZR vom 11. 10. 2010). Dort können Sie lesen, wie Kurbjuweit den Wutbürger kennzeichnet:
Der Wutbürger buht, schreit, hasst. (...) Der Wutbürger hat das Gefühl, Mehrheit zu sein und die Lage besser beurteilen zu können als die Politik. Er macht sich zur letzten Instanz und hebelt dabei das gesamte System aus. (...) Er bindet, verpflichtet sich nicht, sondern macht sein Ding. Was wird aus meinem Land, ist eine Frage, die sich Bürger stellen. Was wird aus mir, ist die Frage, die sich Wutbürger stellen.
Eine Schimpftirade ist dieser Essay von Kurbjuweit. Er handelt nicht vom Bürger, der mehr Mitsprache wünscht, sondern von einem kleinbürgerlichen Mob, der nur sein eigenes, egoistisches Interesse im Auge hat.

Daß eine Gesellschaft, die sich der Pflege der deutschen Sprache widmet, sich den sprachlichen Mißgriff leistet, dieses Wort zum "Wort des Jahres" zu erheben und dabei seine negative Konnotation, seinen vom Autor Kurbjuweit ausdrücklich intendierten abwertenden Charakter zu ignorieren, das erweckt ... nein, nicht Wut, aber doch eine erhebliche Verwunderung.



Kennzeichnen könnte man diese herabsetzende Bezeichnung für Menschen, die sich Sorgen um unser Land und seine Zukunft machen, als eines jener "Wörter aus der öffentlichen Sprache, die sachlich grob unangemessen sind und möglicherweise sogar die Menschenwürde verletzen".

Das allerdings ist nicht die Definition für das Wort des Jahres, sondern für das Unwort des Jahres. Was es damit auf sich hat und wer diese Bezeichnung verleiht - gerade nicht die "Gesellschaft für deutsche Sprache" -, das habe ich vor knapp einem Jahr beschrieben (Das "Unwort des Jahres" - politische Agitation unter dem Deckmantel der Sprachkritik; ZR vom 18. 1. 2010).

Ich nominiere hiermit "Wutbürger" als Unwort des Jahres 2010. Die Jury ist eine andere als die für das Wort des Jahres. Sie kann durch ihre Entscheidung das korrigieren, was diese andere verbockt hat. Das wäre eine schöne, ein mutige, ja eine unerhörte Geste.

Nein, ich scherze natürlich. Das Unwort des Jahres 2010 wird nicht "Wutbürger" sein. Aber vielleicht wird es ja eines der Wörter, die in Zettels kleinem Zimmer vorgeschlagen wurden, von C., von Gorgasal und von Calimero. Auf weitere Nominierungen bin ich gespannt.



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