10. November 2010

Alice Schwarzer vs. Kristina Schröder. Die junge Konservative und die komische Alte. Deutschland im Umbruch













So hatte ich das nicht erwartet. So schnell hatte ich es nicht erwartet. Der Umbruch in Deutschland nimmt Fahrt auf; kräftiger, als ich es mir vorgestellt hatte.

Ich habe die Phase in der Geschichte der Bundesrepublik, von der ich meine, daß sie gegenwärtig zu Ende geht, mit dem Bild eines Mehltaus illustriert, der sich auf das Land gelegt hatte. (Die dritte Phase in der Geschichte der Bundesrepublik geht in diesen Tagen zu Ende. Eine These; ZR vom 14. 9. 2010 und Deutschland im Herbst. Deutschland paradox. Anmerkungen zur Lage der Nation; ZR vom 13. 10. 2010).

Mit der Wiedervereinigung hatte eine Epoche geistiger Stagnation begonnen, die durch die Herrschaft einer bestimmten Weltsicht geprägt gewesen war. Man hat sie gern mit dem Etikett "politisch korrekt" versehen; einem aus den USA importierten Begriff, der sich zunächst nur auf Sprachregelungen bezogen hatte, der dann aber auf politische Tabus und Denkverbote übertragen worden war.

Diese Weltsicht ruhte auf drei Säulen: Dem Ökologismus, dem Multikulturalismus ("Multikulti") und dem Feminismus. Zusammen bildeten sie nicht nur einen in sich geschlossenen politisch-geistigen Ansatz, sondern sie boten - nein, sie verordneten - auch eine neue Moral.

Eine Moral, die wie jede Moral Gebote und Verbote umfaßte:
  • Die Umwelt wurde zum höchsten schützenswerten Gut erhoben; zunehmend wurde dabei ihr Schutz mit der Erhaltung des vorgeblich gefährdeten globalen Klimas identifiziert. Es entstanden an die Sprache der Religiosität angelehnte Begriffe wie "Umweltsünder" und "Klimaleugner".

  • Multikulti wurde als die Grundlage gesellschaftlichen Zusammenlebens verkündet und gelehrt. Im Inneren bedeutete das die Ablehnung der deutschen (und allgemein der abendländischen) Kultur als Leitkultur; sie sollte nur noch eine von - im Prinzip beliebig vielen - Kulturen sein, von denen man wollte, daß sie sich in Deutschland etablieren.

    Nach außen korrespondierte dieser die eigene Identität relativierenden Haltung die Forderung, Außenpolitik nicht im Dienst nationaler deutscher Interessen zu betreiben, sondern mit mindestens demselben Gewicht zum Vorteil anderer - der "Entwicklungsländer", der "Dritten Welt", der "Opfer der Globalisierung"; die Etikette wechselten im Lauf dieser zwanzig Jahre.

  • Multikulti als der gewünschte gesellschaftliche Zielzustand hatte auf der psychischen Ebene seine Entsprechung in dem Ziel des Feminismus, alle Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu beseitigen. Man betrachtete die psychischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen als Ergebnis einer (fehlgeleiteten) Erziehung zur Übernahme von "Gender"-Rollen.

    Mädchen sollten - das war das Ideal - so aggressiv werden wie heute Jungen; diese sollten am Spiel mit Puppen so viel Freude gewinnen wie bisher die Mädchen und in "Frauenberufe" streben; so wie man umgekehrt möglichst viele Frauen in "Männerberufen" sehen wollte.



  • So war es in diesen zwanzig Jahren.

    "War" es? werden Sie einwenden. So ist es doch immer noch.

    Ja, gewiß, das gesellschaftliche Klima kippt nicht von einem Tag auf den anderen.

    Der Umbruch, der das konservative Deutschland der Adenauerzeit in ein hedonistischea Land von nach "Selbstverwirklichung" Strebenden verwandelte, umfaßte die Jahre zwischen 1967 und den frühen Siebzigern.

    Der jetzige Mehltau legte sich in der ersten Hälfte der neunziger Jahre über das Land, als Helmut Kohls Koalition immer mehr ihre Kraft verlor und die Meinungsführerschaft in gesellschaftlichen Debatten auf Rotgrün überging; schon vor deren Sieg 1998.

    Solch ein Umbruch beginnt damit, daß bisherige Minderheiten sich lauter artikulieren und daß sie - auf einmal - gehört werden; daß ihre Meinungen und Haltungen gesellschaftliche Diskussionen auslösen. Daß ihre Ausgrenzung nicht mehr funktioniert.

    Die Ideen der "Studentenbewegung" und der APO hatte es auch vor 1967 schon gegeben; sie waren diejenigen von kleinen Grüppchen gewesen, die sich beispielsweise um die Zeitschrift "Konkret" geschart hatten; von einzelnen Intellektuellen wie Herbert Marcuse. Ebenso begannen später Ökos und Feministinnen als eigenbrödlerische Sekten, bevor es ihnen gelang, mit Macht in die Gesellschaft hineinzuwirken.

    Man darf also auch jetzt keinen plötzlichen Umbruch erwarten; zu achten ist auf die Anzeichen dafür, daß in Deutschland etwas in Bewegung geraten ist.



    Und diese Anzeichen mehren sich.

    Regelrecht befreiend war die Diskussion, die das Buch von Thilo Sarrazin auslöste (Links zu den Artikeln in ZR zu dieser Debatte finden Sie hier und hier sowie am Schluß der 5. Folge der Serie "Notizen zu Sarrazin").

    Zuerst schienen die üblichen Mechanismen zu funktionieren, mit denen man diejenigen zu bekämpfen pflegte, die sich der herrschenden Meinungsdominanz widersetzen - Verunglimpfung, Nazi-Vergleiche, das Fertigmachen in Sendungen von TV und Radio; das Herausdrängen des Ketzers aus seiner Partei und seiner beruflichen Position.

    Aber diesmal klappte das nicht nur nicht, sondern es gab einen gewaltigen backlash; ein Aufbegehren in der Bevölkerung gegen diese Bevormundung, durch das Sarrazin zum erfolgreichsten Autor einer politischen Analyse seit Bestehen der Bundesrepublik wurde. Es war eine Abstimmung in den Buchhandlungen, flankiert von einer Abstimmung durch die zahllosen Äußerungen von Bürgern in den Kommentarspalten des Internet.



    Nun also Kristina Schröder vs. Alice Schwarzer.

    Gestern habe ich auf zwei "Spiegel"-Gespräche in der aktuellen Ausgabe des Magazins aufmerksam gemacht, in denen zwei Liberalkonservative sich äußern konnten - Geert Wilders und eben die Ministerin Kristina Schröder ("Für mich bedeutet Konservatismus, die Realität zu akzeptieren". Anmerkungen zu zwei "Spiegel"-Gesprächen; ZR vom 9. 11. 2010). Beide attackierten jeweils eine der Säulen der herrschenden Meinung: Wilders Multikulti und Kristina Schröder den Feminismus.

    Ich habe gestern eine Passage aus diesem Gespräch zitiert, in dem sich Schröder ohne die bisher nachgerade rituellen Einschränkungen zum Konservatismus bekennt ("Für mich bedeutet Konservatismus, die Realität zu akzeptieren. Die Linken wollen die Menschen umerziehen. Wir erkennen an, dass es Unterschiede gibt, auch zwischen Mann und Frau"). Das ist schon erfrischend deutlich. Noch klarer äußert sich Schröder zum Feminismus in diesen Passagen:
    SPIEGEL: Wie finden Sie Alice Schwarzer?

    Schröder: Ich habe viel von ihr gelesen - "Der kleine Unterschied", später dann "Der große Unterschied" und "Die Antwort". Diese Bücher fand ich alle sehr pointiert und lesenswert. Etliche Thesen gingen mir dann aber doch zu weit: zum Beispiel, dass der heterosexuelle Geschlechtsverkehr kaum möglich sei ohne die Unterwerfung der Frau. Da kann ich nur sagen: Sorry, das ist falsch.

    SPIEGEL: Warum?

    Schröder: Es ist absurd, wenn etwas, das für die Menschheit und deren Fortbestand grundlegend ist, per se als Unterwerfung definiert wird. Das würde bedeuten, dass die Gesellschaft ohne die Unterwerfung der Frau nicht fortbestehen könnte. (...)

    SPIEGEL: Was glauben Sie: Hat der Feminismus die Frauen unterm Strich glücklicher gemacht?

    Schröder: Gute Frage. Ich glaube, dass zumindest der frühe Feminismus teilweise übersehen hat, dass Partnerschaft und Kinder Glück spenden. Es ist nicht der einzige Weg, aber es ist doch für sehr viele Menschen der wichtigste.
    Selbstverständlichkeiten, sollte man meinen. Aber Selbstverständlichkeiten, die auszusprechen noch vor wenigen Jahren die Journalistin Eva Herman zum Opfer einer Mobbing-Kampagne machte, in deren Verlauf sie ihre berufliche Existenz verlor.

    Und jetzt? Ich war gestern gespannt, ob man nun die Ministerin Schröder sarrazinieren würde; jedenfalls den Versuch dazu machen würde.

    Bisher ist etwas anderes passiert. Alice Schwarzer hat wie erwartet reagiert. Aber man hat nicht wie zu erwarten auf Alice Schwarzer reagiert.

    Wie in alten Zeiten legte Alice Schwarzer mit einem Offenen Brief los:
    Was immer die Motive der Kanzlerin gewesen sein mögen, ausgerechnet Sie zur Frauen- und Familienministerin zu ernennen – die Kompetenz und Empathie für Frauen kann es nicht gewesen sein. (...)

    Als erstes nehmen Sie sich den "frühen Feminismus" vor. Da haben Sie als Jahrgang 1977 zwar die Gnade der späten Geburt, aber nicht das Recht, Stammtisch-Parolen zu reproduzieren. (...)

    Inzwischen schreiben wir nämlich das Jahr 2010. Doch auch dazu reproduzieren Sie nichts als Klischees. (...)

    Ich halte Sie für einen hoffnungslosen Fall. Schlicht ungeeignet. Zumindest für diesen Posten. Vielleicht sollten Sie Presse-Sprecherin der neuen, alten so medienwirksam agierenden, rechtskonservativen Männerbünde und ihrer Sympathisanten werden.
    Noch vor ein paar Jahren wäre dies das Fanal zu Serien von Kommentaren gewesen, die Schwarzer Recht gegeben, die den Rücktritt der Ministerin gefordert hätten.

    Aber das ist nicht so; jedenfalls bisher nicht.

    Zwar funktionierten die Reflexe bei einigen Politikerinnern der Opposition. Renate Künast erkannte bei Schröder einen "angewandten Spaltungsirrsinn - was ein anderes Wort für Schizophrenie ist". Die SPD-Politikerin Manuela Schwesig vermeinte "Unsinn" gelesen zu haben. Laut der Kommunistin Katja Kipping ist Schröder "bar jeder Kenntnis".

    Aber solche schrillen Töne nützen ja nur dann, wenn sie ein Echo auslösen. Und daran fehlt es bisher.

    Die Reaktionen sind - gerade auch bei den üblichen Verdächtigen - erstaunlich verhalten.

    In "Spiegel-Online" attestierten Maria Marquart und Katharina Peters der Ministerin ein "ehrliches Interview"; sie sei "mit viel Leidenschaft tief ins Detail der Geschlechterdebatte" gegangen. Alice Schwarzer hingegen "zeigte einmal mehr, dass sie beim Einstecken reichlich zimperlich, aber beim Austeilen gnadenlos sein kann".

    Noch deutlicher wird Andrea Seibel in "Welt-Online". Unter der Überschrift "Schwarzers hässliche Kritik ist typisch deutsch" schreibt sie:
    ... es ist peinlich, mit welcher Gemeinheit Alice Schwarzer auf dieses Interview der jungen Frau im "Spiegel" reagiert. Peinlich ist dies, weil es die deutsche Hässlichkeit widerspiegelt, sei es bei Gorleben, Stuttgart21 oder eben dem Feminismus: diese Ausschließlichkeit, dieser tödliche Ernst, diese Gnadenlosigkeit dem Andersdenkenden gegenüber. (...) Nun hat sie [Schwarzer; Zettel] ihr hässliches Gesicht gezeigt. Sie hatte es offenbar die ganze Zeit.
    Nicht wahr, eine solche Unterstützung ihres Eintretens für Ehe und Familie hätte sich Eva Herman auch gewünscht.

    In der heutigen FAZ schreibt Christian Geyer:
    Schwarzer sieht sich ... als von vorgestern hingestellt und wittert eine Relativierung ihrer Deutungshoheit, was Frauen nutzt und was ihnen schadet. Anders sind Wut und Wucht nicht zu erklären, mit der sie auf die Ministerin losgeht.
    Aber zumindest die "Süddeutsche Zeitung", diese Bastion politischer Korrektheit, wird doch Schwarzer zur Seite springen? Lesen Sie, was Dorothea Grass auf sueddeutsche.de schreibt (Überschrift "Von Mädchen und Mimosen"):
    Es gilt die Macht der Verbal-Guillotine. Es zeigt sich, wie schlecht Deutschlands Vorzeigefeministin mit Kritik umgeht. (...) Alice Schwarzers Botschaft ist klar: Wenn hier jemand über die Emanzipation der Frau Bescheid weiß, dann sie. Wer das anzweifelt, ist unfähig. (...)

    Man kann über tiefe Dekolletés oder Frauenquoten in der Wirtschaft geteilter Meinung sein. Es untergräbt aber die Glaubwürdigkeit einer verdienten Feministin, wenn Kritik mit verbalem Guillotinieren gekontert wird. Manchen wird es so vorkommen, als sei die Diskussion um die Gleichstellung der Frau ein "Zickenkrieg".
    Peng! Dorothea Grass vergißt nicht, das Alter von Alice Schwarzer einzuflechten. Auch anderswo findet man diskrete Hinweise auf den Geburtsjahrgang Schwarzers (1942).

    "Du sublime au ridicule il n’y a qu’un pas", vom Erhabenen zum Lächerlichen sei es nicht mehr als einen Schritt, sagte Bonaparte zu seinem Gesandten in Warschau; und er meinte damit offenbar seine eigene Flucht aus Rußland nach dem gescheiterten Feldzug von 1812.

    Alice Schwarzer hatte in der Zeit, in der Mehltau über dem Land lag, den Status einer - wie immer wieder geschrieben wurde - "Ikone". Sie ist jetzt, so scheint es, mit dem heraufziehenden Ende dieser Phase auf dem Weg ins Rollenfach der komischen Alten.



    Die Kanzlerin erklärt unlängst Multikulti für "absolut gescheitert". Der Feminismus Schwarzer'scher Prägung ist auf dem Weg, sich lächerlich zu machen. Bleibt Öko.

    Bleibt Öko? Es wurde am vergangenen Wochenende zwar sehr viel Wind um die Aktionen von Störern in Gorleben gemacht. Die Leitmedien taten alles zur publizistischen Unterstützung. Aber hat das die Meinungsführerschaft gestärkt?

    Unter der Überschrift "Grüner Castor-Protest verschreckt Wähler der Mitte" konnte man am Montag in "Welt-Online" lesen, daß Schwarz-Gelb in der aktuellen Forsa-Umfrage leicht zugelegt hat und die Grünen leicht verloren haben:
    Die leichten Verluste für die Grünen begründete Forsa-Chef Manfred Güllner damit, dass der harte Kern der Grünen, der jetzt gegen den Castor demonstrierte, viele Wähler aus der Mitte verschreckt habe, die der Partei gerade zugelaufen sind. "Dadurch wird das Bild der soliden, seriösen, staatstragenden Partei unterminiert, das sich die neuen Wähler von den Grünen gemacht hatten."
    Mulitkulti ist nicht mehr das, was es einmal war. Der Feminismus ist nicht mehr das, was er einmal war. Wie lange der Ökowahn den jetzigen Umbruch überlebt, wird man sehen. The times they are a-changin'.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette Schröder: Bundestagsbüro Kristina Schröder; unter Creative Commons Attribution 2.0-Linzenz für Deutschland freigegeben. Titelvignette Schwarzer: Vom Autor Manfred Werner (Tsui) unter GNU Free Documentation-Lizenz, Version 1.2 oder späer freigegeben. Bearbeitet.