23. November 2010

Marginalie: Stratfor zum Hintergrund des nordkoreanischen Angriffs auf die Insel Yeonpyeongdo. Nebst einem aktuellen Nachtrag

Bei sicherheitspolitisch wichtigen Ereignissen verschickt das auf Sicherheitsanalysen spezialisierte Institut Stratfor einen sogenanntes Red Alert, einen "roten Alarm". Gerade habe ich den Hinweis auf eine solche Meldung zum nordkoreanischen Angriff auf die Insel Yeonpyeongdo bekommen. Sie können Sie hier lesen. Sie enthält einige interessante Details:
  • Die Insel liegt im Gelben Meer hart an der Demarkationslinie (Northern Limit Line, NLL), die von Nordkorea nicht anerkannt wird.

  • Kleinere Grenzgefechte an dieser Linie sind keine Seltenheit, auch mit Artillerie. Der jetzige Angriff - ein stundenlanger, offenbar noch andauernder Beschuß einer bewohnten Insel - hat aber eine andere Qualität.

  • Der Angriff findet vor dem Hintergrund des jährlichen südkoreanischen Manövers Hoguk statt, das gegenwärtig im Gang ist und das neun Tage dauern soll. Zum Manövergebiet gehört auch die jetzt beschossene Insel Yeonpyeongdo. An dem Manöver sind 70.000 Soldaten beteiligt; geübt wird vor allem die Zusammenarbeit zwischen einzelnen Teilen der Armee.

  • Die Beziehung zwischen Nord- und Südkorea ist derzeit widersprüchlich. Einerseits hat Nordkorea vor einigen Tagen die Existenz einer Anlage zur Anreicherung von Uran enthüllt, und es gibt Gerüchte über einen neuen Atombombentest. Als Reaktion darauf hat der südkoreanische Verteidigungsminister gestern gesagt, man erwäge es, die USA darum zu bitten, wieder taktische Atomwaffen in Südkorea zu stationieren.

  • Andererseits ist aber auch so etwas wie eine Entspannung im Gang. Für übermorgen sind Rot-Kreuz-Gespräche zwischen Delegationen beider Seiten über humanitäre Fragen vereinbart, und erst gestern hat Nordkorea die Liste der Delegierten an Südkorea übermittelt.

  • Stratfor hält es deshalb für möglich, daß der jetzige Angriff im Zusammenhang mit Unzufriedenheit im nordkoreanischen Militär über einen möglichen neuen Kurs nach dem Machtwechsel steht. Es könne sich auch um einen Kommunikationsfehler handeln; oder auch um den Ausdruck von Meinungsverschiedenheiten innerhalb der nordkoreanischen Führung.
  • Wenig genug an Informationen; aber immerhin doch ein wenig Hintergrund.

    Zur Zeit des Kalten Kriegs gab es den Beruf des "Kreml-Astrologen"; darauf spezialisiert, etwas über die Hintergründe des oft schwer nachvollziehbaren Handelns der sowjetischen Führung herauszufinden.

    Auch über das, was die Führung Nordkoreas motiviert, ist kaum mit Sicherheit zu urteilen. Man kann ja nicht beim dortigen Presse- und Informationsamt anrufen und um Aufklärung bitten.




    Nachtrag: Heute Abend um 18.55 Uhr MEZ hat Stratfor eine weitere Analyse veröffentlicht, in der gefragt wird, ob Nordkorea "wieder einmal eine Schmerzgrenze zu verschieben versucht".

    Es wird darauf hingewiesen, daß der Westen wiederholt eine Schmerzgrenze (red line) gezogen hatte, die Nordkorea nicht überschreiten dürfe. Es hat das dennoch getan, und außer Rhetorik ist nichts passiert. Die USA hatten als eine solche Schmerzgrenze einen nordkoreanischen Atomtest definiert; aber nach derartigen Tests 2006 und 2009 blieben harte Reaktionen aus. Ebenso blieb es nach der Versenkung des südkoreanischen Kriegsschiffs ChonAn bei Protesten.

    Stratfor meint, daß Nordkorea jetzt testet, wie weit es mit direkten Angriffen auf Landbasen der südkoreanischen Streitkräfte gehen kann. Erfolgt auch jetzt wieder nur Protest, aber kein militärischer Gegenschlag, dann könnte Nordkorea als nächsten Test eine der fünf südkoreanischen Inseln nah bei der Demarkationslinie erobern.

    Stratfor fragt, warum Südkorea alle Provokationen bisher passiv hingenommen hat:
    Is South Korea content to constantly redefine "acceptable" North Korean actions? Does South Korea see something in the North that we do not? (...) What is it that South Korea is afraid of in the North? North Korea gives an American a guided tour of a uranium enrichment facility, then fires across the NLL a couple of days after the news breaks. The South does not respond. It seems that South Korea is afraid of either real power or real weakness in the North, but we do not know which.

    Gibt sich Südkorea damit zufrieden, regelmäßig "akzeptierbare" Aktionen Nordkoreas neu zu definieren? Sieht Südkorea im Norden etwas, das wir nicht sehen? (...) Wovor im Norden hat Südkorea Angst? Nordkorea führt einen Amerikaner durch eine Einrichtung zur Anreicherung von Uran, dann schießt es ein paar Tage, nachdem das bekannt wurde, über die Demarkationslinie. Der Süden reagiert nicht. Es scheint, daß Südkorea Angst hat - entweder vor der realen Macht oder vor der realen Schwäche im Norden, aber ob das eine oder das andere, wissen wir nicht.
    In der Tat erinnert die Politik Nordkoreas an die Politik Hitlers, die zum Zweiten Weltkrieg führte: Er testete immer wieder, was der Westen noch hinzunehmen bereit war; bis er zu der Überzeugung gekommen war, daß England und Frankreich auch den deutsch-sowjetischen Überfall auf Polen tolerieren würden.

    Das war das eine Mal, wo er sich in der Einschätzung des Westens irrte. Mit den bekannten Folgen.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Ursprünglich publiziert am 23. 11. um 11.01 Uhr.