29. November 2010

Marginalie: Obamas Hilflosigkeit gegenüber WikiLeaks. Ein Kommentar nebst einer erfundenen Rede von George W. Bush

Der "Hausmitteilung" im aktuellen "Spiegel" (48/2010 vom 29. 11. 2010, S. 5) ist zu entnehmen, daß 50 Redakteure und Mitarbeiter "in den vergangenen fünf Monaten" das von WikiLeaks beschaffte Material gesichtet und ausgewertet haben. Weiter heißt es: "Die Redaktion hat - wie andere beteiligte Medien auch - unter anderem das Weiße Haus und das State Department, aber auch die amerikanische Botschaft in Berlin um Stellungnahmen gebeten".

Die US-Regierung war als seit Monaten darüber orientiert, was da kommen würde. Und was hat sie getan?

Außenministerin Clinton hat offenbar in den letzten Tagen herumtelefoniert, um diejenigen, die in den Berichten von US-Botschaften nicht so gut wegkamen, zu beruhigen.

Solche Anrufe erreichten Politiker in Deutschland, Saudi-Arabien, den Vereinigen Arabischen Emiraten, Frankreich und Afghanistan; so teilt es (in dieser Reihenfolge) der Sprecher des State Department P.J. Crowley mit.

Wo teilte er das mit, der Sprecher von Hillary Clinton? In seinem Twitter-Account!

Auch seien die Regierungen von Australien, Großbritannien, Kanada, Dänemark, Israel, Norwegen und andere wegen der Veröffentlichungen angesprochen worden, wird berichtet.

Sonst nichts. Keine Rede von Präsident Obama zu dem, was der mitbeteiligte "Spiegel" in seiner Internet-Ausgabe ein "Datendesaster" nennt. Kein Auftritt der Außenministerin vor der Presse.

Was hat Präsident Obama stattdessen heute mitteilen lassen? Daß die Bezüge der amerikanischen Regierungsbeamten eingefroren werden! Das war die Eilmeldung der New York Times, die den Abonnenten heute Nachmittag zugestellt wurde. Nichts über eine Reaktion des Weißen Hauses auf WikiLeaks.



WikiLeaks und die Presseorgane, die mit den Tätern kollaborieren, wollten die USA vorführen; man wollte sie demütigen, sie bloßstellen, auf diese Weise ihren Einfluß mindern. Daß dies offenbar über die Maßen gut gelingt, liegt nicht nur an den Tätern, sondern auch am Opfer.

Die US-Regierung, die monatelang Zeit gehabt hatte, sich auf die Veröffentlichung der gestohlenen Informationen vorzubereiten, wirkt wie in Schockstarre. Sie versucht es mit Erklärungen und Entschuldigungen per Telefon, statt öffentlich in die Offensive zu gehen.

So benimmt sich ein ertappter Sünder. So benimmt sich eine Großmacht nur dann, wenn sie in dieser Rolle im Grunde schon abgedankt hat. Wenn es noch Zweifel daran gab, daß Barack Obama kein "Kämpfer" ist (siehe Obama und die US-Linke; ZR vom 26. 11. 2010), dann dürften sie jetzt verschwunden sein.

Nicht nur in der US-Öffentlichkeit wirkt das hinein; sondern es wird natürlich von den Regierungen weltweit mit Aufmerksamkeit registriert. Wer eine kraftlose, beschwichtigende Reaktion zeigt, wenn er lediglich ein paar Kriminellen von Wikileaks und ihren Helfershelfern gegenübersteht - wie wird dieser Staatsmann, wie wird sein Land sich wohl verhalten, wenn die USA von einer wirklichen Macht ernsthaft bedroht werden?



Ich stelle mir vor, wie Präsident Bush sich in dieser Situation verhalten hätte. Hier ein kleines Szenario:

Nachdem die US-Regierung von dem Diebstahl der Dateien erfahren hat und hinreichend Material besitzt, um die Tat beweisen zu können (das wäre also vor etlichen Monaten gewesen), kündigt Präsident Bush eine außerplanmäßige Pressekonferenz an. CNN und die anderen Nachrichtensender berichten live; in Deutschland auch Phoenix.

Präsident Bush tritt vor die Washingtoner Journalisten und sagt:
Guten Morgen. Meine Regierung hat sichere Informationen, daß es einer Bande von Kriminellen gelungen ist, in unser Datensystem SIPRNet einzudringen und Berichte von US-Botschaften an die Regierung zu stehlen; und zwar zurück bis 1966.

Die amerikanische Regierung hat, seit sie hiervon informiert ist, die Zugangsbedingungen für dieses Netz so geändert, daß ein künftiger Diebstahl dieser Art nicht mehr möglich sein wird. Wir werden alles tun, um unsere Daten künftig besser zu schützen.

Zugleich haben wir alle erforderlichen Maßnahmen getroffen, um die Täter zu stellen und strafrechtlich zur Veranwortung zu ziehen. Wir stehen zur Zeit in Verhandlungen mit anderen Regierungen, um die Festnahme der Verantwortlichen für den Datendiebstahl auch außerhalb der USA zu erreichen, damit sie an die USA ausgeliefert oder in einem anderen Land vor Gericht gestellt werden können.

Die Regierung der Vereinigten Staaten hatte das SIPRNet in seiner jetzigen Form nach den Angriffen vom 11. September 2001 eingeführt, um den verantwortlichen Diplomaten und Offizieren eine umfassende Datenbasis für ihre Entscheidungen zur Verfügung zu stellen; so sollte Gefahren schon frühzeitig begegnet werden. Leider wurde diese Offenheit mißbraucht, und sie wird künftig nicht mehr möglich sein.

Ladies and Gentlemen, wie die Berichte jeder Botschaft der Welt enthalten auch diese jetzt gestohlenen Depeschen freimütige Einschätzungen von Personen und Vorgängen in einer offenen Sprache, wie man sie nur intern verwendet.

Jeder Staatsmann weiß, daß es in anderen Ländern solche kritischen Urteile über ihn gibt. Auch sein eigener diplomatischer Dienst liefert selbstverständlich derartige Berichte über mich und über andere Mitglieder der amerikanischen Regierung.

Presseorgane, die mit den Tätern kollaborieren, werden sich bemühen, aus diesem Material Sensationen zu stricken. Wir sind mit den betroffenen Regierungen im Kontakt und haben uns darauf verständigt, auf den Datendiebstahl mit Gelassenheit zu reagieren. An unserem freundschaftlichen Verhältnis zu diesen Ländern wird das kein Iota ändern.

Bleiben wir ruhig und machen wir unsere Arbeit. Thank you.
Gut, ein Redenschreiber von George W. Bush hätte vermutlich das eine oder andere weniger direkt formuliert; auch dieser Präsident mußte ja zum Beispiel auf die New York Times Rücksicht nehmen.

Aber ein solches offensives Vorgehen, längst bevor der "Spiegel" und Konsorten so weit waren, das Material publizieren zu können, hätte der Attacke gegen die USA die Spitze nehmen können.

Die Art, wie Barack Obama und Hillary Clinton erst in der Öffentlichkeit schwiegen und jetzt gleich ängstlichen Häschen in ihrer Grube sitzen, hoffend, daß die Raubvögel bald wieder abziehen, ist nicht nur unwürdig. Sie ist auch gefährlich.

Denn diese Reaktion signalisert von Teheran bis Pjönjang, von Moskau bis Peking der Welt einmal mehr, was von diesen Gegnern zu halten ist. Dem einstigen Sozialarbeiter Obama, der von einer Welt ohne Atomwaffen träumt, und der Ministerin, die sich als Senatorin für die Themen Gesundheit und Soziales interessiert hatte, aber nie für Außen- oder gar Militärpolitik.




Nachtrag um 22.40 Uhr: Inzwischen liegt das Transskript einer Pressekonferenz von Außenministerin Clinton von heute Nachmittag (Ortszeit) vor, in dem sie endlich einiges von dem sagt, was in meiner fiktiven Bush-Rede steht.

Der Präsident hält es offenbar noch immer nicht für nötig, selbst öffentlich Stellung zu nehmen.



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