27. November 2010

Marginalie: Verursacht das Endlager Asse Leukämie?

In der Umgebung des Endlagers Asse sind in den letzten Jahren mehr Fälle von Leukämie und Schilddrüsenkrebs aufgetreten, als es dem Durchschnitt entspricht. Der "Tagesspiegel" meldet dazu:
Am Donnerstagabend hatte ein NDR-Bericht die dort lebenden Menschen aufgeschreckt: Zwischen 2002 und 2009 sind in der Samtgemeinde Asse zwölf Männer und sechs Frauen an Leukämie erkrankt. Das ist eine signifikante Erhöhung vor allem bei Männern – ein Fall pro Jahr wäre statistisch zu erwarten gewesen. Frauen aus der Samtgemeinde bekamen zudem dreimal häufiger Schilddrüsenkrebs, als es der Statistik entspricht.
Diese Zahlen wurden inzwischen vom niedersächsischen Umweltministerium bestätigt.

Was besagen sie? Ohne weitere Daten besagen sie gar nichts. Denn natürlich gibt es überall in Deutschland Gemeinden, in denen es mehr derartige Krebsfälle gibt als im Durchschnitt, und ebenso gibt es viele Gemeinden, in denen es weniger Fälle gibt.

Daß die tatsächlichen Daten vom statistischen Erwartungswert - hier also 8 Erkrankungen in dem betreffenden Zeitraum - abweichen, ist nicht überraschend. Es ist die Regel.

Wenn, wie es in der Meldung heißt, "ein Fall pro Jahr statistisch zu erwarten" gewesen wäre, dann ist das sehr mißverständlich formuliert. Gemeint ist, daß der "Durchschnitt", also das arithmetische Mittel, bei einem Fall pro Jahr liegt. Das heißt durchaus nicht, daß dieser Wert besonders wahrscheinlich ist.

Nehmen Sie das Lebensalter. Der Altersdurchschnitt liegt in Deutschland bei 43 Jahren. Das ist das Alter, das "statistisch zu erwarten" ist. Aber es ist ja nun nicht der Fall, daß die meisten Deutschen 43 Jahre alt wären.

Niemand wundert sich darüber, auch auf einen 6jährigen oder eine 75jährige Deutsche zu treffen. Ebenso besteht zunächst kein Grund, sich darüber zu wundern, daß in den einzelnen Gemeinden Deutschlands einmal mehr und einmal weniger Leukämie-Fälle auftreten, als es dem Durchschnittswert von einem Fall pro Jahr entspricht. Die Werte streuen um diesen Erwartungswert; und auch starke Abweichungen sind normal.

Sie sind so normal, daß man eine Kurve, die solche Abweichungen für einen mathematischen Idealfall darstellt, als "Normalverteilung" bezeichnet. Näheres dazu finden Sie in in diesem Artikel, in dem ich das im Zusammenhang mit der Intelligenzforschung erläutert habe.



Die Abweichungen von einem Erwartungswert sind zu einem Teil "zufällig"; womit wir meinen, daß wir die Ursachen nicht kennen. Teils kann man sie auf bestimmte Faktoren zurückführen.

Die Ursachen von Leukämie sind weitgehend unbekannt. Als mögliche Faktoren, die eine Entstehung begünstigen könnten, werden Viren, genetische Belastung, bestimmte Chemikalien und ionisierende Strahlung diskutiert.

Wenn man sehr große Stichproben betrachtet, dann werden im allgemein alle solche Faktoren ähnlich wirken, und man erhält ähnliche Durchschnittswerte. Also ist beispielsweise zu erwarten, daß die Werte für die Häufigkeit von Leukämie im Vergleich zwischen den Bundesländern relativ nah beieinander liegen. Aber wenn man einzelne Gemeinden vergleicht - hier also die Samtgemeinde Asse mit dem Durchschnitt aller Gemeinden -, dann dann muß das keineswegs so sein.

Man kann sich das an dem bei Statistikern beliebten Beispiel von Muscheln am Strand klarmachen. Sagen wir, dort liegen 70 Prozent weiße und 30 Prozent schwarze Muscheln.

Wenn man einige hundert Muscheln zufällig aufhebt, wird man in seiner Stichprobe ungefähr diese Anteile von 7 zu 3 haben, immer wieder. Wenn man aber nur wenige Muscheln sammelt, dann kann es ganz anders aussehen. Niemand würde sich sonderlich wundern, wenn, sagen wir, unter 10 zufällig aufgehobenen Muscheln 7 schwarze wären.

Das wäre etwas mehr als das Doppelte des Erwartungswerts von 3; so wie die 18 Fälle von Leukämie in der Samtgemeinde Asse etwas mehr als das Doppelte des Erwartungswerts von 8 sind.



Gewiß wird eine solche statistische Beobachtung ein Anlaß sein, möglichen Ursachen nachzugehen. Die Vermutung, daß ein Zusammenhang mit dem Endlager bestehen könnte, ist ebenso stichhaltig wie die Vermutungen, daß die Alters- oder die Berufsstruktur in der betreffenden Gegend, daß genetische Faktoren oder anderes eine Rolle spielen.

Ob man das überhaupt herausfinden kann, ist ungewiß. Jedenfalls wird man sich die Daten genau ansehen müssen. Dazu muß man sich - soweit das möglich ist - die Krankengeschichten der Patienten ansehen. Dazu wird man die Radioaktivität an deren Wohnort und ihrer Arbeitsstätte messen müssen. Vielleicht ergeben sich dann Hinweise auf einen Zusammenhang, vielleicht nicht.

Aber wenn es um Nuklearenergie geht, dann wird selten genau hingesehen. Dann wird alles begierig aufgenommen und publiziert, was sich propagandistisch verwerten läßt.

Vor knapp drei Jahren, im Dezember 2007, gab es eine ähnliche Aufregung wie jetzt. Damals wurde behauptet, daß AKWs zu einer Häufung von Leukämie in ihrer Umgebung führen würden. Wie wenig wissenschaftlich fundiert das war, habe ich damals dargelegt (Verursachen AKWs Leukämie bei Kindern?; ZR vom 9. 12. 2007).

Und wenn Sie sich für die allgemeine Problematik interessieren, aus statistischen Korrelationen auf Ursachen zu schließen, dann mögen Sie vielleicht diesen Artikel lesen; über das seltsame Phänomen, daß derjenige, der als Junger das Altern besonders negativ sieht, dann, wenn er selbst alt geworden ist, von besonderen Krankheiten heimgesucht wird.

Rein statistisch gesehen.



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