21. November 2010

Die Grünen eine Volkspartei? Eine Klientel- und Gesinnungspartei! Fleisch vom Fleisch nicht nur der SPD, sondern auch der Liberalen

Heute Mittag geht die Bundes-Delegiertenkonferenz der Partei "Die Grünen" in Freiburg zu Ende. Ist es die "neue grüne Volkspartei" ("Spiegel-Online"), die da getagt hat? Ich bestreite das.

Die aktuellen Umfragen zeigen diese Partei allerdings in der Tat bei zwischen 20 und 23 Prozent.

Der FDP hingegen geben die Institute einhellig 5 Prozent. Bei den Bundestagswahlen im September 2009 erhielt die FDP 14,6 Prozent, und die Grünen kamen auf 10,7 Prozent.

Welch ein Wandel innerhalb von knapp 14 Monaten!

Welche Konstanz aber auch andererseits in diesem Zeitraum. Denn zusammen erreichen die Ökos und die Liberalen in den jetzigen Umfragen etwas über 25 Prozent. Bei den Wahlen 2009 waren es 25,3 Prozent.

Ja, gewiß: Änderungen in der Stärke der Parteien sind das Ergebnis vielfältiger Wählerwanderungen. Nicht alle, die der FDP von der Fahne gegangen sind, wollen jetzt die Grünen wählen. Nicht der gesamte Zulauf zu den Grünen kommt aus dem Reservoir der FDP.

Dennoch sind diese Zahlen ein Nachdenken wert. Denn keine deutsche Partei hat sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten so gewandelt wie die Grünen.

Als "Fleisch vom Fleisch der SPD" wurden die Grünen in den achtziger Jahren gern bezeichnet, als sie im Revier der Sozialdemokraten zu wildern begannen. Sie waren damals attraktiv für den jungen, zu Radikalität und Idealismus neigenden, wirtschaftlich noch nicht etablierten Teil der SPD-Wähler.

Jung und radikal sind die Grünen heute gewiß nicht mehr. Und wirtschaftlich etabliert sind sie wahrlich. Das Durchschnittseinkommen ihrer Wähler liegt längst über demjenigen der FDP-Wähler; und auch der Anteil der Spitzenverdiener ist höher als bei den Liberalen.

Erstaunlich ist diese Metamorphose von der Partei zottelbärtiger Weltverbesserer zu einer Partei des gehobenen Bürgertums nicht. Die Grünen sind eine Generationspartei. Der Wandel dieser Partei spiegelt die Biografie ihrer Anhänger wider, die als jugendliche Radikale begannen und die heute wohlsituierte Akademiker sind.

Das ist nichts Besonderes. Die älteste französische Partei heißt Parti Radical, begann als radikal linkssozialistisch und hat sich inzwischen der konservativen UMP von Präsident Sarkozy angeschlossen. In Holland ist die Partei Democraten 66, auch sie eine Generationspartei wie die Grünen, von einer überwiegend radikaldemokratischen zu einer eher sozialliberalen Partei geworden.



Eine "neue deutsche Volkspartei", wie auch der "Spiegel" der zurückliegenden Woche titelte, sind die Grünen also gerade nicht. Sie sind im Gegenteil eine klassische Gesinnungs- und zugleich eine Klientelpartei.

Ihre Klientel - das "progressive", überwiegend wohlhabende Bürgertum - teilen sie weitgehend mit der FDP. Nicht aber die Gesinnung.

Das macht die Spannung des Verhältnisses zwischen den beiden Parteien aus; und es erklärt - so habe ich jedenfalls im September zu begründen versucht - den jetzigen Swing von der FDP zu den Grünen (Noch nie hatte sich ein Jahr nach einer Wahl die Parteinlandschaft so grundlegend verändert wie jetzt. Versuch einer Erklärung; ZR vom 27. 9. 2010).

Im Krisenjahr 2009 hat man die FDP gewählt, weil man ihr eher zutraute, die Krise zu bewältigen. Im Aufschwungsjahr 2010 kann dasselbe "progressive" Bürgertum sich wieder mehr der Gesinnung zuwenden; dem Romantischen und auch einem gewissen Hedonismus, wie ihn die Grünen ja längst auch verkörpern - Claudia Roth statt Petra Kelly.

Gewiß spielen beim momentanen Aufschwung der Grünen auch andere Faktoren eine Rolle - der Atomstreit, Stuttgart21, auch ein Mitläufer-Effekt: Die Grünen sind gegenwärtig "angesagt", also ziehen sie Wechsler und Wankelmütige an (siehe das gestrige Interview des Deutschlandfunks mit dem Geschäftsführer von Emnid Klaus-Peter Schöppner).

Aber daß die FDP und die Grünen inzwischen weitgehend um dieselben Wähler konkurrieren, ist ein strukturelles Faktum unabhängig von solchen vorübergehenden Schwankungen der Wählergunst. Wie sollte die FDP darauf reagieren? Wie kann sie, die noch vor einem Jahr auf die kleinere Konkurrenzpartei hinabblicken durfte, wenigstens wieder in Augenhöhe mit den Grünen kommen?

In der nächsten Krise wird sie vermutlich wieder auf Augenhöhe sein, mindestens. Dann wird die Sorge um die eigene wirtschaftliche Existenz wieder größer sein als das Engagement für Eisbär und Atolle. Aber darauf zu warten ist natürlich keine Strategie.

Aus meiner Sicht sollte die FDP stärker als jetzt die Grünen als ihren Hauptgegner erkennen und sich entsprechend verhalten. Es ist ja nicht verboten, daß auch eine Regierungspartei eine Oppositionspartei attackiert.

So verführbar durch Ideologie viele Wähler der Grünen sind - dem Argument des Geldbeutels dürften auch sie sich nicht verschließen.

Die Bereitschaft, für den Klimaschutz finanzielle Einbußen hinzunehmen, ist recht begrenzt; das hat kürzlich auch eine experimentelle Untersuchung von Andreas Löschel und Mitarbeitern am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung gezeigt. Die immensen Kosten der grünen Pläne für den "Umstieg auf erneuerbare Energien" sind noch längst nicht im allgemeinen Bewußtsein angekommen (siehe meinen gestrigen Artikel "Grüne Zumutungen"; ZR vom 20. 11. 2010).

Andererseits herrscht in der Öffentlichkeit die Vorstellung, daß ohne diese exorbitanten Aufwendungen für "Klimaschutz" eine globale Katastrophe auf die Menschheit zukäme. Daß die Wahrscheinlichkeit für eine solche Entwicklung verschwindend gering ist und mit keinem Modell bisher überhaupt berechnet werden kann, ist kaum bekannt (siehe "Das Ausmaß des Klimawandels ist hochgradig unsicher"; ZR vom 18. 11. 2010). Eine Erwärmung wird gewisse Anpassungen verlangen; zum Beispiel die Erhöhung von Deichen. Mehr ist nicht zu erwarten.

Auch darauf sollte die FDP nachdrücklich aufmerksam machen. Wer anders unter den Parteien als die liberale Partei, die Partei der Vernunft also, sollte denn dafür eintreten, auch die Klimawissenschaft als eine Wissenschaft mit allen ihren Kontroversen und Irrtümern zu sehen; und nicht als die Verkünderin offenbarter Wahrheiten?

Und ein Zweites: Mit wem würden die Grünen eigentlich koalieren, wenn sie an die Regierungsmacht kämen? Mit der SPD natürlich und, falls numerisch erforderlich, auch mit den Kommunisten. In Hessen wollte sich eine beabsichtigte rotgrüne Regierung von den Kommunisten auf dem Weg einer förmlichen Vereinbarung tolerieren lassen; in NRW hängt eine solche Regierung jetzt faktisch von deren Wohlwollen ab. Einer Koalition mit der Union haben die Grünen gerade ausdrücklich eine Absage erteilt.

Wenn es zum Schwur kommt, dann sind die Grünen immer noch eine linke Partei; die Partei Ströbeles und Trittins. Diejenigen, die in ihr jetzt so etwas wie die modernere, die angesagtere FDP sehen, eine FDP mit mehr Chic und mehr Pep - diese Wähler sollten sich überlegen, daß sie mit einer Entscheidung für die Grünen sozusagen nicht nur ihren Darling heiraten würden, sondern auch die Verwandtschaft dazu - und was für eine. In ihrer Auseinandersetzung mit den Grünen sollte die FDP auch das in den Vordergrund stellen.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette von der Autorin Ingrid Strauch unter Creative Commons Attribution-Share Alike 2.5 Generic license freigegeben. Erheblich bearbeitet. Mit Dank an Juno.