11. November 2010

Aktuelles zum Krieg der Dschihadisten (10): Der Krieg ändert sein Gesicht. Ein absurder Prozeß in Guantánamo. Ein absurder Hightech-Krieg in der Wüste

Generale, sagt ein alter Satz, planen immer den Krieg von gestern. Nirgends ändert sich alles so schnell wie dort, wo es um Leben und Tod geht.

Das Bild vom Krieg, das viele Menschen haben, ist immer noch das von Armeen, die - nachdem ordnungsgemäß der Krieg erklärt wurde - in Länder einmarschieren, sich Schlachten liefern, Gebiete erobern oder verlieren. Bis am Ende die eine oder andere Partei siegt und man Frieden schließt.

Es ist demnächst ein Jahrhundert her, daß ein Krieg zuletzt im Großen und Ganzen derart verlief; der Erste Weltkrieg. Teilweise war auch der Zweite Weltkrieg noch solch ein Krieg; aber es traten doch schon andere Elemente in den Vordergrund: Der Überfall ohne vorausgehende Kriegserklärung, der Partisanenkrieg, Kriegführung gezielt gegen die Zivilbevölkerung. Ein Ende ohne formalen Friedensschluß.

Seither hat sich der Krieg immer weiter von der klassischen Form entfernt. Die Partisanenkriege, die in den Zweiten Weltkrieg schon einbezogen gewesen waren, überdauerten ihn und verselbständigten sich dabei lokal; in Europa nur in Griechenland, in Asien aber verbreitet - auf den Philippinen und im damaligen Malaya zum Beispiel, vor allem aber in Laos, Kambodscha und Vietnam. Und es gab den großen Guerrillakrieg in China, wo der Stratege Mao die Theorie dazu entwickelt hatte, die sein Schüler, der Vietnamese Vo Nguyen Giap, später perfektionierte.

Es entstand damit nach dem Zweiten Weltkrieg das, was man heute den asymmetrischen Krieg nennt. Als der Begriff 1975 geprägt wurde, meinte er zunächst jeden Krieg, in dem die Kontrahenten über stark unterschiedliche Machtmittel verfügen. Heute wird er meist auf Kriege bezogen, in denen eine hochgerüstete reguläre Armee Truppen gegenübersteht, die irregulär kämpfen - je nach politischer Bewertung also als Aufständische (insurgents), Terroristen, Partisanen, Guerrilleros oder als Freiheitskämpfer. "Irreguläre Kämpfer" ist die vermutlich beste neutrale Bezeichnung für sie.

Es ist nicht übertrieben, festzustellen, daß heute "der Krieg" ein asymmetrischer Krieg ist. Überwiegend noch klassisch geführte Kriege wie der Falklandkrieg von 1982 oder der ungleich längere und blutigere iranisch-irakische Krieg von 1980 bis 1988 sind zu Ausnahmen geworden. Der Irakkrieg von 2003 begann als klassischer Krieg, ging dann aber in einen asymmetrischen Krieg über.

Diese Entwicklung hat tiefgreifende Konsequenzen nicht nur für die Strategie, sondern auch für Kriegstechnik und Kriegsrecht. Zwei Beispiele aus den letzten Tagen, die das illustrieren, sind der Anlaß für diesen Artikel. Auf ganz unterschiedliche Weise zeigt jedes von ihnen die absurden Implikationen dieser Art von Krieg.



Welchen rechtlichen Status haben eigentlich diese Truppen, die als Aufständische, Guerrilleros, Terroristen, Freiheitskämpfer usw. bezeichnet werden? Gar keinen. Es gibt schlechterdings kein Kriegsvölkerrecht, das ihren Status definieren würde. (Zum Folgenden siehe auch Terroristen, Verbrecher, Kombattanten. Der Prozeß gegen Khalid Sheikh Mohammed und andere könnte zu einem Fiasko für die USA werden; ZR vom 22. 11. 2010).

Die Dritte Genfer Konvention vom 12. August 1949 legt lediglich in Artikel 4, Absatz 2 fest, wer außer regulären Soldaten bei Gefangennahme den Status eines Kriegsgefangenen mit den entsprechenden Rechten beanspruchen kann:
Angehörige anderer Milizen und Freiwilligenkorps, einschliesslich solcher von organisierten Widerstandsbewegungen, die zu einer am Konflikt beteiligten Partei gehören und ausserhalb oder innerhalb ihres eigenen Gebietes auch wenn dasselbe besetzt ist, tätig sind, sofern diese Milizen oder Freiwilligenkorps, einschliesslich der organisierten Widerstandsbewegungen:
a. an ihrer Spitze eine für ihre Untergebenen verantwortliche Person haben;

b. ein bleibendes und von weitem erkennbares Zeichen tragen;

c. die Waffen offen tragen;

d. bei ihren Operationen die Gesetze und Gebräuche des Krieges einhalten
Aus heutiger Sicht klingt das nachgerade rührend naiv. Mit Ausnahme des ersten Punkts wird keine dieser Anforderungen von den modernen irregulären Kämpfern erfüllt.

Die Kämpfer des Viet Cong einst, die der Kaida und der Taliban heute vermeiden es im Gegenteil, sich zu erkennen zu geben; gar durch ein "bleibendes und von weitem erkennbares Zeichen", also mindestens eine Fahne, Armbinden oder dergleichen. Sie tragen ihre Waffen, wenn irgend möglich, nicht offen, sondern suchen sie zu verstecken, bis sie zum Einsatz kommen. Und von der Einhaltung der Gesetze und Gebräuche des Kriegs kann natürlich erst recht keine Rede sein.

Die Vorstellung, daß ein Kämpfer der Kaida mit einer "Kaida"-Armbinde angetan und mit seiner als Waffe sichtbaren Bombe durch Bagdad spaziert, um den Vorschriften der Genfer Konvention zu genügen, hat etwas von schwarzem Humor an sich; ganz abgesehen davon, daß bereits das Bomben gegen Zivilisten als solches das Kriegsrecht verletzt.

Solche Kämpfer sind damit nicht nur irregulär, sondern es sind zugleich gesetzlose Kämpfer (unlawful combatants). Für diese gelten, wenn sie gefangengenommen werden, zwar auch gewisse humanitäre Rechte, aber grundsätzlich steht es dem Staat, in dessen Gewahrsam sie sich befinden, frei, sie festzuhalten oder nach den jeweils geltenden Gesetzen - die zu erlassen er ebenfalls jede Freiheit hat - zu verurteilen, sofern seine Sicherheit das gebietet.

Nun zu dem aktuellen Fall, den ich Fox News vom 25. Oktober entnehme; die weitere Entwicklung des Prozesses ist in der Wikipedia nachzulesen:

Vor Gericht in Guantánamo - ja, dieses Lager ist, entgegen Obamas Versprechungen, nicht nur nicht aufgelöst, sondern dort tagen auch weiter die Militärgerichte - stand ein Gefangener namens Omar Khadr.

Khadr war des Begehens von Kriegsverbrechen angeklagt. Um eine Verurteilung wegen dieses Delikts zu vermeiden (dafür hätte er wahrscheinlich lebenslänglich bekommen), hat er eine der in US-Strafprozessen üblichen Vereinbarungen (deals) mit Staatsanwaltschaft und Gericht getroffen: Er bekannte sich des Mordes und weiterer Delikte schuldig. Dafür wurde ihm eine mildere Strafe zugesichert. Als der Artikel von Fox News erschien, war deren Höhe noch nicht bekannt. Inzwischen, am 29. Oktober, ist er zu acht Jahren Haft verurteilt worden, getreu der Vereinbarung.

Wofür? Folgendes hatte sich zugetragen:

Omar Khadr (damals erst 15 Jahre alt, aber als Sohn eines Kaida-Kämpfers schon in der Truppe) hielt sich 2002 in einem Feldlager der Kaida in Afghanistan auf, als die Invasion der US-Truppen stattfand.

Das Lager wurde von amerikanischen Soldaten angegriffen, und Khadr verteidigte es zusammen mit seinen Mitkämpfern. Dabei fiel von seiner Hand einer der Angreifer, der Sergeant Christopher Speer aus Albuquerque.

Ich habe "fiel von seiner Hand" geschrieben, um deutlich zu machen, daß es sich um einen der Todesfälle handelte, wie sie bei einem solchen Gefecht nun einmal vorkommen. Omar Khadr hat das getan, was jeder Soldat in einer solchen Situation tun soll, ja was zu tun er verpflichtet ist: Er hat das Lager verteidigt.

Dafür wurde er jetzt verurteilt. Denn er war eben kein Soldat und, da er nicht durch ein sichtbares Abzeichen als Milizionär ausgewiesen war, auch kein legaler irregulärer Kämpfer. Er war juristisch ein Zivilist; und als solcher hatte er einen Mord begangen.

Wäre Khadr feige gewesen und hätte sich geduckt, statt auf die Angreifer zu schießen, dann hätte man ihn nicht als Mörder verurteilen können. Er hatte aber als junger Kämpfer ("Kindersoldat" wurde er genannt) seine Pflicht getan. Dafür muß er jetzt ins Gefängnis; und ohne den deal wäre es lebenslänglich geworden.

Und er hatte das Pech, daß man ihm nachweisen konnte, gerade diesen Sergeanten Speer getötet zu haben. Meist kann man in einem Gefecht ja nicht im Nachhinein ermitteln, wer wen auf der anderen Seite getötet hat. Und: Nicht daß er bei der Kaida war und kämpfte, war sein Verbrechen, sondern daß er gut kämpfte.

So absurd ist dieser asymmetrische Krieg.



Die zweite Absurdität, die ich als aktuelles Beispiel nennen möchte, liegt auf einer ganz anderen Ebene; der technischen.

Es geht hier auch nicht um den Dschihad gegen den Westen, sondern um schiitische Islamisten, die im Nordjemen einen lokalen Kleinkrieg gegen die Regierung führen; diese ihrerseits wird von Saudi-Arabien unterstützt.

Bei den Aufständischen handelt es sich - David Ignatius berichtet darüber in seiner heutigen Kolumne in der Washington Post - um einen kleinen Stamm, angeführt von der Familie Houthi und deshalb die Houthis genannt; Schiiten in einem sunnitischen Umfeld, folglich unterdrückt und also rebellisch.

Vor diesem Hintergrund veranstalten die Houthis seit 2004 einen Kleinkrieg gegen die Regierung des Jemen. Und in diesen hat nun Saudi-Arabien eingegriffen; vorgeblich, weil die Houthis auch auf saudisches Territorium vorgedrungen seien. Heraus kam ein absurd asymmetrischer Krieg.

Die saudischen Flugzeuge hatten nämlich Probleme, Houthis aufzuspüren und zu treffen. Also wandten sie sich im vergangenen November an die USA mit der Bitte, ihnen mit Aufklärungsfotos von Satelliten zu helfen. General David Petraeus, damals noch der dortige Oberkommandierende, war einverstanden; aber die Regierung Obama lehnte ab, weil sie in solcher Hilfe eine Verletzung des Kriegsrechts erblickte.

Also wandten sich die Saudis - an wen wohl? An Frankreich. Frankreich nämlich hat ein eigenes System von militärischen Aufklärungssatelliten. Am 17. November vergangenen Jahres war Nicolas Sarkozy zu Besuch in der saudischen Hauptstadt Riyadh; und schon in der Nacht nach seiner Ankunft begannen die französischen Aufklärungsfotos auf den Bildschirmen der saudischen Militärs zu flimmern.

Damit konnte man die Familie Houthi erfolgreich angreifen; mit so vernichtendem Erfolg, daß sie kapitulierte. Der Aufstand ist inzwischen niedergeschlagen.

Was die Saudis angeht, sind sie jetzt kriegstechnisch auf den Geschmack gekommen. An Geld mangelt es ihnen ja nicht, und dafür wollen sie jetzt ein eigenes System von Aufklärungssatelliten schaffen. Und dazu auch gleich noch Drohnen einkaufen.

So daß künftig also, wenn wieder einmal in den Bergen des Nordjemen eine Großfamilie den Aufstand wagen und ihre Flinten schwingen sollte, ihr vollautomatisch mit der geballten Kraft von Hightech begegnet werden wird. Aus dem Erdorbit mit Daten gefüttert, von Computern gesteuert macht sich dann eine Flottille von unbemannten Flugkörpern auf, einen Familienclan zu besiegen.

Der asymmetrische Krieg, auf seine absurde Spitze getrieben.



Bisherige Folgen dieser Serie:
  • 1. Ist Umar Farouk Abdul Mutallab ein Krimineller? Nebst einer Erinnerung an den Fall Khalid Sheik Mohammed
  • 2. Die Kaida und ihr Umfeld im Jahr 2010. Neue organisatorische Strukturen, neue Taktik
  • 3. Vier Reden und ein Sinneswandel. Setzt Präsident Obama jetzt endlich die Politik von George W. Bush fort?
  • 4. Wie Syrien die Kaida unterstützt und wie die Regierung der USA darauf reagiert
  • 5. Statt Gefangennahme gezielte Tötungen. Wie sich der Kampf gegen die Dschihadisten unter Präsident Obama verändert hat
  • 6. Darf die Bundeswehr in Afghanistan die Taliban angreifen? Eine Scheindebatte
  • 7. Sterben für Kabul? Wir werden jede Entscheidung bereuen
  • 8. Die Strategie gegen die Kaida im Irak
  • 9. Eine pessimistische Beurteilung von George Friedman



  • © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: NSF. Als Werk der US-Regierung in der Public Domain.