9. Januar 2010

Aktuelles zum Krieg der Dschihadisten (2): Die Kaida und ihr Umfeld im Jahr 2010. Neue organisatorische Strukturen, neue Taktik

Als El Kaida mit den Anschlägen vom 11. September 2001 schlagartig ins Licht der Öffentlichkeit trat, war sie eine straff geführte Organisation mit ihrem Hauptquartier und ihren Ausbildungslagern im Afghanistan des Taliban- Führers Mohammed Omar.

Davon ist gegenwärtig kaum etwas geblieben. Dennoch sind die Kaida und ihr Umfeld heute nicht weniger gefährlich als damals.

Organisationsformen und Formen des Kampfs haben sich gewandelt. Wie, das hat am Mittwoch Scott Stewart in dem auf Geheimdienste und Sicherheitspolitik spezialisierten Informationsdienst Stratfor beschrieben. Titel: "Jihadism in 2010: The Threat Continues"; Dschihadismus 2010: Die Bedrohung besteht weiter. Ich folge im wesentlichen seiner Argumentation, ergänze sie aber durch eigene Informationen und Überlegungen.

Um die heutige Kaida - die wichtigsten Fakten über sie findet man hier - zu verstehen, muß man zunächst einmal sehen, daß die monolithische Organisation, welche die Anschläge vom 11. September organisiert und ausgeführt hat, durch die Operation Enduring Freedom im Jahr 2002 zerschlagen wurde.

Die Kaida hatte von 1991 bis 1996 ihr Hauptquartier im Sudan gehabt. Dann zog man nach Afghanistan um. Seit 2002 gibt es kein Hauptquartier mit angeschlossenen Ausbildungslagern mehr.

Die Spitzenleute flüchteten nach Pakistan; in das schwer zugängliche Grenzgebiet, in dem sie sich sehr wahrscheinlich auch heute noch aufhalten.

Nach der Invasion des Irak im Frühjahr 2003 machten sich viele der verbliebenen Kämpfer in dieses Land auf. Der Iran erlaubte ihnen den Transit.

Das Ziel dieser Verlagerung der Aktivitäten in den Irak war es nicht nur gewesen dort gegen die USA zu kämpfen und den Aufbau eines demokratischen Staatswesens zu verhindern. Vielmehr sollten im Irak wieder Stützpunkte der Kaida entstehen, wie man sie in Afghanistan vor 2002 gehabt hatte.

Ins Auge gefaßt wurde zunächst vor allem die überwiegend von sunnitischen Nomaden bewohnte Provinz Anbar. Dort wurde am 15. Oktober 2006 der "Islamische Staat Irak" ausgerufen. Die Provinz stand in der Tat zeitweilig faktisch unter der Herrschaft der Kaida.

Aber schon im Januar 2007 begann der Kaida die Kontrolle über die Beduinenstämme zu entgleiten; siehe Ketzereien zum Irak (6): Reporter "vor Ort" und was sie berichten; ZR vom 15. 1. 2007. Ein halbes Jahr später war ihre Herrschaft über die Provinz Anbar zu Ende, und der "Islamische Staat Iraq" verschwand in der Versenkung; dazu Ketzereien zum Irak (13): Aktuelles zum Kampf gegen die El Kaida; ZR vom 20. 6. 2007.

Heute, nach dem Erfolg des Surge und der Festigung der irakischen Demokratie, spielt die Kaida im Irak kaum noch eine Rolle; auch wenn weiterhin einige Anschläge auf ihr Konto gehen dürften. Sie hat den Schwerpunkt ihrer Aktivitäten erneut verlagert; jetzt insbesondere in den Jemen und nach Somalien.



Seit 2002 hat es aber nicht nur diese geographischen Verlagerungen gegeben, sondern es hat sich auch die Struktur der Kaida gewandelt. Die alte Kaida ist heute nur noch der Kern einer viel breiteren dschihadistischen Bewegung. Scott Stewart unterscheidet drei Ebenen:
  • Den Kern bildet die alte Kaida unter der Leitung von Osama bin Laden und seines Stellvertreters Ayman al Sawahiri. Durch die Militäraktionen der ISAF in Afghanistan und der pakistanischen Armee auf der anderen Seite der Grenze ist diese Gruppe geschrumpft und in einen engen geographischen Bereich "eingepfropft" ("bottled up", schreibt Stewart). Sie spielt im operativen Bereich kaum noch eine Rolle, sondern hat die Funktion der ideologischen Vorhut, des Hüters der reinen Lehre übernommen.

  • Die zweite Ebene bilden dschihadistische Gruppen in zahlreichen Ländern, von denen viele sich ausdrücklich der Kaida angeschlossen haben. Stewart nennt sie "Franchisenehmer" der Kaida. Dazu gehören zum Beispiel Al Quaida in the Islamic Maghreb (AQIM) und Al Qaeda in the Arabian Peninsula (AQAP).

    Andere dschihadistische Gruppen folgen weitgehend der Ideologie der Kaida, haben sich aber aus verschiedenen Gründen ihr nicht formal unterstellt. Dazu gehören zum Beispiel Tehrik-i-Taliban Pakistan (TTP), Lashkar-e-Taiba (LeT) und Harkat-ul-Jihad e-Islami (HUJI). Einen umfassenden Überblick über diese Gruppen findet man bei GlobalSecurity.

  • Die dritte und breiteste Ebene bildet die "bodenständige dschihadistische Bewegung" (grassroots jihadist movement). Personen, die sich an der Kern- Kaida und/oder an lokalen Kaida- Organisationen orientieren, die mit diesen aber oft kaum Kontakt haben. Ein Beispiel ist der Psychiater in der US-Armee Nidal Hasan, der ein Blutbad unter seinen Kameraden anrichtete; siehe "Nidal Hassan ist ein Mann mit Gewissen"; ZR vom 10. 11. 2009.
  • Die operativen Möglichkeiten nehmen über diese drei Ebenen hinweg ab. Die Kerntruppe ist am besten ausgebildet; nur eben in ihren Möglichkeiten eingeschränkt, weil sie in ihren Verstecken festgenagelt ist. Am schlechtesten ausgebildet sind, wie man sich denken kann, die bodenständigen Dschihadisten. Viele von ihnen reisen (wie einst Murat Kurnaz) nach Pakistan oder (wie jetzt Umar Farouk Abdul Mutallab) in den Jemen, um sich zunächst einmal die erforderliche Ausbildung zu holen.



    Was ist für 2010 zu erwarten?

    Stratfor prognostiziert, daß die Kernorganisation der Kaida auch weiter im operativen Bereich keine Rolle spielen und ihre Bemühungen ganz darauf richten wird, wenigstens als ideologische Autorität anerkannt zu bleiben. Anschläge sind vor allem von der mittleren Ebene zu erwarten.

    Bei dieser zeichnet sich eine Tendenz ab, über ihre eigene Region hinaus zu attackieren. Beispiele sind das von der AQAP versuchte Attentat von Detroit und die Attacke auf den Karikaturisten Kurt Westergaard, hinter welcher der somalische Franchise- Partner der Kaida Al Shabaab steckte. Zuvor hatte schon die pakistanische Harkat-ul-Jihad e-Islami (HUJI) ein Attentat auf Westergaard geplant.

    Auch die "bodenständigen" Dschihadisten werden nach der Prognose von Stratfor zunehmend Anschläge versuchen. Sie werden dem Aufruf des Führers der AQAP Nasir al-Wahayshi folgen, "einfache Anschläge auf eine Vielzahl von Zielen" vorzunehmen. Vor allem auch auf "weiche Ziele" wie Hotels, die nicht lückenlos bewacht werden können. Auch weitere Anschläge auf Flugzeuge erwartet Stratfor.



    Wie der Krieg unterliegt auch der Terrorismus einem ständigen Wandel.

    Das Bild von der Kaida war lange Zeit durch die minutiös geplanten und mit großem organisatorischem Aufwand realisierten Anschläge des 11. September geprägt. Etwas derartiges ist angesichts der gegenwärtigen Organisationsstruktur der Kaida unwahrscheinlich geworden. Der Dschihadismus ist jetzt dezentral organisiert; er spezialisiert sich auf Anschläge, bei denen mit geringen Mitteln eine große psychologische Wirkung zu erzielen ist.

    Diese besteht, wie George Friedman in einem weiteren Artikel bei Stratfor schreibt, darin, "to create a sense of insecurity among a public"; in einer Gesellschaft ein Gefühl der Unsicherheit zu schaffen.

    Das kann durch einen spektakulären Anschlag wie am 11. September geschehen. Nicht weniger effektiv sind aber zahlreiche kleine Anschläge.

    Und nicht nur Unsicherheit soll erzeugt werden. Eine weitere Absicht der Dschihadisten sei es, meint Friedman, Feindseligkeit gegenüber Moslems zu schüren.

    Je mehr man im Westen auf solche Anschläge mit einer Ablehnung des Islam reagiert, umso mehr spielt man den Dschihadisten in die Hände, "strengthening al Qaeda’s argument to Muslims that they are in an unavoidable state of war with the rest of the world": Was das Argument der Kaida gegenüber Moslems stärkt, daß sie sich in einem unvermeidlichen Kriegszustand mit der übrigen Welt befinden.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: NSF. Als Werk der US-Regierung in der Public Domain.