17. November 2010

Zitat des Tages: "Lieber ausländische Intensivtäter als alte, passive Eingeborene". Zugleich eine Meckerecke

Natürlich ist es nicht schön, wenn Jugendliche – ob mit türkischem oder libanesischem Hintergrund – in den Straßen von Berlin Banden bilden, Reviere verteidigen und mit Messern hantieren. Aber hinter der Kritik an ihrem Verhalten verbirgt sich oft bloß der Neid derer, die Vitalität als Bedrohung empfinden, weil sich die eigene Mobilität auf den Wechsel vom Einfamilienreihenhaus in die Seniorenresidenz beschränkt. Lieber ein paar junge, ausländische Intensivtäter als ein Heer von alten, intensiv passiven Eingeborenen.

Malte Lehming gestern im Berliner "Tagesspiegel" in einem Artikel mit der Überschrift "Mentales Altersheim - Jugendbanden und Demographie".


Kommentar: Nach eigenen Angaben (2008) ist der "Tagesspiegel" die "meistzitierte Hauptstadtzeitung". Da will ich doch gern zur Festigung dieser Position beitragen, indem ich Malte Lehming zitiere. Zumal Lehming nicht irgendein Autor des "Tagesspiegel" ist, sondern der Chef des Meinungsressorts.

Ansonsten schreibe ich jetzt eher eine Meckerecke.

Was steht in dem Text, dem ich das Zitat entnommen habe? Malte Lehming schildert Deutschland als eine vergreisende Gesellschaft (dazu gleich mehr) und gerät dann nachgerade ins Schwärmen:
Eine solche Gesellschaft braucht vor allem junge, tatkräftige, durchsetzungsfähige, agile Menschen, um das psychologische Gesamtgefüge auszugleichen. (...) Zu Recht beklagen wir die Kriminalität vieler ausländischer Jugendgangs. Aber das Maß an Phantasie, Mut und Vitalität, was deren Mitglieder oft aufbringen, zeigt auch: In diesen Menschen steckt, im Gegensatz zu den mentalen Altersheimern, noch ein Wille, ein Drang. Das sollten wir zu würdigen lernen (...)
Ohne Kenntnis des Orts, an dem er publiziert wurde, würde ich bei diesem Text auf einen Ulk tippen; auf einen satirischen Beitrag in einer Schülerzeitung, einer Bierzeitung zum Abitur oder dergleichen.

Oder vielleicht auf den Text eines Karnevalisten, der als "Soziologiestudent" in die Bütt steigt (Sitzungspräsident: "Drause sted oiner, dää wo im väzzigsde Semesdä Sossioloschie studierd un immer noch bei soine Mamma wohnd - wollemern roilasse?").

Auf Anhieb ist allerdings nicht zu erkennen, daß Lehming mit diesem Artikel seine Leser auf den Arm nehmen möchte. Kann aber jemand, der sich nicht völlig aus der Realität verabschiedet hat, solche Sätze ernst meinen?

Kann Lehming wirklich vorschlagen, daß Deutschland sich mit Hilfe von kriminellen Ausländern seiner Vergreisung entgegenstemmen soll? Kann er allen Ernstes verwahrloste, gewaltbereite Jugendliche - Menschen, die an den Anforderungen eines geordneten Lebens gescheitert sind - so schildern wie einst die Nazis ihre jugendlichen Helden ("hart wie Kruppstahl, flink wie die Windhunde")?

Mit einem verherrlichenden Pathos, das selbst dann oberpeinlich wäre, wenn das Objekt der Lobpreisung nicht Gewaltbereite und Gewalttäter wären.

Ich fürchte, Lehming meint das ernst. Und habe dafür drei Indizien.



Zum einen ist dies nicht das erste Mal, daß Malte Lehming die Moslems zur Hoffnung Deutschlands verklärt. Ich habe mich bereits in zwei Artikeln mit diesem Autor befaßt; und in einem davon schlägt er - wenn auch weniger kitschig-pathetisch - dieselben Töne an wie jetzt (Die deutsche Bevölkerung schrumpft. Hilft Familienpolitik? Hilft Religiosität? Malte Lehming hat eine andere Idee; ZR vom 24. 1. 2010; den anderen Artikel zu Lehming finden Sie hier).

Damals wies Lehming, wie auch jetzt wieder, auf das Schrumpfen der deutschen Bevölkerung hin, und sodann auf den bekannten Zusammenhang zwischen Religiosität und Geburtenziffer. Dazu hatte er eine Idee:
Brauchen wir eine Rückkehr zur Religion? Nicht unbedingt. (...) Wer den Glauben an die Familienpolitik verloren hat, aber zum Glauben an Gott nicht zurückkehren will, kann auch für eine massive Einwanderung plädieren und für eine rasche Aufnahme der Türkei in die EU.
Das war eindeutig keine Satire; also wird es dem Autor auch mit dem jetzigen Artikel vermutlich ernst sein.

Zweitens stellt Lehming die heutigen ausländischen Jugendbanden in Deutschland in einen Zusammenhang, der vermuten läßt, daß ihm der Unterschied zwischen Fiktion und Realität noch nicht recht aufgegangen ist: Er zitiert ausgiebig und voller Begeisterung den Musical-Film "West Side Story":
Jugendbanden? Igitt! So tönt es voll Abscheu und Empörung just aus jenen bürgerlichen Wohnzimmern, wo das Video des Musicals "West Side Story" in keiner Sammlung fehlt und "Maria", "Tonight" und "America" in Originalsprache auswendig mitgesungen werden können. (... ) ... gerade das Wilde und Gesetzlose der beiden Gangs, plus der sich auf die Ethnie gründende Zusammenhalt ihrer Mitglieder, machen den Charme des Stückes aus.
Ja so! So wie die Jets und Sharks in dem Musical stellt sich Lehming offenbar die Banden von Türken und Libanesen vor, die in deutschen Städten ihr Wesen treiben. Es scheint, daß der Mann in einer Operettenwelt lebt.

Dann ist ja auch Mord aus Eifersucht etwas sehr Romantisches, siehe "Carmen" (oder Merimées ähnlich blutrünstige Geschichte "Colomba"). Die Pariser Zuhälter sind dann alle ganz reizende, schrullige Typen (Musical "Irma la douce"). Und Räuber sind teils liebenswert wie Wolfgang Neuss und Wolfgang Müller, teils edel wie Carlos Thompson. Das wissen wir aus dem "Wirtshaus im Spessart"; auch das ein Musical.



Das dritte Indiz ist, daß Lehming bei all seiner romantischen Vernarrtheit in "junge, tatkräftige, durchsetzungsfähige, agile Menschen" doch einen nüchternen Blick hat, wenn es um die demografische Situation Deutschlands geht.

Und in diesen Abschnitten liest sich sein Artikel wie eine Kurzfassung des Buchs von Thilo Sarrazin:
Demographisch, das weiß man, steht Deutschland vor dem Super-Gau. Es hat das dritthöchste Durchschnittsalter der Welt, eine der niedrigsten Geburtenraten, immer mehr Fachkräfte wandern aus (...) Wenn in absehbarer Zeit das Durchschnittsalter in Deutschland bei 50 Jahren liegt, sind die gesellschaftlichen Folgen gravierend.
In der Tat. Aber es kann alles gut werden, wenn wir
uns fragen, wie wir die positiven Eigenschaften der Jugendlichen trennen können von den negativen Zielen, auf die sie sich richten. Wenn Deutschland nicht einmal mehr Jugendbanden hat, ist alles zu spät.
Gemach, gemach. So schnell werden sie uns nicht verlorengehen, diese Jugendbanden. Und wenn die betreffenden Jugendlichen dann in die Sozialhilfe oder alternativ in die Kriminalität hineingewachsen sind, dann brauchen wir uns um Deutschland nicht mehr zu sorgen, meint Lehming offenbar.

Störend sind dann nur die "alten, intensiv passiven Eingeborenen".



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