7. November 2010

Deutsche in der Schweiz. Unüberbrückbare Mißverständnisse? Nein, nur eine gewisse Ungleichzeitigkeit. Eine Antwort an Manfred Messmer

Wenn ein großes und ein kleines Land benachbart sind, dann ist das Wissen voneinander meist sehr verschieden.

Die Schweizer wissen von uns Deutschen viel und interessieren sich für Informationen aus Deutschland; beispielsweise hat dieser Blog auch viele Leser in der Schweiz.

Umgekehrt ist es meist weitaus schlechter bestellt. So gut wie jeder Schweizer weiß vermutlich, wie die deutsche Kanzlerin heißt; viele kennen den deutschen Bundespräsidenten. Aber wissen Sie, sofern Sie nicht Schweizer sind, den Namen der Schweizer Bundespräsidentin? Es ist Doris Leuthard.

Und hat eigentlich die Schweiz als Regierungschef einen Kanzler, einen Premierminister oder einen Ministerpäsidenten? Keinen davon; denn die Schweiz kennt dieses Amt gar nicht. Alle Mitglieder der Regierung (des Bundesrats) sind gleichberechtigt. Den Vorsitz hat zwar der Bundespräsident, aber die Richtlinien der Politik bestimmt er nicht.

Ich wußte das nicht, bevor ich es eben nachgesehen habe; und ich vermute, daß mancher von Ihnen es auch nicht wußte.



Das ist nur eines von vielen Beispielen für die mangelnde Kenntnis, um nicht zu sagen die Ignoranz, die in Deutschland über die Demokratie in der Schweiz herrscht.

Ich habe mich deshalb gefreut, als vor knapp drei Jahren der kenntnisreiche Schweizer Journalist und Blogger Manfred Messmer (sehr empfehlenswert: sein Blog Arlesheim reloaded) in einem Gastbeitrag für ZR die Grundlagen und die Grundzüge der ganz besonderen, ganz eigenartigen Schweizer Variante der Demokratie dargelegt hat (Der Aufstieg des Christoph Blocher und sein Hintergrund. Ein Gastkommentar von Manfred Messmer; ZR vom 15. 12. 2007).

Jetzt bin ich wieder auf einen Beitrag von Manfred Messmer in einem deutschen Blog gestoßen; und zwar auf einen, der mir zu denken gegeben hat: "Deutsche in der Schweiz - (k)eine Polemik". (Sie finden den Artikel auch in Arlesheim reloaded).

Nein, eine Polemik ist das nicht. Eher so etwas wie ein leises Klagelied.

Mir ist es bei der Lektüre so gegangen wie im richtigen Leben, wenn mir jemand zu verstehen gibt, daß ich ihn oder sie verletzt habe, ohne daß ich das gemerkt hatte. Ach, so kann man das auch sehen? Ich bin betroffen, es tut mir leid. Und ich suche nach Ursachen.

Daß es viele Deutsche in die Schweiz zieht, vor allem beruflich Qualifizierte, ist mir nicht entgangen; ich hatte das selbst auch einmal erwogen.

Aber darin hatte ich bisher eine erfreuliche Chance gesehen - für die Betreffenden, aber auch für die Schweiz, die dadurch doch gut ausgebildete Arbeitskräfte erhält. Menschen, für deren Ausbildung der Schweizer Steuerzahler nichts hatte berappen müssen. Deutsche statt Inder - was kann sich ein in seinem größeren Teil deutschsprachiges Land Besseres wünschen?

Manfred Messmer entwirft ein anderes Bild. Gerade in der guten Qualifikation der deutschen Zuwanderer sieht er ein Problem:
Unsere Gesellschaft besteht, holzschnittartig skizziert, neu aus drei übereinander gelagerten Schichten.

Oben, in der Führungsebene und den kreativen Elitejobs im Mittelbau sind es inzwischen vor allem Nichtschweizer, die das Sagen haben. (...)

Im Mittelbau finden wir die Schweizer. Sie sorgen neben ihrem täglichen Job mit persönlichem Engagement in Politik, im Militär, in der Gemeinde, im Kanton, an der Urne dafür, dass es so bleibt und ist, weswegen die Schweiz im Ausland eine derart grosse Anziehungskraft geniesst. (...)

Den Unterbau bilden Ausländer (und Schweizer), die Mühe haben, gesellschaftlich und beruflich mitzuhalten und andere, die dank den Transferzahlungen von allen, plus Milizleistungen der Schweizer, ein akzeptables Sozialeinkommen beziehen – verglichen, sagen wir mit Deutschland, gar ein gut bemessenes Sozialeinkommen.
Was also Manfred Messmer - wenn ich ihn recht verstehe - beklagt, das ist eine Ungleichverteilung der Lasten:

Die eingesessenen Schweizer im Mittelbau schaffen und erhalten mit ihrem bürgerlichen Engagement das Land, das dadurch für Diejenigen in der oberen Etage so attraktiv ist ("Sie schätzen ... die noch immer liberalen Grundwerte, die Sicherheit, die guten Verdienstmöglichkeiten, die Ordnung, den sozialen Frieden"). Ebenso verdienen sie, die Angehörigen des Mittelbaus, das Geld, das Denen auf der unteren Ebene als Sozialtransfers zugute kommt.

Das ist sozusagen Messmers Blick aus der Vogelperspektive, der Blick auf die Gesellschaft als Ganzes. Er zoomt aber auch näher heran und schildert, wie Deutsche von Schweizern wahrgenommen werden:
Auch gut ausgebildete Schweizer stellen fest, dass sie in einer Gruppe, auch wenn sie die Mehrzahl bilden, sprachlich den deutschen Kollegen unterlegen sind. (...) Die reden perfekt drauflos, wollen aber einfach nicht kapieren, dass gerade gedankliche Umwege oftmals zu besseren Ergebnissen führen. Manchmal endet ein Erklärungsversuch im totalen, unüberbrückbaren Missverständnis.
In der Diskussion zu seinem Artikel erläutert der Autor das noch genauer:
Ich gebe ein Beispiel: Ein Schweizer sagt nie ja oder nein. Oder ein "Da bin ich nun aber völlig anderer Meinung", kommt einem Schweizer nie über die Lippen. Wenn er nicht einverstanden ist, dann sagt er: "Das ist eine interessante Idee, könnte man aber nicht auch ...". Seinem Gegenüber zu sagen: "Das ist doch vollkommener Quatsch, den Sie da erzählen", ruft höchste Empörung hervor.



Wie gesagt: Ich war überrascht, als ich das gelesen habe. So hatte ich das nicht gesehen. Aber jetzt, wo ich es las ...

Als ich es las, kam es mir sehr bekannt vor.

So, wie Manfred Messmer die Schweizer Wahrnehmung der Deutschen schildert, wurden vor hundert, vielleicht noch vor fünfzig Jahren die Berliner aus bayrischer Sicht wahrgenommen; ganze Serien von Lustspielen auf der Bühne und im Kino lebten davon ("IA in Oberbayern").

So nehmen deutsche Geschäftsleute, auch deutsche Wissenschaftler oft die Amerikaner wahr - die Amis reden Tacheles, sie sind von manchmal brutaler Offenheit, sie lassen den sensiblen Umgang mit dem Geschäftspartner, dem Kollegen vermissen.

Und so war es schon 1887, als Oscar Wilde die sehr lustige Geschichte vom Gespenst von Canterville publizierte, das - es handelt sich um den Geist des britisch-wohlerzogenen Sir Simon Canterville - auf die unbekümmmerte Direktheit der Familie von Hiram B. Otis aus New York trifft und an ihr verzweifelt.



Mein Bild vom Schweizer Bürgertum ist durch Dürrenmatt, Max Frisch und Adolf Musch geprägt; vor allem aber durch Fritz Zorns (bürgerlich: Federico Angst) autobiographisches Werk "Mars".

Fritz Zorn beschreibt eine Form des Umgangs miteinander, die sehr dem ähnelt, was Manfred Messmer darlegt: Nie eine direkte Äußerung, die uneigentliche Rede als Prinzip der Kommunikation. Jeder Versuch des Icherzählers, das zu durchbrechen, wird mit einem "Das ist schwierig" abgewehrt.

So war das Schweizer Bürgertum, als Fritz Zorn 1976 an Krebs starb. So war das deutsche Bürgertum damals schon nicht mehr; aber es war ein halbes Jahrhundert zuvor so gewesen.

Heute hat sich in Deutschland - im Geschäftsleben, in der Wissenschaft - weitgehend die amerikanísche Direktheit im Umgang durchgesetzt. In der Schweiz vielleicht noch weniger. Da mag es eine gewisse Ungleichzeitigkeit geben. Ich vermute, das ist die Wurzel des Problems, das Manfred Messmer beschreibt.

Die Schweizer werden schon noch wie wir Deutschen werden, so wie wir Deutschen wie die Amerikaner geworden sind. Und dann wird es vorbei sein mit den vielen Deutschen in den Vorstandsetagen. Dann werden diejenigen Deutschen, die in die Schweiz einwandern, sich mehrheitlich mit einem Platz auf Messmers mittlerer Ebene begnügen müssen.

Und vielleicht - was gewiß nicht das Schlechteste wäre - werden sie ja dann den Bürgersinn entwickeln, den Messmer dieser Schicht zuschreibt. Kurz, sie werden sich assimilieren, wie es alle Einwanderer tun sollten.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Das Heidi und der Alm-Öhi. Zeichnung von Jessie Willcox Smith in der amerikanischen Ausgabe von "Heidi's Lehr- und Wanderjahre" (1871).