"Neun Schülerinnen erinnern sich, den BH 'unmittelbar' gesehen zu haben; fünf schreiben, sie hätten ihn durch das Unterhemd 'durchscheinen' sehen; sechs haben zwar das Umziehen bemerkt, aber gar keinen BH gesehen; und acht Mädchen können sich 'an keinen Vorfall' erinnern." Das war eines der Ergebnisse einer Untersuchung des Personalreferats der Stadt München an einer Münchener Schule.
Es ging um einen "Vorfall" in einem Klassenzimmer, über den die "Süddeutsche Zeitung" in ihrer Wochenendausgabe berichtete (SZ vom 30. 10. 2010; Überschrift: "Lehrerin unter Exhibitionismus-Verdacht - Nackt oder nicht nackt"):
Díe Lehrerin ist "mittleren Alters", also vielleicht vierzig Jahre alt. Sie ist demnach noch in der Zeit vor dem Heraufziehen der neuen Prüderie unserer Tage aufgewachsen; in einer Zeit also, in der in Deutschland noch nicht Mädchen und Frauen mit Kopftüchern und hochgeschlossenen, bis zum Boden reichenden Kleidern zum Straßenbild gehörten.
Ihr war warm, also hat sie den Pulli abgelegt, unter dem sie ja korrekt bekleidet war. Als sie den Top umgedreht hat, dürfte ihr der Gedanke, daß man dies mit der sexuellen Perversion des Exhibitionismus in Verbindung bringen könnte, ungefähr so fern gelegen haben wie die Idee, daß jemand es für eine religiöse Zeremonie zum Zweck des Regenmachens halten könnte.
Diese Lehrerin hatte sich noch nicht auf die Sexualisierung eingestellt, die mit jeder Prüderie einhergeht. Wenn fromme moslemische Männer ihre Frauen zwingen, ihr Haar vor anderen Männern zu verbergen, dann deswegen, weil für sie schon der Anblick weiblichen Haars sexualisiert ist. Wenn eine Personalbehörde bei einem Fall wie dem jetzigen Exhibitionismus wittert, dann kann das nur bedeuten, daß die Verantwortlichen bei einem so harmlosen Vorgang sogleich an Sexuelles denken. Niemand ist so mit Sexuellem beschäftigt wie der Prüde.
In der Viktorianischen Zeit war der weibliche Fuß sexualisiert und mußte deshalb dem Blick fremder Männer entzogen sein. "Ich hab ihr Knie gesehn, das durfte nie geschehn" sang man in den Zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Jetzt sind wir wieder so weit, daß einer Behörde dann, wenn für einige Sekunden des Umziehens der BH einer Lehrerin "unmittelbar" oder "durchscheinend" zu sehen ist, eine sexuelle Perversion einfällt.
Kulturelle Entwicklungen verlaufen selten monoton. Es geht nicht immer weiter in dieselbe Richtung, sondern irgendwann beginnt das Pendel zurückzuschwingen. Die Freizügigkeit der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts - sie waren auch so etwas wie ein Fin de Siècle, so wie die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts - geht offenkundig zu Ende.
Vielleicht war eine Korrektur nötig. Was aber Vorgänge wie derjenige in München zeigen, das ist keine Korrektur, sondern es ist ein katastrophaler Rückschritt.
Was sich abzeichnet, das ist eine Sexualisierung des Lebens, die weit über das hinausgeht, was sich in jenem vergangenen Fin de Siècle des 20. Jahrhunderts abspielte; die vor allem nicht eine freie und selbstbestimmte Sexualität zum Inhalt hat, sondern eine verdruckste, der Verdrängung anheimfallende, wieder von Schuldbewußtsein begleitete. Eine Sexualität, die sich damit wie zur Viktorianischen Zeit zur Ausübung von Herrschaft eignet.
Vermutlich hat sich keines der Mädchen irgend etwas Sexuelles dabei gedacht, als die Lehrerin ihren Top auf die richtige Seite drehte. Eine Schülerin hat (übrigens bei einem "Selbstbehauptungstraining" - so etwas bekommen heute elfjährige Mädchen!) gesagt "Unsere Lehrerin hat sich nackig ausgezogen"; es mag sie gewundert haben. Vielleicht trug es ja ein Kopftuch, dieses Mädchen, oder war sonstwie prüde erzogen worden. Von Exhibitionismus dürfte es nichts gewußt haben.
Das, was das Mädchen erwähnt hatte, verbreitete sich, und die Mühlen begannen zu mahlen. Eine "Zentrale Beschwerdestelle für sexuelle Belästigung" wurde tätig.
Damit ist der Vorfall rubriziert: Sexualität, Perversion. Folglich leitet man ein Disziplinarverfahren ein.
Also werden die Elfjährigen einer inquisitorischen Befragung unterzogen. Sie wissen nun, daß es um Sexualität geht, sie werden geradezu darauf gestoßen. Aus dem Bericht der "Süddeutschen Zeitung":
So erzieht man Menschen, die als Erwachsene mit ihrer Sexualität nicht zurechtkommen werden; so erzieht man Verklemmte. Vielleicht wird sich die Psychoanalyse bald wieder mit Fällen von Neurosen zu befassen haben, wie Freud und Breuer sie 1895 in den Studien über Hysterie beschrieben und wie sie in der freien Gesellschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend verschwunden waren.
Und wie ist die Sache ausgegangen? Das Disziplinarverfahren wurde nach einer zehn Monate dauernden Untersuchung eingestellt. Die Lehrerin räumte ein, eine "nicht akzeptable Grenzüberschreitung" begangen zu haben. Weiter berichtet die "Süddeutsche Zeitung":
Andere Lehrer werden es sich hinter die Ohren schreiben. Wer nicht will, daß es ihm geht wie der Kollegin "Koch", der benimmt sich am besten so, wie die Tugendwächter es wollen.
So sieht es offenbar auch Angelika Beyerle, die im Münchener Rathaus mit dem Fall befaßt war. Sie sei zufrieden, heißt es in dem Artikel: "Sie freue sich, sagt sie, dass sich die Lehrerin einsichtig gezeigt habe und so der erwünschte 'pädagogische Effekt' erzielt sei".
Es ging um einen "Vorfall" in einem Klassenzimmer, über den die "Süddeutsche Zeitung" in ihrer Wochenendausgabe berichtete (SZ vom 30. 10. 2010; Überschrift: "Lehrerin unter Exhibitionismus-Verdacht - Nackt oder nicht nackt"):
Marta Koch (Name geändert), eine Frau mittleren Alters, unterrichtet eine Fremdsprache an dieser Münchner Schule. Sie soll im Unterricht vor einer reinen Mädchenklasse ihren Pulli ausgezogen haben, es war ihr zu warm geworden. Darunter trug sie ein Top, das sie links herum anhatte. Als ihre Schülerinnen sie darauf aufmerksam machten, zog sie dieses schnell aus und richtig herum wieder an. War sie dabei nackt? War ihr BH zu sehen? Wenn ja: Direkt oder nur indirekt durch ein Unterhemd durchscheinend?Nein, dieser Bericht stammt nicht aus einem historischen Rückblick auf die Prüderie des Viktorianischen Zeitalters oder der Adenauerzeit. Der "Vorfall" trug sich im Jahr 2009 zu.
Díe Lehrerin ist "mittleren Alters", also vielleicht vierzig Jahre alt. Sie ist demnach noch in der Zeit vor dem Heraufziehen der neuen Prüderie unserer Tage aufgewachsen; in einer Zeit also, in der in Deutschland noch nicht Mädchen und Frauen mit Kopftüchern und hochgeschlossenen, bis zum Boden reichenden Kleidern zum Straßenbild gehörten.
Ihr war warm, also hat sie den Pulli abgelegt, unter dem sie ja korrekt bekleidet war. Als sie den Top umgedreht hat, dürfte ihr der Gedanke, daß man dies mit der sexuellen Perversion des Exhibitionismus in Verbindung bringen könnte, ungefähr so fern gelegen haben wie die Idee, daß jemand es für eine religiöse Zeremonie zum Zweck des Regenmachens halten könnte.
Diese Lehrerin hatte sich noch nicht auf die Sexualisierung eingestellt, die mit jeder Prüderie einhergeht. Wenn fromme moslemische Männer ihre Frauen zwingen, ihr Haar vor anderen Männern zu verbergen, dann deswegen, weil für sie schon der Anblick weiblichen Haars sexualisiert ist. Wenn eine Personalbehörde bei einem Fall wie dem jetzigen Exhibitionismus wittert, dann kann das nur bedeuten, daß die Verantwortlichen bei einem so harmlosen Vorgang sogleich an Sexuelles denken. Niemand ist so mit Sexuellem beschäftigt wie der Prüde.
In der Viktorianischen Zeit war der weibliche Fuß sexualisiert und mußte deshalb dem Blick fremder Männer entzogen sein. "Ich hab ihr Knie gesehn, das durfte nie geschehn" sang man in den Zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Jetzt sind wir wieder so weit, daß einer Behörde dann, wenn für einige Sekunden des Umziehens der BH einer Lehrerin "unmittelbar" oder "durchscheinend" zu sehen ist, eine sexuelle Perversion einfällt.
Kulturelle Entwicklungen verlaufen selten monoton. Es geht nicht immer weiter in dieselbe Richtung, sondern irgendwann beginnt das Pendel zurückzuschwingen. Die Freizügigkeit der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts - sie waren auch so etwas wie ein Fin de Siècle, so wie die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts - geht offenkundig zu Ende.
Vielleicht war eine Korrektur nötig. Was aber Vorgänge wie derjenige in München zeigen, das ist keine Korrektur, sondern es ist ein katastrophaler Rückschritt.
Was sich abzeichnet, das ist eine Sexualisierung des Lebens, die weit über das hinausgeht, was sich in jenem vergangenen Fin de Siècle des 20. Jahrhunderts abspielte; die vor allem nicht eine freie und selbstbestimmte Sexualität zum Inhalt hat, sondern eine verdruckste, der Verdrängung anheimfallende, wieder von Schuldbewußtsein begleitete. Eine Sexualität, die sich damit wie zur Viktorianischen Zeit zur Ausübung von Herrschaft eignet.
Vermutlich hat sich keines der Mädchen irgend etwas Sexuelles dabei gedacht, als die Lehrerin ihren Top auf die richtige Seite drehte. Eine Schülerin hat (übrigens bei einem "Selbstbehauptungstraining" - so etwas bekommen heute elfjährige Mädchen!) gesagt "Unsere Lehrerin hat sich nackig ausgezogen"; es mag sie gewundert haben. Vielleicht trug es ja ein Kopftuch, dieses Mädchen, oder war sonstwie prüde erzogen worden. Von Exhibitionismus dürfte es nichts gewußt haben.
Das, was das Mädchen erwähnt hatte, verbreitete sich, und die Mühlen begannen zu mahlen. Eine "Zentrale Beschwerdestelle für sexuelle Belästigung" wurde tätig.
Damit ist der Vorfall rubriziert: Sexualität, Perversion. Folglich leitet man ein Disziplinarverfahren ein.
Also werden die Elfjährigen einer inquisitorischen Befragung unterzogen. Sie wissen nun, daß es um Sexualität geht, sie werden geradezu darauf gestoßen. Aus dem Bericht der "Süddeutschen Zeitung":
Ermitteln will das Rathaus, indem es die elfjährigen Mädchen befragt. Im Mai wird das erste Kind samt Mutter ins Rathaus bestellt. Dort sitzt es einem "Ermittlungsführer" gegenüber, einem Schriftführer und dem Anwalt der Lehrerin, Gerd Tersteegen. Die Herrschaften wollen wissen, wie lange das Umziehen dauerte, ob der Pulli V-Ausschnitt hatte oder nicht, ob die Lehrerin alles ausgezogen habe oder nicht. Nach einer Stunde verlässt das Kind das Rathaus, weinend. Die weiteren Vernehmungen werden daraufhin abgesagt. Statt dessen schickt das Referat Fragebögen an alle Kinder, sie heißen "Anhörungsschreiben". Auf ihnen sollen sie das Beobachtete genau schildern.Abgespult wird also nachgerade ein Programm zur Anregung der sexuellen Phantasie der Kinder. Und zwar in einer Sichtweise, für die es bereits verbotene Sexualität ist, wenn man für ein paar Sekunden den BH einer Lehrerin sieht. Die Kinder werden sexualisiert, und zugleich wird ihnen beigebracht, daß Sexualität etwas Schlimmes ist.
So erzieht man Menschen, die als Erwachsene mit ihrer Sexualität nicht zurechtkommen werden; so erzieht man Verklemmte. Vielleicht wird sich die Psychoanalyse bald wieder mit Fällen von Neurosen zu befassen haben, wie Freud und Breuer sie 1895 in den Studien über Hysterie beschrieben und wie sie in der freien Gesellschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend verschwunden waren.
Und wie ist die Sache ausgegangen? Das Disziplinarverfahren wurde nach einer zehn Monate dauernden Untersuchung eingestellt. Die Lehrerin räumte ein, eine "nicht akzeptable Grenzüberschreitung" begangen zu haben. Weiter berichtet die "Süddeutsche Zeitung":
Einige Wochen lang war sie wegen psychischer Probleme krankgeschrieben. Der Vorwurf, sich unsittlich verhalten zu haben, das Wort vom Exhibitionismus, lastet schwer auf ihr. Dabei habe sie doch nichts Böses im Sinn gehabt. Immerhin, inzwischen fühlt sich Marta Koch "freigesprochen" durch die Einstellung: "Ich bin keine Exhibitionistin."Sie sagte auch noch: "Was mir angetan wurde, war furchtbar."
Andere Lehrer werden es sich hinter die Ohren schreiben. Wer nicht will, daß es ihm geht wie der Kollegin "Koch", der benimmt sich am besten so, wie die Tugendwächter es wollen.
So sieht es offenbar auch Angelika Beyerle, die im Münchener Rathaus mit dem Fall befaßt war. Sie sei zufrieden, heißt es in dem Artikel: "Sie freue sich, sagt sie, dass sich die Lehrerin einsichtig gezeigt habe und so der erwünschte 'pädagogische Effekt' erzielt sei".
© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Korsett zur Verhinderung der Onanie von Lajade-Lafont. Abbildung aus Albert Moll, Handbuch der Sexualwissenschaften, Verlag F.C. Vogel, Leipzig 1921, S. 627. Copyright erloschen.