16. November 2010

Notizen zu Sarrazin (7): Ein Porträt Sarrazins in der "New York Times". Sehr fair, nach deutschen Maßstäben. Aber leider mit schlimmen Schnitzern

In der New York Times (NYT) gibt es eine Serie "The saturday profile": Jeweils in der Samstagsausgabe wird eine Person im Porträt vorstellt. Am vergangenen Samstag (13. 11. 2010) war das Thilo Sarrazin.

Das Porträt schrieb Michael Slackman, der seit kurzem das Berliner Büro der NYT leitet. Ein Journalist, der zuvor aus Kairo über den Nahen Osten berichtete und der, wie man vermuten darf, jetzt dabei ist, sich in seine neue Aufgabe einzuarbeiten.

Das scheint ihm noch nicht ganz gelungen zu sein.

Sein Porträt von Sarrazin ist zwar weit entfernt von den unfairen, teils denunziatorischen Äußerungen in unseren deutschen Medien; siehe als jüngstes Beispiel die erfundene "Distanzierung Sarrazins von Sarrazin" (Distanziert sich Sarrazin jetzt von Sarrazin?; ZR vom 15. 11. 2010).

Insofern ist der Artikel erfreulich zu lesen. Auch zu Beginn der Sarrazin-Debatte hatte Slackman bereits bemerkenswert gelassen berichtet (siehe Leseempfehlungen zu Sarrazin; ZR vom 4. 9. 2010).

Aber Slackmans Sarrazin-Porträt enthält doch Schnitzer, die für einen Artikel in der für ihre Exaktheit berühmten NYT ungewöhnlich sind.

Es scheint, daß er sich ausschließlich auf ein Interview in Sarrazins Wohnung stützt und seine Behauptungen - vielleicht wegen fehlender Deutschkenntnisse - nicht anhand des Buchtexts verifiziert hat. (Jedenfalls in der New Yorker Redaktion hätte das bei einer Zeitung dieses Rangs aber eigentlich die Dokumentationsabteilung machen müssen).

Ich erwähne, daß das Interview in der Wohnung Sarrazins stattfand, weil Slackman diese beschreibt, und zwar auf eine interessante Weise:
His living room has lots of books on shelves, a few paintings and prints on the wall and a large flat-screen television. There are no personal touches, no family photographs, though he says his hobby is photography.

Sein Wohnzimmer enthält eine Menge Bücher in Regalen, ein paar Gemälde und Drucke an der Wand und einen großen Flachbild-Fernseher. Es gibt keine persönliche Note, keine Bilder von der Familie, obwohl er sagt, daß sein Hobby die Fotografie ist.
Das klingt leicht vorwurfsvoll. Jedenfalls deutet Slackman hier etwas an, das seinen ganzen Artikel durchzieht: Er sieht Sarrazin als einen kühlen, um nicht zu sagen eiskalten Intellektuellen.

Er ist mit ihm augenscheinlich bei seinem Besuch nicht warm geworden. Er schreibt nun seinerseits aus einer kühlen Distanz. Er kritisiert Sarrazin nicht, aber er macht doch auch keinen Hehl daraus, daß er mit diesem Mann nichts anfangen kann; daß ihm jedenfalls einige von dessen Thesen abwegig vorkommen.

Das liegt nun freilich möglicherweise auch daran, daß er sie in mindestens zwei Punkten falsch verstanden hat. Ob dafür nun sprachliche oder inhaltliche Mißverständnisse verantwortlich sind - jedenfalls schreibt Slackman dem Porträtierten Aussagen zu, die so nicht in seinem Buch zu finden sind und die er eigentlich auch im Gespräch so nicht gemacht haben kann, weil sie im Widerspruch zum Buch stehen.



Der erste Punkt betrifft die Zahl der Moslems in Deutschland. Zuverlässige offizielle Zahlen gibt es dazu nicht, denn der Mikrozensus erhebt nicht die Religionszugehörigkeit. Zu Sarrazins Schätzung schreibt Slackman:
In a population of about 82 million, there are about four million Muslims (a number he said he calculated partly by looking at census figures for families with lots of children. Big families must be Muslim, he concluded).

In einer Bevölkerung von 82 Millionen seien ungefähr vier Millionen Moslems (eine Zahl, die er nach seinen Angaben zum Teil ausgerechnet hat, indem er sich die Mikrozensus-Ziffern für Familien mit zahlreichen Kindern angesehen hat. Große Familien müssen Moslems sein, folgerte er).
Das wäre nun allerdings eine seltsame Rechnung. Große Familien "müssen" doch gewiß keine Moslems sein. Und aus der Kinderzahl die Zahl der Moslems zu "berechnen" (calculate) grenzt nun wahrlich ans Hexeneinmaleins.

Aber Sarrazin ist keineswegs so zu der Zahl von vier Millionen gekommen, zu der er nämlich überhaupt nicht gekommen ist. Er schreibt (S. 261f):
Laut Mikrozensus 2007 leben in Deutschland 15,4 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund. Davon entfallen (...) auf die Herkunftsgebiete Bosnien und Herzegowina, Türkei, Naher und Mittlerer Osten sowie Afrika 4,0 Millionen.
Diese, schreibt Sarrazin weiter, nenne er im folgenden muslimische Migranten, denn der Anteil der Nichtmoslems aus diesen Gebieten sei gering.

Mit der Kinderzahl hat also diese Zahl von vier Millionen überhaupt nichts zu tun. Sie ist die amtliche Zahl für die betreffenden Herkunftsländer. Im nächsten Schritt begründet Sarrazin, warum es nach seiner eigenen Schätzung aber mehr als vier Millionen Moslems in Deutschland gibt:
4,6 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund können im Mikrozensus wegen inkonsistenter oder fehlender Angaben nicht einer bestimmten regionalen Herkunft zugerechnet werden. Geht man davon aus, dass beim Mikrozensus die Quote der fehlerhaften oder fehlenden Angaben über alle Menschen mit Migrationshintergrund gleichmäßig streut, dann bedeutet dies, dass die Zahl der muslimischen Migranten tatsächlich um 43 Prozent höher ist, also bei rund 5,7 Millionen liegt.
Sarrazins Schätzung ist jetzt also schon deutlich höher, als Slackman ihm zuschreibt, und noch immer ist von der Kinderzahl nicht die Rede. Diese kommt in Sarrazins Überlegungen erst am Schluß ins Spiel, und zwar nur im Zusammenhang mit einer Vermutung:
Die sehr hohe Kinderzahl in dieser Gruppe deutet aber darauf hin, daß unter den Migranten mit fehlenden oder inkonsistenten Angaben Muslime überdurchschnittlich stark vertreten sind. Die Zahl der muslimischen Migranten in Deutschland könnte also auch 6 bis 7 Millionen betragen.
"Deutet darauf hin", "könnte auch". Sarrazin weiß sehr wohl zwischen einer begründeten Schätzung und einer solchen Vermutung zu unterscheiden. Seine eigene Schätzung basiert nicht auf der Kinderzahl; und sie beträgt auch nicht 4 Millionen, sondern 5,7 Millionen.



Slackmans zweiter Irrtum ist schwererwiegend: Er schreibt Sarrazin etwas zu, was ihn - hätte er das geschrieben - als Autor disqualifizieren würde:
Mr. Sarrazin believes that intelligence is inherited, not nurtured, and since Muslims are less intelligent (his conclusion) than ethnic Germans, the population will be dumbed down (his conclusion).

Sarrazin glaubt, dass die Intelligenz angeboren, nicht erworben sei, und da Moslems weniger intelligent (seine Folgerung) seien als ethnische Deutsche, werde die Bevölkerung verdummen (seine Folgerung).
Zur Frage der Erblichkeit der Intelligenz kann ich mich kurz fassen, denn was Sarrazin tatsächlich dazu schreibt und wie es im Licht der Forschung zu beurteilen ist, habe ich in zwei früheren Artikeln ausführlich dargelegt (Ist Intelligenz zu 50 bis 80 Prozent vererbbar? - Teil 1: Definition und Messung von Intelligenz; ZR vom 1. 9. 2010 und Teil 2: Die Ergebnisse der Verhaltensgenetik; ZR vom 2. 9. 2010).

Sarrazin geht von einem genetisch bedingten Anteil am IQ von 50 bis 80 Prozent aus; was schlicht der Stand der Forschung ist und Umwelteinflüsse keineswegs ausschließt.

Weiterhin behauptet er nirgends in seinem Buch, daß "Moslems weniger intelligent" seien. In dem Abschnitt, in dem er sich mit Intelligenz und Demografie befaßt, geht es ausschließlich um die Schichtzugehörigkeit. Mit der Religion hat das nur insofern indirekt etwas zu tun, als die nach Deutschland eingewanderten Moslems überproportional der Unterschicht angehören. Sarrazin schreibt (S. 98):
Entscheidend ist letztlich nicht das Ergebnis einzelner Intelligenztests, sondern die Erkenntnis, dass sich die geistigen Fähigkeiten von Menschen wesentlich unterscheiden und diese Unterschiede zum Teil erblich sind [Hervorhebung bei Sarrazin; Zettel]. (...) Die Erblichkeit ändert sich aber in Abhängigkeit vom Alter und variiert je nach Art der Intelligenzleistung. (...)

Für den Zusammenhang, um den es hier geht, ist es egal, ob die Erblichkeit von Intelligenz bei 40, 60 oder 80 Prozent liegt. Denn ganz gleich, wie die Intelligenz zustande kommt: Bei höherer relativer Fruchtbarkeit der weniger Intelligenten sinkt die durchschnittliche Intelligenz der Grundgesamtheit. (...) Generell kommen verschiedene Untersuchungen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass die gemessene Intelligenz stark mit der Schichtzugehörigkeit korreliert.
Sie sehen: Es ist nachgerade abwegig, Sarrazin zu unterstellen, er glaube, daß "die Intelligenz angeboren" sei. Und mit der Religion haben seine Überlegungen zu Demographie und Intelligenz primär überhaupt nichts zu tun. Erst in einem späteren Kapitel stellt er den erwähnten Zusammenhang her, daß die nach Deutschland eingewanderten Moslems im Schnitt weniger intelligent sind - nicht, weil sie Moslems sind, sondern weil sie überproportional der Unterschicht angehören.



Ich sehe keinen Anhaltspunkt dafür, daß Slackman Sarrazin bewußt falsch zitiert. Eher kann man vermuten, daß auch er von den wochenlang in den deutschen Medien verbreiteten falschen Informationen über das Buch beeinflußt ist.

Freilich entbindet das einen Journalisten nicht von sorgfältiger Recherche; schon gar nicht einen Bürochef der immer noch angesehensten Tageszeitung der Welt.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Thilo Sarrazin und Necla Kelek bei der Vorstellung von Sarrazins Buch am 30. August 2010. Vom Autor Richard Hebestreit unter Creative Commons Attribution 2.0 Generic-Lizenz freigegeben. Alle Zitate von Thilo Sarrazin aus: Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser unser Land aufs Spiel setzen. München: Deutsche Verlagsanstalt, 4. Auflage 2010. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Mit Dank an Reader.