24. November 2010

Deutschland im Öko-Würgegriff (24): In Berlin pulsiert demnächst das Leben mit Tempo 30. Falls die Sozialarbeiterin die Regierende wird

Renate Künast ist gelernte Sozialarbeiterin.

Dem Sozialarbeiter treten Menschen als hilfsbedürftig gegenüber; als Leute, die ihr Leben nicht in den Griff bekommen.

Man muß für sie die Verantwortung übernehmen, die sie selbst nicht tragen können. Man muß sie davor bewahren, sich selbst zu schaden. Großes kann man von ihnen nicht erwarten; aber immerhin Schlimmes verhüten. Man muß Ruhe in ihr Leben bringen.

Die Politikerin Renate Künast ist die Sozialarbeiterin geblieben, als die sie jahrelang gearbeitet hat. Nun sieht sie uns alle, uns Bürger, als ihre Schutzbefohlenen.

Sie will, wird sie Regierende Bürgermeisterin von Berlin, Ruhe ins Leben der Berliner bringen. Und zwar in einem sehr wörtlichen Sinn. Indem sie ihnen nämlich auferlegt, mit Tempo 30 durch ihre Stadt zu zuckeln.



Der Berliner liebt das Schnelle, wie die meisten Hauptstädter. Überhaupt; und auch als Autofahrer. Wenn die Ampel auf grün springt und der Vordermann nicht sofort startet, dann sagt der Berliner: Nu mach ma, Männeken. Jrüner wird et nich.

In einer großen Stadt legt man häufiger größere Entfernungen zurück als in einer Kleinstadt oder auf dem Land. Die Zeit, die man fürs Fahren verplempert, möchte man naturgemäß auf ein Minimum reduzieren. Berlin hatte mit der AVUS, die 1921 eingeweiht wurde, die erste innerstädtische Schnellstraße Europas.

Nun also soll, geht es nach dem Willen von Renate Künast und ihrer Partei, diese schnelle Stadt Berlin ein Vorbild an Langsamkeit werden. Mitte dieses Monats gab sie dem "Tagesspiegel" ein Interview:
Die Spitzenkandidatin der Grünen zur Berliner Abgeordnetenhauswahl, Renate Künast, hat die Forderung ihres Berliner Landesverbands nach einem drastischen Ausbau der Tempo-30-Zonen in der Hauptstadt bekräftigt. "Ich will Mobilität in der Stadt mit einem Gewinn an Lebensqualität verbinden: weniger Lärm, weniger Abgasbelastung, weniger Spritverbrauch", sagte Künast im Interview mit dem Tagesspiegel.

Nach Beschlusslage der Berliner Grünen soll Tempo 30 in der Stadt flächendeckend eingeführt werden. Ausgenommen sind lediglich Autobahnen und Hauptverkehrsadern.
Erfahren habe ich von diesem bemerkenswerten Plan durch einen Hinweis von Calimero in Zettels kleinem Zimmer.

Calimero hatte sarkastisch kommentiert: "Renate Künast will doch nicht Regierende Bürgermeisterin in Berlin werden". Es folgte ein Zitat aus der Berliner "BZ" zu den Plänen der "Grünen". Und dann Calimeros resignierende Frage: "Oder doch? Ist die Hauptstadtbevölkerung wirklich reif dafür?"

Das fragte ich mich auch. Wo blieb der Aufschrei der doch das Schnelle liebenden Berliner? Wie kann Künast es wagen, mit ausgerechnet dieser Forderung in den Wahlkampf zu ziehen? Sind die viven Berliner denn zu Deutschlands Bernern geworden?

Ich hatte kurz erwogen, dazu einen kleinen Artikel zu schreiben, habe es dann aber doch nicht getan und hatte das Thema schon fast vergessen, als ich gestern in "Zeit-Online" auf einen Artikel von Michaela Duhr gestoßen bin, in dem sie das Für und Wider eines generellen Tempo 30 in Berlin erörtert. Und das veranlaßt mich nun doch noch zu diesem Artikel.

Warum? Weil ich dank Michaela Duhr verstanden habe, worum es eigentlich geht. Und weil ich jetzt auch weiß, warum die Berliner, die sonst gern über alles meckern, diese grüne Forderung so gelassen hinzunehmen scheinen.



Worum es eigentlich geht, das ist die Verwandlung der Verkehrspolitik in eine Anti-Verkehrs-Politik. Propagiert wird eine Sicht auf den Autoverkehr, ungefähr so, wie Tierschützer sie auf die Jagd haben oder Abolitionisten auf den Alkohol.

Verkehrsplanung und Verkehrspolitik hatten bisher zum Ziel, den Verkehr so zu gestalten, daß er möglichst gut funktioniert. So, wie man eine Heizung so baut, daß sie möglichst gut heizt und der Bäcker ein Brot so backt, daß es möglichst gut schmeckt.

Beim Autoverkehr heißt das - nein, hieß das -: Das Ziel der Verkehrspolitik ist es, daß der Verkehrsteilnehmer so bequem und vor allem so schnell wie möglich dorthin kommt, wo er hinfahren will. Dazu dienten Erfindungen wie beispielsweise die "Grüne Welle" mit der Anzeige von berechneten Richtgeschwindigkeiten, bei deren Einhaltung man ohne Ampelhalt fahren kann.

Der Artikel von Michaela Duhr erörtert ausführlich das Für und Wider von Tempo 30 in Berlin. Aber dieses primäre Ziel der Verkehrspolitik kommt so gut wie nicht vor.

"Die Berliner Grünen wollen in der Stadt 30 Stundenkilometer als Regelgeschwindigkeit. Die Sicherheit der Fußgänger steigt damit – doch sinkt auch der Schadstoffausstoß?", lautet der Vorspann. Ob der Fahrer mit oder ohne Tempo 30 sein Ziel schneller und mit weniger Streß erreicht, wird gar nicht gefragt:
Renate Künast, Spitzenkandidatin der Grünen in Berlin, forderte vor wenigen Tagen einen Paradigmenwechsel. Nach ihrer Vorstellung würde Tempo 50 in der Hauptstadt künftig wohl nur noch auf Autobahnen und Hauptverkehrsadern gelten. "Mehr Sicherheit, weniger Lärm, weniger Schadstoffe", argumentieren Befürworter wie Umweltverbände und Verkehrsexperten.
Als maßgeblich für die Verkehrspolitik werden nur noch die Nachteile des Verkehrs und deren möglichst weitgehende Verringerung betrachtet: Unfälle, Emissionen, Lärm.

Sie gilt es zu verringern. Ob das dem Ziel des Verkehrs, Menschen schnell und bequem von A nach B zu bringen, dient oder ihm schadet, spielt faktisch keine Rolle mehr. Allenfalls als ein zu widerlegender Einwand wird das noch diskutiert:
Allerdings warnt Verkehrsexperte Petersen: Es gibt Stadtverwaltungen, die der Ansicht sind, der Verkehr müsse unbedingt fließen. Im Kampf gegen Stauungen werden Einbahnstraßen eingeführt, Abbiegemöglich-keiten eingeschränkt, und am Ende müssen Autofahrer dem Verkehrsfluss zuliebe oft mehrere Kilometer Umweg in Kauf nehmen. Doch was verbraucht mehr Energie, fragt Petersen: Enorme Umwege fahren oder im Stau stehen?
Was zählt der Verkehrsfluß, wo es doch um den Verbrauch von Energie geht?



Eine derart ideologisierte Verkehrspolitik ist kein Vorrecht der Grünen; wenn auch diese sie besonders liebevoll betreiben. Und hier kommen wir nun zur Lösung des Rätsels, warum die Berliner die grüne Tempo-30-Drohung so gelassen hinzunehmen scheinen. Man konnte sie am 14. 11. im "Tagesspiegel" lesen:
Renate Künast will mit Tempo 30 für die ganze Stadt Berlin Wahlkampf machen. Ihre Offenheit verdient schon deshalb Anerkennung, weil sich die autofahrenden Leute in den vergangenen zehn Jahren mit einer klammheimlich praktizierten Antiverkehrs-Verkehrspolitik abfinden mussten. Da wurden grüne Wellen gebrochen, damit alles etwas länger dauert, da werden teure Planungsprozesse nur pro forma fortgesetzt, um – Beispiel A100 – Entscheidungen zu vermeiden, die in der SPD zu neuem Streit führen.
Das Ergebnis ist in dem Artikel von Michaela Duhr zu lesen: Laut einer Auskunft aus der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung liegt die Durchschnittsgeschwindigkeit des Berliner Verkehrs derzeit bei 25 Kilometern in der Stunde.

Da dürfte manchem Berliner die offene und immerhin ehrliche Anti-Verkehrspolitik der Grünen immer noch lieber sein als die Versuche der jetzigen sozialdemokratisch-kommunistischen Regierung, den Verkehr heimlich, still und leise abzuwürgen.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen bisherigen Folgen dieser Serie findet man hier. Titelvignette: Schiffe sinken im Sturm. Gemälde von Ludolf Backhuysen (ca 1630). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist (Ausschnitt). Mit Dank an Calimero.