6. April 2010

Aktuelles zum Krieg der Dschihadisten (6): Darf die Bundeswehr in Afghanistan die Taliban angreifen? Eine Scheindebatte

In der heutigen "Süddeutschen Zeitung" fordert Nico Fried eine offene Debatte über den Auftrag der Bundeswehr in Afghanistan. Unter der Überschrift "Was heißt hier Krieg?" fragt er:
Wenn die Bundeswehr im Krieg ist, muss sich die Debatte hier aber nicht um den Abzug drehen, sondern darum, wie sich die Bundeswehr bis dahin verhalten darf. Kann sie sich nur verteidigen oder darf sie zum Angriff übergehen?
Ginge es nicht um das Leben unserer Soldaten, dann könnte man bitter lachen. Die Truppe in Afghanistan steht einem Gegner gegenüber, der einen rücksichtslosen Partisanenkrieg führt; unter Mißachtung der Regeln des Kriegsrechts. Und da fragt Fried allen Ernstes, ob die Soldaten "zum Angriff übergehen" dürfen? Wie will man diesen Gegner denn besiegen, wenn nicht durch Angriff?

Zu den Vorwürfen, die dem Oberst Klein im Zusammenhang mit den Ereignissen in Kunduz gemacht wurden, gehört es, daß er das Ziel verfolgt hätte, Feinde zu töten. Auch das ist leider kein Witz. Im "Spiegel" schrieb am 28. 12. 2009 Holger Stark über den Bericht des Oberst Klein:
Er habe letztlich das Kommando gegeben, weil er nach Lage der Dinge davon ausgehen konnte, "durch den Einsatz eine Gefahr für meine anvertrauten Soldaten frühzeitig abwenden zu können und andererseits mit höchster Wahrscheinlichkeit dabei nur Feinde des Wiederaufbaus Afghanistans zu treffen".

Dem Dokument wird im Untersuchungsausschuss eine zentrale Bedeutung zukommen, weil es zu einer Schlüsselfrage der Debatte des Afghanistan-Einsatzes führt: Sollen und dürfen Deutsche am Hindukusch gezielt töten? Klein hat das ungewohnt offen mit dem Begriff "vernichten" in Worte gefasst.


Die Frage, die jetzt Nico Fried aufwirft, die im vergangenen Dezember Holger Stark formuliert hat, - diese Frage ist keine. Die Debatte darüber ist eine Scheindebatte.

Über die Befugnisse der Bundeswehr in Afghanistan kann man sich aus kompetenten Quellen kundig machen. Am 18. Dezember 2009 informierte der Presse- und Informationsstab des Bundesministeriums der Verteidigung über die Rechtslage. Drei Tage zuvor war in der FAZ ein sehr detaillierter Artikel des FAZ-Redakteurs und promovierten Völkerrechtlers Reinhard Müller zum selben Thema erschienen. Im Text des Presse- und Informationsstabs heißt es:
Welche Maßnahmen im Sinne der Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen und im Sinne der Beschlüsse des Deutschen Bundestages zur Durchsetzung des Mandates erforderlich (all necessary measures) sind, ist in erster Linie durch den militärischen Führer vor Ort aufgrund seiner konkreten Bewertung der aktuell gegebenen Situation zu beurteilen.

Dass seine Handlungsbefugnis sich nicht auf polizeiliche Maßnahmen beschränkt und an polizeilichen Maßstäben zu messen ist, ergibt sich auch aus dem Wortlaut des Beschlusses des Deutschen Bundestages, in dem es heißt "einschließlich der Anwendung militärischer Gewalt".
Selbstverständlich sind dabei, wie in jedem Krieg, die Grundsätze des humanitären Völkerrechts zu beachten. Diese verbieten aber keineswegs das gezielte Töten von Feinden, auch wenn diese sich als Zivilsten tarnen:
Rechtsfolge [des UNO-Mandats; Zettel] ist die Geltung und Anwendbarkeit des II. Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen. Dieses gewährt grundlegende Garantien der menschlichen Behandlung, des Schutzes von Verwundeten und Kranken sowie der Zivilbevölkerung. Der Anwendungsbereich des II. Zusatzprotokolls kennt nicht den Rechtsstatus des Kombattanten. Grundsätzlich sind die nichtstaatlichen organisierten Gruppen als Zivilpersonen einzustufen. Sie haben keine Befugnis zur Gewaltanwendung. Gleichwohl verlieren sie den Schutz als Zivilpersonen, sofern und solange sie unmittelbar an den Feindseligkeiten teilnehmen. Nehmen sie unmittelbar an Feindseligkeiten teil, können demzufolge auch Nichtkombattanten militärisch bekämpft werden.
Das ist der Rechtsrahmen des UNO-Mandats. Für die deutschen Soldaten in Afghanistan gibt es allerdings eine "Taschenkarte zu den Regeln für die Anwendung militärischer Gewalt", die weitere Einschränkungen enthält. Aber auch sie erlaubt inzwischen den Angriff auf Taliban. Reinhard Müller schreibt dazu:
Ende Juli 2009 wurde die Taschenkarte geändert mit Billigung aller Fraktionen des Bundestages, die den Einsatz in Afghanistan grundsätzlich mittragen (Union, SPD, FDP und Grüne). (...)

Ein Waffeneinsatz gegen Personen ist nun erlaubt, die Angriffe "planen, vorbereiten, unterstützen oder ein sonstiges feindseliges Verhalten zeigen". Ein solches feindseliges Verhalten bestehe fort, wenn nicht ausgeschlossen sei, dass ein Angriff gleich wiederaufgenommen wird.


Das Problem ist also nicht die Rechtslage; weder, was das ISAF-Mandat der UNO noch inzwischen auch, was die Einsatzregeln für die deutschen Soldaten angeht. Das Problem liegt auf zwei anderen Ebenen.

Zum einen handelt es sich eben um einen Krieg gegen einen Gegner, der völkerrechtswidrig agiert. Die Taliban geben sich nicht als Kombattanten zu erkennen; weder durch eine Uniform, noch auch nur durch Abzeichen, Armbinden oder dergleichen, wie es das Kriegsrecht vorschreibt. Erst indem sie angreifen, lassen sie sich als Feinde identifizieren. Das bringt es mit sich, daß in einem gewissen Umfang gegen sie nur eine Verteidigung möglich ist. In der Regel müssen sie als erste geschossen oder gebombt haben, damit man überhaupt sicher sein kann, daß es sich nicht um Zivilisten handelt.

Zweitens nährt sich in Deutschland die Scheindebatte daraus, daß wir den Krieg in Afghanistan unter illusionären Voraussetzungen führen. Als der Bundestag am 22. Dezember 2001 die Resolution 1386 des UN-Sicherheitsrats für Deutschland umsetzte und das Mandat für Afghanistan beschloß, regierte Rotgrün. Wie man sich damals das Engagement in Afghanistan vorstellte, sagte laut "Spiegel" (Heft 50/2001 vom 10. 12. 2001) der damalige Außenminister Joschka Fischer so:
Wir werden uns sehr stark engagieren beim Wiederaufbau, im Bildungssystem, bei der Minenräumung. Wir werden uns stark engagieren bei der Frauenförderung.
Die Entsendung von Truppen der Bundeswehr wurde als eine flankierende Maßnahme verstanden; es sollte sich um eine "Schutztruppe", eine "Friedenstruppe" handeln. Das war so friedlich-freundlich konzipiert, daß damals sogar Christian Ströbele von den "Grünen" laut "Spiegel" Zustimmung signalisierte.

Kaum jemand hat damals damit gerechnet, daß mehr als acht Jahre später die Taliban noch immer nicht besiegt sein würden, sondern militärisch stärker als damals, kurz nach ihrer Niederlage.

Der Auftrag der Bundeswehr hat sich, was das strategische Ziel angeht, nicht geändert: Die afghanische Regierung bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit zu unterstützen. Geändert haben sich aber die taktischen Erfordernisse. Sie verlangen inzwischen - leider - die aktive Bekämpfung der Taliban, also auch den Angriff über die reine Selbstverteidigung hinaus.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: NSF. Als Werk der US-Regierung in der Public Domain.