27. April 2010

Marginalie: Aygül Özkan und das Kruzifix. Eine Erinnerung an Sarah Palin und an ein Urteil des Verfassungsgerichts

Ist Ihnen die Parallele auch schon aufgefallen?

Eine Nachwuchs-Politikerin, intelligent und selbstsicher, aber unerfahren mit den Fallstricken der Politik, wird durch die Berufung in eine herausgehobene Position unversehens in die Öffentlichkeit katapultiert.

Sie gibt Interviews, man versucht sie - so verstehen viele Journalisten nun einmal ihren Job - in Fallen zu locken. Sagt sie dabei etwas, das nicht politisch korrekt ist, dann bricht die Hölle los; es wird Häme über sie ausgegossen.

So ging es Sarah Palin, der weithin unbekannten Gouverneurin von Alaska (ungefähr so viele Einwohner wie Frankfurt/Main), als sie im Herbst 2008 von John McCain als running mate auserkoren worden war, als seine Kandidatin für die Vizepräsidentschaft; siehe Die heimtückische Naivität der Sarah Palin; ZR vom 13. 10. 2008 sowie Mutmaßungen über Sarah; ZR vom 6. 7. 2009.

So geht es jetzt Aygül Özkan. Bis Mitte dieses Monats war sie eine weithin unbekannte Hamburger Lokalpolitikerin. Mit der Berufung in sein Kabinett hat sie der niedersächsische Ministerpräsident Wulff ins Scheinwerferlicht geholt: Die erste deutsche Ministerin, die aus einer Familie türkischer Einwanderer stammt.

Ich habe dieses Ereignis damals nur sprachkritisch kommentiert, weil ich die Bezeichnung "Deutschtürkin" für die in Hamburg geborene Deutsche Özkan für falsch halte. Ich ahnte nicht, welche Wellen ihre Berufung schlagen würde.

Aber ich hätte es wissen können; denn Özkan löst offenbar ähnliche Affekte aus wie seinerzeit Sarah Palin. Affekte, die zum Psychologisieren einladen; siehe Warum löst Sarah Palin Haß und Häme aus?; ZR vom 19. 10. 2008.

Und wie damals Palin erleichtert Özkan jetzt solche Reaktionen durch eine Unprofessionalität des Auftretens, wie sie bei jemandem, der noch nicht mit allen politischen Wassern gewaschen ist, nicht anders zu erwarten ist.



Jetzt geht es also um das Kruzifix in den Schulen, dessen Abschaffung sie in einem Interview befürwortet hatte. Den Hintergrund kann man heute in der "Welt" lesen:
Sie sprach mit dem Nachrichtenmagazins "Focus" über Identität und Religion und die Frage, ob es sie denn stören würde, wenn ihr Sohn von einer Lehrerin mit Kopftuch unterrichtet werden würde. Frau Özkan antwortet, dass Kopftücher im Klassenzimmer nichts zu suchen hätten und Schule in Sachen Religion neutral zu bleiben habe. Das gelte auch für den Gebrauch christlicher Symbole. (...)

... autorisiert am Freitag um 15.27 Uhr ein Sprecher des niedersächsischen Sozialministeriums das Interview im Namen von Aygül Özkan bei "Focus". Aber am gleichen Abend ruft der Sprecher noch einmal bei dem Magazin an und drängt darauf, die Kruzifix-Passage aus dem Interview zu streichen. Der Focus verweigert die nachträgliche Veränderung eines autorisierten Gespräches jedoch.
Die unerfahrene Aygül Özkan hatte die Symbolik und die Sprengkraft des Themas "Kruzifixe in Klassenzimmern" nicht erkannt. Der Sprecher ihres künftigen Ministeriums, der es hätte wissen können, offenbar erst zu spät.

Dabei wäre es doch für Frau Özkan ein Leichtes gewesen, ihre Position in unangreifbarer Weise vorzutragen. Sie hätte nur sagen müssen: Ich stehe auf dem Boden der Entscheidung unseres Verfassungsgerichts.

Das BVerfG nämlich hatte mit Urteil vom 6. Mai 1995 festgestellt: "Die Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, verstößt gegen Art. 4 Abs. 1 GG".



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