16. April 2010

Zitat des Tages: "Grass bewegte die Türken, sich zu entschuldigen". Über Deutschdeutsche, Türkentürken und das empathische "Wir"-Gefühl

Der Literaturnobelpreisträger fand die richtigen Worte. Er bewegte die Türken dazu, den Massenmord an den Armeniern aufzuarbeiten und sich zu entschuldigen.

Vorspann zu einem Artikel von Michael Thumann, der seit heute 16.01 Uhr so in "Zeit-Online" steht.


Kommentar: Wenn das stimmte, dann hätte Grass nach dem Literatur- nun auch noch den Friedensnobelpreis verdient.

Aber natürlich hat er die Türken weder zu dem bewegt noch zu dem bewogen, was dieser Text behauptet. Im Artikel erfahren wir nur, daß er im Sommerpalais des deutschen Botschafters in Tarabya (also an standesgemäßem Ort) eine Rede gehalten hat. Thumann:
Anerkennung der Fakten, Dinge beim Namen nennen, Trauer über das Geschehene. So lautet der Dreisprung, den Grass den Türken empfahl. Die sprangen ihm dafür nicht ins Gesicht, wie man vielleicht hätte annehmen können.
Wie schön für Grass. Und (bezogen anscheinend auf eine weitere Rede an einer Universität):
Ein Student bekannte vor den fahlen Gesichtern der Professorenschaft: "Das ist bei uns ein Tabu, darüber zu sprechen." Nicht für Grass, das moralische Dichterdenkmal mit der gebrochenen Biografie.
Das war es so ungefähr, was Grass "bewegt" hat. Ach ja, und noch dies:
Im Massenblatt Hürriyet schrieb Dogan Hizlan: Grass habe "seine Erfahrungen" darüber offenbart, wie "die Menschheit in Frieden leben könne".
Seine Erfahrungen offenbart.



Michael Thuman berichtet für die "Zeit" aus Instanbul. In einem Bericht über Angela Merkels kürzlichen Besuch in der Türkei fand er diese Worte:
In Deutschland klafft eine Empathielücke, sogar eine doppelte: gegenüber den Türken und gegenüber der Türkei. Bei allen Bemühungen und Konferenzen fehlt es an einer vorbehaltlosen Umarmung der Deutschtürken durch die Regierung. An dem feierlichen "Ihr gehört zu uns, ohne wenn und aber." An dem "Wir" von Deutschdeutschen und Deutschtürken.
Ich weiß ja nicht, ob es unbedingt gut ist, wenn eine Regierung ihre Bürger, welcher Herkunft auch immer, "umarmt".

Aber ob zu einem "Wir" zwischen uns - wie Thumann uns nennt - "Deutschdeutschen" und den Deutschen türkischer Herkunft nicht auch ein wenig Empathie seitens dieser "Deutschtürken" selbst gehören müßte? (Warum nennt man sie übrigens nicht "Türkendeutsche", so wie man von Deutschamerikanern oder Italoamerikanern spricht?)

Was den von Thumann in dem Artikel sehr freundlich gewürdigten Tayyip Erdoğan angeht, so scheint ihm doch eher (siehe Zitate des Tages: Erdoğans Gedankenfehler?; ZR vom 27. 3. 2010) eine empathische Beziehung der "Deutschtürken" zu den - um Thumanns Nomenklatur zu verwenden - "Türkentürken" als zu uns "Deutschdeutschen" am Herzen zu liegen.



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