Unser Lokalblättchen hat eine Reihe von Fotografen als feste freie Mitarbeiter unter Vertrag. Wenn ein Verein Jubiläum feiert, wenn eine Bürgerin das gesegnete Alter von hundert Jahren erreicht, dann ist einer von ihnen zur Stelle und macht ein schönes Foto. Aber auch Anderes, was solch eine Zeitung im Lokalteil vermeldet, wird oft durch Fotos illustriert.
Jemand hat einen Riesen-Kürbis gezüchtet. Nun steht er stolz daneben und zeigt auf sein Werk. Ein Professor der Universität hat eine Auszeichnung erhalten. Man sieht ihn, umringt von seinen Mitarbeitern, vor einer Bücherwand (Geisteswissenschaftler) oder umgeben von Laborgeräten (Naturwissenschaftler). Einer Frau wurde ihr Auto so zugeparkt, daß sie die Parklücke nicht mehr verlassen konnte. Auf dem Foto (diesmal mit dem Zusatz "nachgestellt") sieht man sie in dieser Situation, anklagend den Arm in Richtung eingeklemmtes Auto ausgestreckt.
Und sie alle lächeln. Es lächelt der Kürbiszüchter, es lächelt der Professor, es lächeln seine Assistenten und Doktoranden. Nun gut, das mag das Lächeln der Erfolgreichen sein. Aber auch die Frau lächelt, der man das Auto zugeparkt hat. Kürzlich war ein Polizist abgebildet, der einen neuen Schlagstock in die Kamera hielt, mit dem künftig die Polizei ausgerüstet werden soll. Er lächelte.
Wir wissen, wie das zustandekommt. Wenn der Fotografierte nicht schon selbst seine Rolle begriffen hat und freiwillig lächelt, dann hilft der Fotograf nach. Das traditionelle "Bitte recht freundlich" ist ein wenig abgegriffen. Heute sagt der Fotograf: "Nun machen Sie doch mal ein fröhliches Gesicht" oder dergleichen.
Kindern kann man das nur schwer sagen. Sie können nicht so tun, als seien sie fröhlich, wenn sie in Wahrheit ängstlich beobachten, was der Fotograf Seltsames treibt.
In der Zeit, als wir Kinder - meine Geschwister und ich - einmal im "Atelier" fotografiert wurden, war das furchterregend. Seltsame Gerätschaften, Scheinwerfer, Reflektoren. Der Fotograf hinter seiner riesigen, auf einem Dreibein thronenden Kamera, unter schwarzem Tuch verborgen, hinter dem er immer wieder hervorkam, um uns richtig zu arrangieren. Es sollte ja ein Foto fürs Familienalbum werden, also für die Ewigkeit.
Nur das Lächeln konnte er nicht befehlen, der Fotograf. Also benutzte er allerlei Schnickschnack, um uns zum Lachen zu bringen. Auch die Ankündigung, jetzt werde gleich ein Vögelchen aus der Kamera kommen. Vermutlich sollte das "staunende Kinderaugen" hervorbringen. Bei mir, mit sieben Jahren schon ein schnöder Aufklärer, brachte es allerdings nur Staunen über den blöden Trick hervor und ließ mich erst recht finster gucken.
Das Lächeln in die Kamera hinein ist ein besonders krasser Fall dessen, was man gern "aufgesetzte Freundlichkeit" nennt. Man guckt freundlich, nicht weil einem danach zumute wäre, sondern weil die Situation das verlangt. Die soziale Situation des Fotografiertwerdens. Das Lächeln ist nicht Ausdruck einer Stimmung, sondern ein Signal an andere. Nicht Kundgabe, sondern Appell, wie das Karl Bühler genannt hat, bezogen auf die Sprache.
Woran appelliere ich beim anderen, wenn ich freundlich bin? In der Regel an dessen eigene Freundlichkeit. Nicht immer, aber doch meist, ist Freundlichkeit reziprok. Sie sagt dem Anderen: Ich möchte friedlich und kooperativ mit dir umgehen und erwarte das auch von dir. Insofern hat Freundlichkeit den Charakter dessen, was die Verhaltensbiologen Beschwichtigungsgebärde (calming signal) nennen.
Nicht immer ist das, wie gesagt, reziprok. Der unterlegene Hund sendet - hübsch illustrierte Beispiele finden Sie hier - solche Signale auch gegenüber dem Stärkeren aus, ohne daß dieser sie erwidern muß. Dem Chef gegenüber ist man freundlich, aber nicht immer quittiert dieser das mit gleicher Freundlichkeit. Je größer der hierarchische Abstand, je autoritärer die Beziehung, desto einseitiger wird die Freundlichkeit.
Wie reziprok die Freundlichkeit ist, das sagt somit etwas aus über die Offenheit einer Gesellschaft; über die Freiheit, die in ihr herrscht.
In den linken siebziger Jahren dominierte in Deutschland das auch heute noch verbreitete Klischee von der "Ellenbogengesellschaft" in den USA. Raubtierkapitalismus. Cowboy-Mentalität. Der häßliche Amerikaner.
Damals hatte ich einen studentischen Mitarbeiter, der sich nach dem Abschluß des Studiums und vor Berufsantritt zu einer Reise durch die USA aufmachte. Quer über den Kontinent, meist per hitchhiking. Er stand politisch weit links wie damals viele Studenten und erwartete von den USA zwar Abenteuer und beeindruckende Natur, aber auch die Unfreundlichkeit von Menschen, die sich im Kapitalismus ihrer Haut wehren müssen; jeder gegen jeden. Einzelkämpfer unter dem brutalen Druck der Konkurrenz, unsolidarisch.
Als er zurückkam, war dieser junge Mann ein anderer Mensch geworden. Er hatte nicht Unfreundlichkeit angetroffen, sondern eine Freundlichkeit, wie sie damals in Deutschland alles andere als die Regel war. Fremde Menschen hatten ihm nicht nur einen lift gegeben, ihn also im Auto mitgenommen, sondern ihn auch gleich zu sich eingeladen, gar in ihrem Freundeskreis weitergereicht.
Überall hätte er eine schier unglaubliche Hilfsbereitschaft erfahren, berichtete er uns staunenden Daheimgebliebenen. Sogar an der Kasse des Supermarkts werde man mit einem freundlichen hello! begrüßt! Von seinen antiamerikanischen, antikapitalistischen Klischees war nichts geblieben.
Ähnlich muß es wohl vielen DDR-Bürgern nach der Öffnung der Grenze im Spätherbst 1989 gegangen sein. In den Interviews mit solchen Besuchern, die das Fernsehen brachte, wurde immer wieder das Erstaunen darüber artikuliert, wie freundlich man im Westen behandelt werde. Daß der Westen wohlhabender war als man selbst, das wußte man ja. Aber auch in der DDR herrschte offenbar das Klischee von der Raubtiergesellschaft des Kapitalismus. Und nun traf man auf nette Menschen, die bereitwillig halfen.
Im Sommer 1990, unmittelbar nach der Währungsunion, aber noch zu DDR-Zeiten, haben wir einen Campingurlaub in der DDR verbracht. Vieles war noch weit schlimmer, als wir es erwartet hatten - die heruntergekommenen Städte und Dörfer, die holprigen Straßen, die verfallenen Kirchen und Schlösser. Am Deprimierendsten aber war der Umgangston Fremden gegenüber.
Eine mürrische Grundstimmung. Der Versuch, auch noch im Kleinsten Herrschaft auszuüben. Der Kellner gab einem zu verstehen, wie froh man sein durfte, von ihm bedient zu werden. Am Ufer eines Sees hatten Fischer eine Verkaufsstelle eingerichtet. Wir suchten uns einen Zander aus und baten, ihn zu filetieren. Dazu hätte er jetzt keine Lust, beschied uns der Verkäufer, den wir aus seinem Dösen hochgeschreckt hatten. Wir könnten ja eine andere Fischart nehmen, die seien schon filetiert.
Kürzlich habe ich eine Verwandte im Krankenhaus besucht. Keine Privatklinik, sondern ein normales Städtisches Krankenhaus. Die Freundlichkeit im Umgang mit Patienten und Besuchern war beeindruckend. Die Schwestern, die Ärzte grüßten den Besucher, wenn man aneinander vorbeiging. Die Schwestern waren nicht weniger freundlich als das Personal eines gut geführten Hotels.
Kurz, man behandelte die Patienten als Kunden. Kein Wunder, sagte mir meine Verwandte, denn heute haben viele Krankenhäuser Überkapazitäten. Sie müssen sich um jeden Patienten bemühen.
Und damit sind wir wohl beim Kern der Sache: Freundlichkeit - nicht die unterwürfige, sondern die reziproke Freundlichkeit - entsteht dort, wo es ein Verhältnis zwischen Gleichrangigen gibt, von denen jeder Vorteile von Freundlichkeit hat.
Solange die Krankenhäuser nicht darauf angewiesen waren, attraktiv für Patienten zu sein, herrschte der Kasernenhofton, den ich dort als junger Mann einmal erlebt habe. Mangelwirtschaft, wie auch in der DDR. Also Unfreundlichkeit. Heute ist man freundlich miteinander, weil die Patienten das Krankenhaus brauchen, aber eben auch das Krankenhaus die Patienten.
Heute sagt auch in Deutschland die Kassiererin im Supermarkt "Guten Tag". Wir dürften, was die Freundlichkeit angeht, inzwischen in Deutschland ähnliche Verhältnisse haben, wie sie mein Mitarbeiter vor fast vierzig Jahren in den USA kennenlernte.
Ja, ist also diese ganze Freundlichkeit nur der Not geschuldet? Mühsam zustandegebracht, weil man auf Teufel komm raus verkaufen muß? Nein. Überhaupt nicht.
Freundlichkeit hat etwas mit guten Manieren zu tun; sie ist vielleicht der Kern guter Manieren. Gute Manieren haben die Funktion, uns das Zusammenleben angenehmer zu machen. Wenn jemand bei Tisch rülpst, mag das ihm selbst angenehm sein; seinen Tischgenossen aber nicht. Höflichkeit besteht darin, daß man es vermeidet, andere zu verletzen oder auch nur zu ärgern.
Freundlichkeit und Höflichkeit gehören zusammen. Auch Höflichkeit hat, wenn man so will, etwas Gekünsteltes. Es gibt Menschen, die sich der Höflichkeit verweigern, weil sie sich als "echt" darstellen möchten, als "unverbiegbar". Ich bin grob, aber ehrlich, das ist ihre Devise.
Von ihrer Unverbogenheit hat der Andere nur selten etwas. Ihre Grobheit aber beeinträchtigt sein Wohlbefinden.
Freundlichkeit ist angenehm, nicht nur für den Adressaten, sondern auch für den Freundlichen. Indem er die Regeln der Höflichkeit befolgt, fühlt er sich selbst auch gut. Unser Tun hängt von unserem Fühlen ab, unser Fühlen aber auch von unserem Tun.
Wenn ein Kind traurig ist, dann sagt man ihm "Lach doch mal", und indem es lacht, wird es auch wirklich wieder fröhlich. Der amerikanische Psychologe William James und unabhängig der dänische Physiologe Carl Lange haben darauf eine Theorie der Gefühle aufgebaut.
Nun, dann ein freundliches "Frohe Ostern!"
Jemand hat einen Riesen-Kürbis gezüchtet. Nun steht er stolz daneben und zeigt auf sein Werk. Ein Professor der Universität hat eine Auszeichnung erhalten. Man sieht ihn, umringt von seinen Mitarbeitern, vor einer Bücherwand (Geisteswissenschaftler) oder umgeben von Laborgeräten (Naturwissenschaftler). Einer Frau wurde ihr Auto so zugeparkt, daß sie die Parklücke nicht mehr verlassen konnte. Auf dem Foto (diesmal mit dem Zusatz "nachgestellt") sieht man sie in dieser Situation, anklagend den Arm in Richtung eingeklemmtes Auto ausgestreckt.
Und sie alle lächeln. Es lächelt der Kürbiszüchter, es lächelt der Professor, es lächeln seine Assistenten und Doktoranden. Nun gut, das mag das Lächeln der Erfolgreichen sein. Aber auch die Frau lächelt, der man das Auto zugeparkt hat. Kürzlich war ein Polizist abgebildet, der einen neuen Schlagstock in die Kamera hielt, mit dem künftig die Polizei ausgerüstet werden soll. Er lächelte.
Wir wissen, wie das zustandekommt. Wenn der Fotografierte nicht schon selbst seine Rolle begriffen hat und freiwillig lächelt, dann hilft der Fotograf nach. Das traditionelle "Bitte recht freundlich" ist ein wenig abgegriffen. Heute sagt der Fotograf: "Nun machen Sie doch mal ein fröhliches Gesicht" oder dergleichen.
Kindern kann man das nur schwer sagen. Sie können nicht so tun, als seien sie fröhlich, wenn sie in Wahrheit ängstlich beobachten, was der Fotograf Seltsames treibt.
In der Zeit, als wir Kinder - meine Geschwister und ich - einmal im "Atelier" fotografiert wurden, war das furchterregend. Seltsame Gerätschaften, Scheinwerfer, Reflektoren. Der Fotograf hinter seiner riesigen, auf einem Dreibein thronenden Kamera, unter schwarzem Tuch verborgen, hinter dem er immer wieder hervorkam, um uns richtig zu arrangieren. Es sollte ja ein Foto fürs Familienalbum werden, also für die Ewigkeit.
Nur das Lächeln konnte er nicht befehlen, der Fotograf. Also benutzte er allerlei Schnickschnack, um uns zum Lachen zu bringen. Auch die Ankündigung, jetzt werde gleich ein Vögelchen aus der Kamera kommen. Vermutlich sollte das "staunende Kinderaugen" hervorbringen. Bei mir, mit sieben Jahren schon ein schnöder Aufklärer, brachte es allerdings nur Staunen über den blöden Trick hervor und ließ mich erst recht finster gucken.
Das Lächeln in die Kamera hinein ist ein besonders krasser Fall dessen, was man gern "aufgesetzte Freundlichkeit" nennt. Man guckt freundlich, nicht weil einem danach zumute wäre, sondern weil die Situation das verlangt. Die soziale Situation des Fotografiertwerdens. Das Lächeln ist nicht Ausdruck einer Stimmung, sondern ein Signal an andere. Nicht Kundgabe, sondern Appell, wie das Karl Bühler genannt hat, bezogen auf die Sprache.
Woran appelliere ich beim anderen, wenn ich freundlich bin? In der Regel an dessen eigene Freundlichkeit. Nicht immer, aber doch meist, ist Freundlichkeit reziprok. Sie sagt dem Anderen: Ich möchte friedlich und kooperativ mit dir umgehen und erwarte das auch von dir. Insofern hat Freundlichkeit den Charakter dessen, was die Verhaltensbiologen Beschwichtigungsgebärde (calming signal) nennen.
Nicht immer ist das, wie gesagt, reziprok. Der unterlegene Hund sendet - hübsch illustrierte Beispiele finden Sie hier - solche Signale auch gegenüber dem Stärkeren aus, ohne daß dieser sie erwidern muß. Dem Chef gegenüber ist man freundlich, aber nicht immer quittiert dieser das mit gleicher Freundlichkeit. Je größer der hierarchische Abstand, je autoritärer die Beziehung, desto einseitiger wird die Freundlichkeit.
Wie reziprok die Freundlichkeit ist, das sagt somit etwas aus über die Offenheit einer Gesellschaft; über die Freiheit, die in ihr herrscht.
In den linken siebziger Jahren dominierte in Deutschland das auch heute noch verbreitete Klischee von der "Ellenbogengesellschaft" in den USA. Raubtierkapitalismus. Cowboy-Mentalität. Der häßliche Amerikaner.
Damals hatte ich einen studentischen Mitarbeiter, der sich nach dem Abschluß des Studiums und vor Berufsantritt zu einer Reise durch die USA aufmachte. Quer über den Kontinent, meist per hitchhiking. Er stand politisch weit links wie damals viele Studenten und erwartete von den USA zwar Abenteuer und beeindruckende Natur, aber auch die Unfreundlichkeit von Menschen, die sich im Kapitalismus ihrer Haut wehren müssen; jeder gegen jeden. Einzelkämpfer unter dem brutalen Druck der Konkurrenz, unsolidarisch.
Als er zurückkam, war dieser junge Mann ein anderer Mensch geworden. Er hatte nicht Unfreundlichkeit angetroffen, sondern eine Freundlichkeit, wie sie damals in Deutschland alles andere als die Regel war. Fremde Menschen hatten ihm nicht nur einen lift gegeben, ihn also im Auto mitgenommen, sondern ihn auch gleich zu sich eingeladen, gar in ihrem Freundeskreis weitergereicht.
Überall hätte er eine schier unglaubliche Hilfsbereitschaft erfahren, berichtete er uns staunenden Daheimgebliebenen. Sogar an der Kasse des Supermarkts werde man mit einem freundlichen hello! begrüßt! Von seinen antiamerikanischen, antikapitalistischen Klischees war nichts geblieben.
Ähnlich muß es wohl vielen DDR-Bürgern nach der Öffnung der Grenze im Spätherbst 1989 gegangen sein. In den Interviews mit solchen Besuchern, die das Fernsehen brachte, wurde immer wieder das Erstaunen darüber artikuliert, wie freundlich man im Westen behandelt werde. Daß der Westen wohlhabender war als man selbst, das wußte man ja. Aber auch in der DDR herrschte offenbar das Klischee von der Raubtiergesellschaft des Kapitalismus. Und nun traf man auf nette Menschen, die bereitwillig halfen.
Im Sommer 1990, unmittelbar nach der Währungsunion, aber noch zu DDR-Zeiten, haben wir einen Campingurlaub in der DDR verbracht. Vieles war noch weit schlimmer, als wir es erwartet hatten - die heruntergekommenen Städte und Dörfer, die holprigen Straßen, die verfallenen Kirchen und Schlösser. Am Deprimierendsten aber war der Umgangston Fremden gegenüber.
Eine mürrische Grundstimmung. Der Versuch, auch noch im Kleinsten Herrschaft auszuüben. Der Kellner gab einem zu verstehen, wie froh man sein durfte, von ihm bedient zu werden. Am Ufer eines Sees hatten Fischer eine Verkaufsstelle eingerichtet. Wir suchten uns einen Zander aus und baten, ihn zu filetieren. Dazu hätte er jetzt keine Lust, beschied uns der Verkäufer, den wir aus seinem Dösen hochgeschreckt hatten. Wir könnten ja eine andere Fischart nehmen, die seien schon filetiert.
Kürzlich habe ich eine Verwandte im Krankenhaus besucht. Keine Privatklinik, sondern ein normales Städtisches Krankenhaus. Die Freundlichkeit im Umgang mit Patienten und Besuchern war beeindruckend. Die Schwestern, die Ärzte grüßten den Besucher, wenn man aneinander vorbeiging. Die Schwestern waren nicht weniger freundlich als das Personal eines gut geführten Hotels.
Kurz, man behandelte die Patienten als Kunden. Kein Wunder, sagte mir meine Verwandte, denn heute haben viele Krankenhäuser Überkapazitäten. Sie müssen sich um jeden Patienten bemühen.
Und damit sind wir wohl beim Kern der Sache: Freundlichkeit - nicht die unterwürfige, sondern die reziproke Freundlichkeit - entsteht dort, wo es ein Verhältnis zwischen Gleichrangigen gibt, von denen jeder Vorteile von Freundlichkeit hat.
Solange die Krankenhäuser nicht darauf angewiesen waren, attraktiv für Patienten zu sein, herrschte der Kasernenhofton, den ich dort als junger Mann einmal erlebt habe. Mangelwirtschaft, wie auch in der DDR. Also Unfreundlichkeit. Heute ist man freundlich miteinander, weil die Patienten das Krankenhaus brauchen, aber eben auch das Krankenhaus die Patienten.
Heute sagt auch in Deutschland die Kassiererin im Supermarkt "Guten Tag". Wir dürften, was die Freundlichkeit angeht, inzwischen in Deutschland ähnliche Verhältnisse haben, wie sie mein Mitarbeiter vor fast vierzig Jahren in den USA kennenlernte.
Ja, ist also diese ganze Freundlichkeit nur der Not geschuldet? Mühsam zustandegebracht, weil man auf Teufel komm raus verkaufen muß? Nein. Überhaupt nicht.
Freundlichkeit hat etwas mit guten Manieren zu tun; sie ist vielleicht der Kern guter Manieren. Gute Manieren haben die Funktion, uns das Zusammenleben angenehmer zu machen. Wenn jemand bei Tisch rülpst, mag das ihm selbst angenehm sein; seinen Tischgenossen aber nicht. Höflichkeit besteht darin, daß man es vermeidet, andere zu verletzen oder auch nur zu ärgern.
Freundlichkeit und Höflichkeit gehören zusammen. Auch Höflichkeit hat, wenn man so will, etwas Gekünsteltes. Es gibt Menschen, die sich der Höflichkeit verweigern, weil sie sich als "echt" darstellen möchten, als "unverbiegbar". Ich bin grob, aber ehrlich, das ist ihre Devise.
Von ihrer Unverbogenheit hat der Andere nur selten etwas. Ihre Grobheit aber beeinträchtigt sein Wohlbefinden.
Freundlichkeit ist angenehm, nicht nur für den Adressaten, sondern auch für den Freundlichen. Indem er die Regeln der Höflichkeit befolgt, fühlt er sich selbst auch gut. Unser Tun hängt von unserem Fühlen ab, unser Fühlen aber auch von unserem Tun.
Wenn ein Kind traurig ist, dann sagt man ihm "Lach doch mal", und indem es lacht, wird es auch wirklich wieder fröhlich. Der amerikanische Psychologe William James und unabhängig der dänische Physiologe Carl Lange haben darauf eine Theorie der Gefühle aufgebaut.
Nun, dann ein freundliches "Frohe Ostern!"
© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: Theodor Fontane. Gemälde von Carl Breitbach (1883). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist.