26. April 2010

Zitat des Tages: "Was bleibt von Angela Merkel?" Friedrich Merz als Historiker. Kein guter freilich

Ich frage mich wie viele andere in der Union: Wie wird diese Kanzlerschaft in die Geschichtsbücher eingehen? Alle Kanzler bis auf Kurt Georg Kiesinger hatten ja mindestens ein großes zentrales Thema, mit dem sie identifiziert wurden, ein Projekt, das geblieben ist. Was bleibt von Angela Merkel? Wofür steht sie so klar und ohne Einschränkungen, dass sie dafür ihr Amt bereit wäre zu riskieren? Bei Adenauer, Erhard, Brandt, Schmidt, Kohl und Schröder war das klar, wenn auch mit sehr unterschiedlichen Themen zu sehr unterschiedlichen Zeiten.

Friedrich Merz im Gespräch mit Christoph Schwennicke und Markus Feldenkirchen. Das Gespräch, in dem auch Wolfgang Clement befragt wurde, steht im aktuellen gedruckten "Spiegel" (17/2010 vom 26. 4. 2010, S. 39 - 42) und ist auch bei "Spiegel-Online" zu lesen.


Kommentar: Wer selbst zu einem Thema im politischen Kampf stand, der ist bekanntlich dazu kein sehr guter Historiker. Als Quelle mag seine Sicht hochinteressant sein; aber ein objektives, distanziertes Urteil wird man von ihm nicht erwarten können.

Friedrich Merz ist ein Merkel-Geschädigter. Sie hat ihn, als die Union die Wahlen von 2002 knapp verloren hatte, aus dem Amt des Fraktionsvorsitzenden gedrängt, das sie ihm, so heißt es, versprochen gehabt hatte. Das war das Ende eines steilen politischen Aufstiegs.

Merz urteilt also über diejenige, die ihm die poltische Karriere kaputtgemacht hat. Er tut das aber nicht in Form einer subjektiven Bewertung, sondern er schlüpft ins Gewand des Historikers: Er vergleicht sie mit den bisherigen Kanzlern; und in diesem Vergleich, will er uns sagen, steht sie schlecht da. Er irrt.



Stimmt es denn, daß alle Kanzler bis auf Kurt Georg Kiesinger mindestens ein großes zentrales Thema hatten, mit dem sie identifiziert wurden?

Adenauer hatte als seine drei großen Themen die Westbindung, die Stabilisierung der deutschen Demokratie und die europäische Einigung. Drei Themen freilich, die er nicht erdacht hatte, sondern die ihm von den Umständen angeboten worden waren. Sein Verdienst lag darin, zu diesen Fragen seiner Zeit klare, einfache und durchsetzbare Antworten zu haben.

Aber Erhard? Er hatte als Kanzler gar kein Thema, sondern schwankte in der Außenpolitik hin und her zwischen "Atlantikern" und "Gaullisten"; im Inneren hatte er das wolkige Projekt einer "formierten Gesellschaft", das glücklicherweise nie aus den Wolken hernieder stieg.

Kiesinger klammert Merz selbst aus. Willy Brandt war in der Tat ein Kanzler der Projekte und der Visionen; der einzige, auf den das wirklich zutrifft, was Merz allen Kanzlern zuschreiben möchte.

Helmut Schmidt hat bekanntlich denen, die Visionen hatte, geraten, zum Arzt zu gehen. Seine Kanzlerschaft hatte kein Projekt und kein "Thema" außer der Entschlossenheit des Kantianers Schmidt, treu seine Pflicht zu tun. Mit dieser Abwesenheit von Visionen steuerte er Deutschland durch die Ölkrise und die Zeit der Bedrohung durch die RAF.

Hatte Helmut Kohl ein "Projekt, das geblieben ist"? Er hatte, als er Kanzler wurde, die Vision von einer "geistig-moralischen Wende"; die Formel wurde in der öffentlichen Diskussion nachgerade zum Witz. Sein Verdienst lag darin, dann aber eben gerade keine Wende zu versuchen, kein Projekt zu verfolgen, keine Vision zu haben.

Wie Helmut Schmidt hat er seine Pflicht getan, und das gut und erfolgreich. Als sich die Chance der Wiedervereinigung anbot, hat er sie mit Diplomatie und Standfestigkeit zu nutzen gewußt. Sein "Projekt" war sie so wenig gewesen, wie es Helmut Schmidts "Projekt" gewesen war, mit der Ölkrise und mit der RAF fertig zu werden.

Und nun gar Gerhard Schröder! Diesem personifizierten Opportunismus ein Projekt und ein Thema zuzuschreiben, grenzt schon an historische Frivolität. Schröder hat das "rot-grüne Projekt", das nie das seine gewesen war, laufen lassen, bis es sich zu Tode gelaufen hatte. Er hat in letzter Minute mit der "Agenda 2010" das Ruder herumgerissen, als seine Regierung anders keine Chance mehr gehabt hätte, die nächsten Wahlen zu bestehen.

Er hat sich in Bezug auf den Irakkrieg so opportunistisch verhalten, wie man nur opportunistisch sein kann: Zuerst, im Sommer 2002, hat er den USA zugesagt, Deutschland werde einer eventuellen militärischen Aktion gegen den Irak keinen Stein in den Weg legen, und dann, um die Wahlen im Herbst 2002 nicht zu verlieren, hat er diese Zusage gebrochen.



Die Größe eines Staatsmanns zeigt sich nicht darin, daß er seine "Themen" und "Projekte" oder gar Visionen hat. Sie besteht darin, daß er dann, wenn die Entwicklung der Dinge von ihm Entscheidungen verlangen, sich richtig entscheidet und seinen Entscheidungen treu bleibt.

Die Kanzlerin Merkel stand 2005 vor den Scherben des zerborstenen "rot-grünen Projekts". Sie stand vor der Herausforderung, Deutschland wieder auf einen Kurs der wirtschaftlichen Vernunft und der außenpolitischen Berechenbarkeit zu bringen. Das ist ihr gelungen.

Sie stand ab Ende 2007 vor der Herausforderung der weltweiten Finanzkrise, die als eine Hypothekenkrise in den USA begonnen hatte und die zu einem Kollaps der Weltwirtschaft hätte führen können. Sie hat mit Geschick und Entschlossenheit Deutschland durch diese Krise gesteuert und auf der europäischen und der globalen Ebene wesentlich zu ihrer Bewältigung beigetragen.

Wird sie einmal mit einem Etikett ausgestattet werden, wie Helmut Kohl mit "Kanzler der deutschen Einheit"? Niemand kann das heute wissen. In ihrem historischen Kontext werden die Konturen einer Kanzlerschaft erst deutlich, wenn sie eben dieses geworden ist: Historie.



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