11. April 2010

Zettels OsterplauderEi (4): Zeit ist Geld. Wenig Geld ist viel Zeit

Kürzlich hatte ich früh am Morgen einen Termin und kam erst danach zum Frühstücken. Ich suchte mir eine kleine Außengastronomie in einer Einkaufspassage aus, die, so war es groß plakatiert, diverse Frühstücke anbot. Gedacht hatte ich mir, daß mir die freundliche Kellnerin alsbald die bestellte Variante bringen würde, deren Bestandteile doch bereitstanden.

Aber es passierte ungefähr eine Viertelstunde nichts. Meine in Richtung Kellnerin gehenden Gesten erreichten deren Aufmerksamkeit augenscheinlich nicht. Dann kam sie, nett lächelnd, mit dem Kaffee und dem Orangensaft. Fein, dachte ich, nun bekomme ich also mein Frühstück.

Aber ich hatte nur zu Trinken bekommen. Wieder vergingen zehn Minuten, bis die Bedienung sich erneut bei mir einfand, jetzt mit einem Tablett, auf dem sich Wurst, Käse, Butter und Honig befanden. Und verschwand wieder.

Nach einer erneuten ähnlichen Zeitspanne bekam ich dann auch noch das, was mich instand setzte, mit dem Frühstücken zu beginnen, nämlich die Brötchen. Mit immer demselben unschuldigen, netten Lächeln serviert. Offenbar war dieser gemütliche Rhythmus der Anlieferung in diesem Lokal das Normalste von der Welt.

Und in der Tat: Denen, die um mich herum frühstückten, ging es nicht anders als mir. Sie schienen es durchaus zufrieden zu sein. Andere hatten ein Pils vor sich, mit dem sie offenbar den Tag begannen, oder sie erfrischten sich mit Säften.

Ich war nicht - wie ich gedacht hatte -, in ein Lokal geraten, in dem Einkaufende, vielleicht auch pausierende Verkäufer, das frühmorgens ausgefallene Frühstück schnell nachholen konnten. Sondern um mich herum saßen Menschen, die jede Zeit der Welt hatten. Plaudernd, lesend, die Passanten beobachtend.

Kurz, es war wie im Kaffeehaus Parsifal in Wien, in dem Karl Kraus sich zu regalieren pflegte, oder im Deux Magots an der Pariser Place St. Germain, wo Sartre seine Stunden verbrachte, wenn er nicht das benachbarte Café de Flore vorzog.

Nur saßen um mich herum keine Bohémiens und Künstler, keine Leute, die genug Geld haben, um sich den Müßiggang leisten zu können. Sondern Menschen, denen man es ansah, daß sie von Hartz IV oder auf einem vergleichbaren Niveau lebten. Ich begriff: Auch das Kaffeehaus-Leben hat sich heutzutage demokratisiert.



Zeit ist Geld. Diese Gleichung meint, daß Zeit so kostbar ist wie Geld; denn je mehr Zeit man hat, umso mehr Geld kann man in dieser Zeit machen, other things being equal. Zeit ist in dieser Sicht dazu da, daß man sie nutzt. Man darf sie nicht verschwenden, seine Zeit. Nutze deine Zeit! Manage sie!

Zeit-Management ist heutzutage etwas, das man im Kurs erlernen kann. Freilich, ganz billig ist es nicht; rund 1100 Euro für das 3-Tage-Seminar, beispielsweise. Da muß man seine Zeit schon gut gemanagt haben, um soviel Geld zu verdienen, daß man sich einen Kurs leisten kann, in dem lernt, seine Zeit zu managen.

Zu demjenigen, der seine Zeit perfekt oder jedenfalls zu seiner Zufriedenheit managt, gibt es zwei Gegentypen. Der eine ist der chaotische Hektiker, der ebenfalls ständig arbeitet und seine kostbare Zeit in Geld verwandeln möchte, der das aber nicht richtig schafft. Er hat das nicht, was er doch so dringend braucht: Er hat keine Zeit. Ihm sitzt die Zeit im Nacken, statt daß er sie im Griff hat. Ihm fehlt die Zeit.

Da ihm gewiß auch die Zeit fehlt, Proust zu lesen, wird er sehr wahrscheinlich dessen Werk "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" für eine Beschreibung seines Zustands halten.



Der andere Gegentyp hat Zeit, weil er sie sich nimmt. Er genießt sie, seine Zeit. Sie ist für ihn keine knappe Ressource, sondern eine reiche Gabe. Er schwelgt nachgerade in Zeit. Darf's ein bißchen mehr sein? Aber gern. Man hat's ja. Man hat Zeit.

Warum hat er Zeit, dieser Zeitgenießer? Klassischerweise gab es dafür zwei Gründe: Entweder war er reich oder ein Taugenichts.

Dieser letztere nahm sich Zeit, obwohl er sie gar nicht hatte. Ein Zeiträuber also, ein Tagedieb. Ein Faulenzer. Einer, den - man vergewissere sich im aktuellen Kreuzworträtsel der "Zeit" unter 12 senkrecht - der französische Schriftsteller Jules Renard trefflich gekennzeichnet hat.

Dieser Eckensteher, dieser seine Zeit totschlagende Mensch hat sie eigentlich nicht verdient, die Zeit. Im Grunde müßte er entzeitnet werden, per Gerichtsbeschluß. Aber das geht natürlich nicht. Nicht in einem Rechtsstaat, in dem ein Jeder das Recht auf seine Zeit hat; so, wie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.

Dann aber zweitens gab es denjenigen, der die Zeit, die er vergeudet, zu Recht besitzt. Den Rentier, den Flaneur, den Privatier; den Herrn seiner Zeit. Er hatte Zeit zur Verfügung, so wie er über seinen Butler und seine Equipage verfügen konnte.

Der Dandy war solch ein Müßiggänger; einer, der seine Zeit nicht managen mußte, sondern der sie sich vertrieb, nach Lust und Laune. Der Bohémien im Kaffeehaus war so etwas wie die Kümmervariante des Dandy. Er bildete die Übergangsform zum Taugenichts.



Diejenigen, die ich an jenem Tag um mich herum beobachtete, während ich auf die einzelnen Lieferungen meines Frühstücks wartete, paßten in keine dieser Kategorien.

Sie waren keine Taugenichtse, aber ganz gewiß waren sie auch keine Herren. Dennoch genossen sie es augenscheinlich, unbegrenzt Zeit zu haben. Was sie zum Leben brauchten, auch zum Pils oder zum Frühstück außer Haus, das hatten sie offenbar, auch ohne daß sie ihre Zeit daran wenden mußten, es sich zu verdienen.

Insofern glichen sie den reichen Müßiggängern vergangener Tage. Nur waren sie nicht reich, sondern eher arm. Nicht richtig arm; aber es mögen schon einige dabei gewesen sein, die weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens (Median) verdienen.

Sie repräsentieren damit ein Phänomen unserer Zeit, das es in der gesamten Geschichte noch nie gegeben hat: Den (eher) Armen, der sich den Müßiggang leisten kann. Das heißt nicht, daß jeder, der in diese Kategorie fällt, sich den Müßiggang frei gewählt hat. Viele würden vielleicht ihre Zeit lieber zum Verdienen einsetzen, statt sie zu vertreiben. Aber es geht, daß sie sich die Zeit vertreiben.

Sie müssen deswegen nicht frieren und nicht hungern. Sie können sich sogar ein Frühstück in der Außengastronomie in einer Einkaufsgalerie leisten. Das kleine zu drei Euro zwanzig, das große für fünf Euro zehn.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: Theodor Fontane. Gemälde von Carl Breitbach (1883). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist.