5. April 2010

Zettels OsterplauderEi (3): Alice im 3-D-Wunderland. Das Kino wird immer wirklicher. Das Kino wird immer phantastischer

Nein, wegen Lewis Carroll sind wir nicht in "Alice im Wunderland" gegangen. Mit verfilmter Literatur kann ich nichts anfangen.

Beim Lesen verbindet sich Sprache mit den Bildern und den Gedanken, die im Geist des Lesers entstehen; das macht seinen Reiz aus. Wird ein Buch verfilmt (das "ver-" ist verräterisch), dann bleibt von der Sprache kaum etwas übrig; die eigenen Bilder werden durch andere, meist ärmlichere ersetzt. Und für Gedanken läßt der Film ohnehin kaum Zeit, denn er zwingt ja dem Zuschauer seine Geschwindigkeit auf, während der Leser sich im Buch so schnell oder so langsam voranbewegen kann, wie es gerade richtig ist.

Ich kenne keine einzige Literaturverfilmung, die mir gefallen hätte; vorausgesetzt natürlich, daß ich das Buch kannte. Wenn nicht, dann war es selbstredend ein Film wie jeder andere.

Besonders mißfällt mir verfilmte Literatur dann, wenn es einen Autor getroffen hat, den ich schätze. Wie zum Beispiel den großen Lewis Carroll, als Sprach- und Gedankenkünstler ein Vorläufer von Arno Schmidt. Dennoch bin ich gern mit meiner Frau in diesen Film gegangen. Nicht wegen Lewis Carroll. Der Grund war 3-D.



Was für ein Weg ist das, den der Film seit seinen Anfängen vor mehr als einem Jahrhundert zurückgelegt hat! Man kann es sehr schön in dem Wikipedia-Artikel "History of Film" nachlesen: Wie die Brüder Lumière mit einer fest auf ein Stativ montierten Kamera einen der ersten Filme drehten mit der aufregenden Handlung "Arbeiterinnen strömen aus der Fabrik"; wie dann Schritt für Schritt die Stilmittel des heutigen Films erfunden wurden: der Gegenschnitt, die Kontinuität der Handlung über verschiedene Einstellungen hinweg, die bewegliche Kamera, Parallelhandlungen und so fort.

Dann wurde der Film, um 1930 herum, tönend; etwas später auch noch farbig und in den fünfziger Jahren, mit der Erfindung von CinemaScope und ähnlichen Verfahren, so breit, daß er bei richtiger Sitzposition das ganze Gesichtsfeld, wenn nicht gar das Blickfeld des Zuschauers ausfüllte.

Das schien es dann eigentlich gewesen zu sein: Der CinemaScope-Ton-Farbfilm, wie er vor einem knappen halben Jahrhundert - und also ein gutes halbes Jahrhundert nach der Erfindung des Kinos - eingeführt wurde, bietet visuell das, was man vom Kino nur erwarten kann. Nur der Ton wurde später durch Mehrkanal-Systeme noch deutlich verbessert.

Mehr schien technisch kaum noch zu gehen. Der Film hatte sich immer mehr der Realität genähert. Blieben nur noch exotische Ideen. Wie das Geruchskino: Tannenduft, wenn der Förster durch den Silberwald schreitet. Und wenn Käptn Ahab den Moby Dick jagt, eine Luft, die nach Salz schmeckt und nach Meer. Und es blieb 3-D.



Der Gedanke, den Film auch noch dreidimensional werden zu lassen, um ihn einen letzten Schritt an die Realität anzunähern, bietet sich an, wenn man weiß, wie unser Tiefensehen funktioniert.

Daß wir die Welt dreidimensional sehen, beruht wesentlich darauf, daß wir Primaten - anders als etwa das Kaninchen oder das Pferd - die Augen so stehen haben, daß sich die Abbildungen auf den beiden Netzhäuten weitgehend gleichen. Nur ist die eine aufgrund der Gesetze der geometrischen Optik etwas gegen die andere horizontal verschoben (Querdisparation); und zwar für das einzelne Objekt umso mehr, je näher es ist. Das nutzt das visuelle System aus, um aus Querdisparation Tiefe zu errechnen.

Nimmt man nun eine Szene mit zwei Kameras im richtigen Abstand auf und bringt man es durch geeignete Filterung fertig, bei der Vorführung jedem Auge eine der beiden Versionen zu zeigen, dann entsteht künstliche Querdisparation, und der Zuschauer sieht den Film dreidimensional. Ein einfaches Prinzip, aber schwer zu realisieren. So schwer, daß es ein halbes Jahrhundert dauerte, bis aus dem Gedanken eine Technik geworden war, die jetzt - seit wenigen Jahren erst - sich durchzusetzen verspricht.

Es gab viele technische Probleme, die das Vergnügen leicht verderben konnten. Zum Beispiel wurden die beiden Versionen bei der Projektion schon einmal asynchron. Schon bei kleinen zeitlichen Abweichungen sah man nicht mehr so sehr Tiefe, als daß man vielmehr Kopfschmerzen bekam. Bewegte man zu sehr den Kopf, dann erschienen statt Tiefe Doppelbilder.

Derartige Probleme führten dazu, daß der 3-D-Film nie recht aus den Puschen kam. Ähnlich wie auch Cinerama - nicht eigentlich ein 3-D-Verfahren -, so eindrucksvoll es war. Der Film "Cinerama Holiday", den ich Ende der Fünfziger Jahre im Empire in Paris gesehen habe, gehörte zu den eindrucksvollsten Kinoerlebenissen meiner Jugend. Aber es war doch mehr ein Spektakel als eine Weiterentwicklung der Filmkunst. Und über die Ränder dort, wo sich die Bilder der drei Projektoren aneinanderfügen sollten, mußte man großzügig hinwegsehen.

Heute hat man 3-D im Griff. Verfahren wie RealD Cinema bieten die perfekte Illusion der Tiefe. So realistisch, daß man unwillkürlich den Kopf einzieht, wenn ein Vogel oder ein Objekt - derartige Effekte verkneifen sich die Filmemacher natürlich nicht - auf den Zuschauer "zufliegt". Das Kino ist ultimativ realistisch geworden, realissimo.



Ist es das wirklich? "Alice im Wunderland" war der zweite 3-D-Film, den wir jüngst gesehen haben. Der andere war "Up", ein wunderbarer, märchenhaft-philosophischer Animationsfilm. (Die Verdeutschung "Oben" ist einmal mehr nachgerade schwachsinnig. Der Film heißt eben nicht "Above", und es geht eben nicht ums Obensein, sondern um die Aufwärtsbewegung. "Aufwärts" oder "Hinauf" wäre richtig gewesen, oder auch "Hoch!"). Beide sind nun allerdings das Gegenteil von realistischen Filmen.

Es gibt da zwei seltsam gegenläufige Entwicklungen.

Einerseits ist der Film in seiner gut hundertjährigen Geschichte immer realistischer geworden; realistisch in dem Sinn, daß er immer perfekter das nachahmt, was wir sehen und hören, wenn wir Information aus der Realität aufnehmen. Die zappelnden schwarzweißen Männlein in den flackernden Filmen der Gebrüder Lumière hatten nur eine sehr abstrakte Ähnlichkeit mit wirklichen Menschen. Der heutige dreidimensionale, farbige Breitwandfilm im Mehrkanalton bietet alle Möglichkeiten, dem Zuschauer die Illusion zu geben, er erlebe ein reales Geschehen.

Aber man bietet ihm ja kein reales Geschehen.

Die Gebrüder Lumière zeigten die erwähnten Arbeiterinnen, die aus der Fabrik strömen; oder man sah Schmiede bei der Arbeit oder das Angeln von Goldfischen. Später, als die Filme länger sein konnten, gab es "Dramen"; aber das war fotografiertes Theater. Die meisten Filme waren realistisch in dem Sinn, das das gezeigte Geschehen sich so hätte in der Wirklichkeit abspielen können; auch wenn man anfangs noch die Cowboys ihre Abenteuer in abenteuerlichen Kulissen erleben ließ. Bald aber verließ die Crew für die Außenszenen die Studios; die Prärie und die Rocky Mountains waren fortan real.

In diesem Film realistisch sind auch heute noch die meisten Filme - aber just diejenigen nicht, die uns dank 3-D auf einer anderen Ebene ein Höchstmaß an Realismus bieten. In "Alice im Wunderland" wähnen wir uns mitten im Geschehen; aber dieses Geschehen besteht darin, daß eine Raupe weise spricht, daß Spielkarten und Schachfiguren gegeneinander fechten und daß der gar grausliche Drachen Jaberwocky die Nüstern bläht und mit den Tatzen fuchtelt.

Ist das nicht seltsam? Die Entwicklung zu größtem sinnlichen Realismus geht einher mit einer Entwicklung zum Fantastischen auf der kognitiven Ebene.

Vielleicht ist es aber doch gar nicht verwunderlich, sondern bei genauerer Betrachtung eigentlich ganz natürlich.

Man hat Hollywood die "Traumfabrik" genannt. Mit seinen Schnitten, mit dem Wechsel der Perspektive, mit ineinander verwobenen Handlungen hat der Film als Genre viel mehr Ähnlichkeit mit Träumen als mit dem Erleben realen Geschehens. Oder anders gesagt: Daß wir es überhaupt fertig bringen, einen Film zu verstehen, ihm zu "folgen", liegt daran, daß unser Gehirn Träume, Phantasien, Gedankenspiele, Tagträume erzeugen kann.

Wir sind von der Evolution mit Mechanismen ausgestattet, die uns zur Aufnahme von Filmen befähigen; so wie unsere angeborene Fähigkeit zum Sprachverstehen das Lesen ermöglicht. Und in diesen Fähigkeiten zum Träumen und Phantasieren trifft sich beides: Der Realismus auf der bildhaft-sinnlichen Ebene und die Lösung von der Realität auf der kognitiven Ebene.

Vermutlich ist das einer der Gründe dafür, daß Filme wie "Alice im Wunderland", "Up" und jüngst "Avatar" so ausnehmend erfolgreich sind. Sie sprechen mit Mitteln der höchstentwickelten Technologie sehr elementare Bedürfnisse an, sie bedienen sich phylogenetisch alter Mechanismen unseres Gehirns.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: Theodor Fontane. Gemälde von Carl Breitbach (1883). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist.