13. Oktober 2010

Deutschland im Herbst. Deutschland paradox. Anmerkungen zur Lage der Nation

Wer in diesen Tagen aus dem Ausland auf Deutschland blickt, dem bietet sich ein seltsames Bild.

Er schaut auf ein Land, das besser als fast jedes andere - sieht man von China ab - durch die weltweite Wirtschaftskrise gekommen ist; und aus ihr wieder heraus. In FAZ.Net schreibt heute Philip Plickert:
Die führenden deutschen Wirtschaftsforschungs- institute prognostizieren Deutschland einen kräftigen Aufschwung mit 3,5 Prozent Wachstum in diesem Jahr. (...) Durchschnittlich werde es nur noch weniger als 3 Millionen Arbeitslose geben, heißt es nach Informationen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in der Gemeinschaftsdiagnose der acht Institute. (...) Mit einem Wachstum von 3,5 Prozent läge Deutschland deutlich über dem Durchschnitt in Europa, das ohne Deutschland nur gut 1 Prozent Wachstum in diesem Jahr erlebt, sowie auch über den allermeisten anderen Industriestaaten der Welt.
In Deutschland herrschen ein sozialer Frieden und eine politische Stabilität, wie man sie sich in den anderen Ländern des Westens wünschen würde.

Und wir sind des weiteren ein angesehenes Land, ein Land ohne Feinde. Gestern erst hat sich das wieder erwiesen, als Deutschland schon im ersten Wahlgang von der Vollversammlung der UNO in den Weltsicherheitsrat gewählt wurde.

Wir könnten eigentlich rundum zufrieden sein. Wie sehr, das zeigt ein Blick auf andere Länder.

In Frankreich beispielsweise erlebt die Regierung gerade, wie die Gewerkschaften versuchen, das Land lahmzulegen, indem sie die Versorgung mit Treibstoffen blockieren. Das Land ist zerstritten über die Einwanderungspolitik, über die Renten- und die Sozialpolitik. Ein wirtschaftlicher Aufschwung, der dem deutschen vergleichbar wäre, ist nicht in Sicht.

In den USA betitelt die New York Times heute einen Bericht über die Wirtschaftslage: "Across the U.S., long recovery looks like recession" - quer über die USA sehe die lange Erholung mehr wie eine Rezession aus. In dem Artikel wird beschrieben, wie Bürogebäude teilweise leerstehen, wie Hausbesitzer ihr Haus zu einem Preis verkaufen, der noch unter den darauf lastenden Schulden liegt, wie Jobs verloren gehen und Kurzarbeit eingeführt wird, wie lediglich die kostenlosen Suppenküchen boomen.

Von außen gesehen ist Deutschland wie eine Insel der Seligen. Und doch ist dieses Deutschland im Herbst 2010 ein Land, in dem es gärt.



Es ist ein Land, in dem das Parteiensystem in einem Maß in Bewegung geraten ist, wie es das seit Gründung der Bundesrepublik nicht gegeben hat.

Binnen eines Jahres nach den Bundestagswahlen 2009 ist die Regierungspartei FDP in den Umfragen auf ein Drittel ihrer damaligen Wählerstimmen abgestürzt, während die drei Oppositionsparteien zusammen in zwei heute veröffentlichten Umfragen auf 59 Prozent (Emnid) bzw. 60 Prozent (Forsa) kommen. Forsa sieht gar die FDP mit 4 Prozent nicht mehr im Bundestag, wenn jetzt gewählt werden würde; während die Grünen mit 25 Prozent die zweitstärkste Partei wären - hinter der CDU, die nur noch 29 Prozent erhielte, und noch vor der SPD mit 23 Prozent.

Es ist paradox: Es geht uns Deutschen so gut wie schon lange nicht mehr. Aber eine große Mehrheit will die Regierung weg haben. Es gibt weniger soziale Konflikte als rings um uns, aber seit Wochen nehmen wir die kommunalpolitische Auseinandersetzung um den Umbau eines Bahnhofs in Stuttgart bundesweit so wahr, als begehre das Volk gegen seine Oberen auf.

Schon werden Parallelen zur Götterdämmerung der rotgrünen Regierung Schröder im Jahr 2005 gezogen. In der FAZ entwirft heute der Leiter von deren Berliner Büro, Günter Bannas, Szenarien für die Zeit nach Merkel. Oder vielmehr: Er gibt das wieder, was ihm offenbar aus den Parteien an Überlegungen für den Fall zugetragen wurde, daß die CDU die Wahlen in Baden-Württemberg verliert. Guttenberg dann als der neue Kanzler? Oder läßt sich Roland Koch doch noch zum Verbleiben in der Politik überreden und wird Merkels Nachfolgerr?

In diesem Land, in dem alles in Ordnung zu sein scheint, brodelt es. Es zeichnen sich politische Verwerfungen ab; es entwickelt sich eine unübersichtliche Lage, in der fast alles möglich erscheint. Was ist da los?



Mir scheint, daß sich im Augenblick eine langfristige und eine aktuelle Entwicklung überlagern.

Aktuell haben wir es mit einem Phänomen zu tun, das man in der Geschichte immer wieder findet: Dankbarkeit ist kein Motiv für Wahlentscheidungen. Wenn ein Politiker eine schwere Krise gemeistert hat, dann heißt das keineswegs, daß man ihn weiter an der Spitze haben möchte. Er repräsentiert ja eben die Mühsal der Krise. Ist diese vorbei, dann will man nicht länger Mühsal, sondern dann will man Angenehmes.

Nach dem Zweiten Weltkrieg stand Winston Churchill in den Augen der Briten zwar für den Sieg über Deutschland, aber auch für Blut, Schweiß und Tränen. Sie wählten ihn bei der ersten Gelegenheit ab und entschieden sich für Labour, das ihnen soziale Wohltaten versprach.

So scheint es jetzt auch der Kanzlerin zu gehen. Man war froh über die ruhige Sicherheit, mit der "Mutti" uns durch die Krise steuerte. Jetzt geht es uns wieder gut; jetzt können wir uns wieder den "weichen" Themen widmen. Und diese verbindet man nun freilich nicht mit der Kanzlerin. (Siehe Noch nie hatte sich ein Jahr nach einer Wahl die Parteinlandschaft so grundlegend verändert wie jetzt. Versuch einer Erklärung; ZR vom 27. 9. 2010).

Aber dieser momentanen Entwicklung überlagert sich - so meine These - eine längerfristige (siehe Die dritte Phase in der Geschichte der Bundesrepublik geht in diesen Tagen zu Ende. Eine These; ZR vom 14. 9. 2010):

Wir stehen am Ende der dritten Phase in der Geschichte der Bundesrepublik. Auf die ersten zwanzig Jahre des Wiederaufbaus folgten zwischen 1970 und 1990 zwanzig Jahre einer kulturellen Umwälzung, die aus Deutschland ein anderes Land machten. Danach gab es, beginnend mit der Wiedervereinigung, eine zwanzigjährige Periode der Stagnation und der Etablierung einer linksökologischen Ideologie, die sich wie Mehltau über das Land legte.

Diese Zeit geht - so meine These - in diesen Wochen und Monaten zu Ende. Unter der Decke der politischen Korrektheit haben sich Themen gestaut; vor allem dasjenige der Einwanderung. Das Buch von Thilo Sarrazin hat ein so ungeheures Aufsehen erregt, weil es zum richtigen Zeitpunkt kam; weil es das thematisiert, was vielen Menschen drängend gegenwärtig war und ist; was die herrschende Meinungsdominanz aber aus dem öffentlichen Diskurs herausgehalten hatte.



In solchen Umbruchzeiten beherrschen mit einem Schlag Themen die Diskussion, die zuvor unerheblich gewesen waren. Themen wie Emanzipation und Selbstverwirklichung in der Umbruchzeit von 1970; Themen wie Nachhaltigkeit, Energiesparen und politische Korrektheit in der Umbruchzeit ab 1990, die in der Regierungsübernahme durch Rotgrün 1998 gipfelte.

Welches die Themen der jetzigen Umbruchzeit sein werden, zeichnet sich ab: Deutschland wird sich den in den letzten beiden Jahrzehnten verdrängten Fragen stellen müssen. Es wird also (endlich) um unsere Kultur und deren Selbstbehauptung gehen, um unsere Zukunft in einer Zeit, in der die deutsche Bevölkerung drastisch schrumpfen wird. Es wird um Einwanderung gehen, um Assimilation.

Es wird um die Freiheit des Einzelnen gehen, vor allem auch um seine Selbstverantwortung; darum, ob es erforderlich oder auch nur hilfreich ist, daß der Staat sich in alle Lebensbereiche hineindrängt. Es wird um Werte wie Ehrlichkeit, Verantwortlichkeit und eigene Identität gehen. Reinhard K. Sprenger hat das vor einigen Tagen in einem Beitrag für "Welt-Online" ausgezeichnet zusammengefaßt.

Kurz, auf der Tagesordnung werden in den kommenden Jahren Themen stehen, die in den USA seit Jahrzehnten diskutiert werden; Themen der Konservativen und der (im europäischen Sinn des Worts) Liberalen.

Diese Hälfte des politischen Spektrums ist in den beiden Jahrzehnten des Mehltaus zurückgedrängt worden; man hat versucht, den Konservativismus in die Nähe der Rechtsextremen zu rücken und den Liberalismus mit dem als Schimpfwort verstandenen Etikett "neoliberal" zu marginalisieren. Selbst die CDU hat sich in weiten Teilen - und leider unter Anleitung durch die Kanzlerin - auf den Weg nach links gemacht.

Auf Dauer kann man aber nicht eine der beiden großen politischen Strömungen an den Rand drängen. Man kann es nicht, solange eine Demokratie funktioniert. Die unsere tut das; den deutschen Kommunisten fehlt es jedenfalls gegenwärtig an der Macht, daran Entscheidendes zu ändern.

Also wird das Pendel zurückschwingen, so wie es das immer getan hat. Wir werden als Ergebnis des jetzigen Umbruchs eine liberalkonservative Renaissance erleben. Das jedenfalls ist meine Folgerung aus der jetzigen Situation. Natürlich kann sie - wie jede Prognose - irrig sein.



Aber - so werden Sie vielleicht fragen - ist das nicht das Wunschdenken eines Liberalkonservativen? Wie paßt damit der Umstand zusammen, daß in den momentanen Umfragen SPD, Grüne und Kommunisten zusammen um die 60 Prozent erreichen?

Es überlagern sich, wie gesagt, eine langfristige und eine kurzfristige Tendenz. Sie überlagern sich aber nicht einfach additiv, sondern sie interagieren miteinander.

Die Sarrazin-Debatte zeigt, wie sehr die bisher unterdrückten Themen die Menschen beschäftigen. Aber diese Debatte findet in der Politik keinen Ansprechpartner.

Hätten wir eine konservative Partei; hätten wir eine liberale Partei, die diesen Namen verdient, dann wären sie es, die diese Debatte aufnehmen könnten. Dann würden sich die Sorgen und Erwartungen vieler Menschen auch in den Umfragewerten für diese Parteien widerspiegeln.

Die Union in ihrem jetzigen Zustand ist aber unfähig, diese Strömungen aufzunehmen; daran ändern auch taktische Vorstöße wie der kürzliche des unermüdlich opportunistischen Ministerpräsidenten Seehofer nichts. Hinsichtlich der FDP bleibt abzuwarten, ob sie wieder zum Liberalismus zurückfinden wird, so wie das die Autoren des "Liberalen Aufbruchs" wollen (siehe "Die individuelle Freiheit nach vorn stellen". Frank Schäffler über den "Liberalen Aufbruch"; ZR vom 20. 9. 2010).

Parteien, die in Umbruchzeiten erfolgreich sein wollen, brauchen klare Positionen.

In der ersten Phase der Bundesrepublik standen Union und FDP für Freiheit und Kapitalismus; in der zweiten standen Sozialdemokraten und FDP für einen gesellschaftlichen Umbruch, der die traditionellen Strukturen beseitigen sollte; in der dritten Phase standen Rot und Grün für den Versuch, eine formierte Öko-Einheitsgesellschaft mit Klimamoral zu schaffen.

Wenn Union und FDP wieder erfolgreich sein wollen, dann müssen sie heraus aus der Defensive. Dann darf die Union nicht weiter nach links schielen, sondern sie muß ihre konservativen Wähler zurückzugewinnen versuchen. Dann muß die FDP wieder ein liberales Profil erhalten.

Solange sie das nicht tun, überlassen Union und FDP der Linken die Meinungsdominanz. Dann wird sich die Unruhe, die in dieser gegenwärtigen Umbruchzeit überall zu spüren ist, teils an grünen Inhalten festmachen, wie jetzt in Stuttgart zu beobachten; teils wird sie außerhalb der Parteipolitik bleiben.

Die Proteste gegen S 21 sind dafür symptomatisch: Bei vielen der Demonstrierenden dürften sie aus einer eher konservativen Haltung kommen; aber sie richten sich wesentlich gegen die CDU, und mangels einer anderen geeigneten Partei nützen sie den Grünen. So wird paradoxerweise der aktuelle Trend zugunsten der Grünen auch noch durch die Umbruchzeit verstärkt. Unruhe sucht sich auf die Zukunft gerichtete Inhalte; und sie nimmt sie, wo sie angeboten werden.



Für die Titelabbildung dieses Artikels habe ich ein Bild von 1840 verwendet. Diese Zeit nennen wir "Biedermeier"; und so wurde auch das Bild des unbekannten Künstlers vom Auktionshaus Zeller benannt: "Biedermeier-Familienportrait im Vestibül, seitlich Durchblick auf Park, um 1840".

Das Biedermeier kennen wir als eine ruhige, fast behäbige Zeit, sehr ähnlich der Idylle in der heutigen Bundesrepublik. Aber 1840 - das war nicht nur Biedermeier, sondern es war auch die Zeit des "Vormärz"; so genannt, weil man diese Epoche im Rückblick als eine Zeit des Gärens erkennen kann; als Vorbereitung dessen, was im März des Jahres 1848 dann zur Eruption führte.

Die Übergänge zwischen den Phasen in der Geschichte der Bundesrepublik sind sehr unterschiedlich verlaufen; keiner war zum Glück so blutig wie die gescheiterte Revolution von 1848. Mit einer Eruption müssen wir nicht rechnen.

Daß der Mehltau der vergangenen zwei Jahrzehnte hinweggeblasen wird, ist aber zu erwarten. Auf die eine oder andere Art.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelabbildung: Porträt einer Familie im Biedermeier; von einem unbekannten Künstler, ca 1840; bearbeitet. Mit Dank an Rayson für den Hinweis auf den Aufsatz von Reinhard K. Sprenger.