15. Oktober 2010

Gedanken zu Frankreich (36): Der außerordentliche Außenminister Bernard Kouchner wird sehr wahrscheinlich abtreten

Ich bin nicht sicher, ob es ein Trend ist oder eher eine zufällige Konstellation: Man hat den Eindruck, daß die Außenminister immer unwichtiger werden und die Außenpolitik immer mehr eine Sache der Regierungs- oder Staatschefs wird. Die meisten Außenminister erscheinen als deren Gehilfen, nicht als die Hauptakteure.

Zur Zeit der Sowjetunion kannte jeder politisch Interessierte deren Außenminister; Molotow, Gromyko, Schewardnadse waren ständig in den Schlagzeilen. Aber können Sie auf Anhieb sagen, wer heute russischer Außenminister ist? (Sergej Lawrow).

Die amerikanische Außenpolitik wurde einst von Ministern wie John Foster Dulles, Henry Kissinger, Madeleine Albright und Condoleeza Rice geprägt. Aber selbst Hillary Clinton, doch eigentlich als ehemalige Konkurrentin Obamas um das Amt des Präsidenten ein politisches Schwergewicht, wird nicht als die Architektin der US-Außenpolitik wahrgenommen.

Als dieser erscheint Präsident Obama. Und in Deutschland hatte weder Walter Steinmeier noch hat gar jetzt Guido Westerwelle die Statur eines Hans-Dietrich Genscher oder eines Joschka Fischer. Die Außenpolitik gestaltet in der allgemeinen Wahrnehmung die Kanzlerin selbst.



Nicht anders ist es in Frankreich. Dort sind Außen- und Verteidigungspolitik dem Verantwortungsbereich des Präsidenten zugeordnet (domaine réservé); d.h. das Parlament hat hier nicht dieselben Rechte wie bei den anderen Ressorts. Selten konnten sich Außenminister gegen den Präsidenten profilieren, wie Dominique de Villepin zur Zeit des Irakkriegs als Minister des - freilich damals schon angeschlagenen - Jacques Chirac.

Eine solche Ausnahme eines selbständig agierenden Außenministers ist der jetzige Amtsinhaber Bernard Kouchner nicht. Und das, obwohl er eine der eigenwilligsten Gestalten ist, die jemals am Quai d'Orsay residiert haben, in jenem altehrwürdigen Gebäude, in dem seit 1853 das Außenministerium residiert.

Bernard Kouchner ist ein Mann, der eigentlich nie hätte Außenminister des Präsidenten Sarkozy werden können.

Denn erstens hat Kouchner, dieser außerordentliche Außenminister, einen Beruf, der ihn nicht eben für dieses Amt prädestinierte: Er ist Arzt; Facharzt für Gastroenterologie.

Zweitens ist er als Enkel von Juden, die Anfang des 20. Jahrhunderts aus Lettland nach Frankreich einwanderten (seine Großeltern wurden in Auschwitz ermordet), kein Angehöriger der französischen Oberschicht; ganz anders als etwa sein Vorgänger de Villepin, ein Sproß aus uraltem Adel. Noch nicht einmal eine der Eliteschmieden, der Grandes Écoles, hat Kouchner besucht, über die sich Hochbegabte sozusagen in die Oberschicht kooptieren lassen können.

Drittens hat Kouchner eine politische Vergangenheit, die ihm gewiß keine guten Voraussetzungen mitgab, ins Amt des Außenministers einer Rechtsregierung zu gelangen.

Er begann sein politisches Engagement als Mitglied der Jugendorganisation der französischen Kommunistischen Partei, für deren Zeitschrift er als Redakteur arbeitete. Als frisch ordinierter Arzt war er ab 1969 in der damals so genannten "Dritten Welt" engagiert, unter anderem in Biafra, in Vietnam und in Jordanien.

1971 gehörte er zu den Gründern der Organisation Médecins sans frontières (Ärzte ohne Grenzen); für die er unter anderem vietnamesischen Flüchtlingen half, als die nordkoreanischen Kommunisten 1975 dort die Macht übernahmen.

Auch in der französischen Innenpolitik engagierte sich Kouchner; inzwischen nicht mehr bei den Kommunisten, sondern bei den Sozialisten. Er wurde erst Staatssekretär, dann Gesundheitsminister in sozialistischen Regierungen unter Mitterand. 2007 gehörte er zum Wahlkampf-Team der sozialistischen Kandidatin Ségolène Royal.



Gewählt wurde nicht sie, sondern Nicolas Sarkozy. Und zur allgemeinen Überraschung wurde Kouchner Außenminister in dessen Kabinett; unter Premierminister Fillon.

Wie konnte es zu dieser seltsamen Partnerschaft kommen, die Kouchner sofort den Ausschluß aus der Sozialistischen Partei einbrachte? Sarkozy und Kouchner verfolgten ganz unterschiedliche Ziele.

Nicolas Sarkozy begann seine Amtszeit mit hochfliegenden Plänen, aus denen freilich wenig geworden ist. Er wollte das Land tiefgreifend modernisieren. Dazu suchte er eine möglichst breite politische Basis, unter Einbeziehung von Politikern der Linken (siehe Gedanken zu Frankreich (13): Bayrou ist raus, Sarkozy spielt Bayrou; ZR vom 25. 5. 2007); l'ouverture hieß das, die Öffnung.

Kouchner seinerseits hatte - so begründete er seinen Schritt in einem Artikel in Le Monde - fast vierzig Jahre für die "défense des mêmes idéaux de solidarité et de progrès", die Verteidigung derselben Ideale der Solidarität und des Fortschritts gekämpft. "Ministre, je porterai haut ces valeurs de la diplomatie française". Als Minister werde er diese Werte der französischen Diplomatie hochhalten.

Kouchner wollte das Amt nutzen, um seine alten Ideen mit neuen - und machtvolleren - Mitteln zu verfolgen. Sarkozy wollte ein Aushängeschild für seine Politik der Öffnung nach links; er mag auch den Idealisten Kouchner ausgesucht haben, um selbst in Fragen der französischen Machtpolitik ungestört die Fäden in der Hand halten zu können.



Gut gegangen ist das für keinen von beiden. Sarkozy ist längst vom Reformer zu einem Präsidenten geworden, der kaum noch agieren kann; sondern der froh sein muß, wenn er und seine Partei nicht von der erstarkten Linken und den Rechtsextremen in den Zangengriff genommen werden. Kouchner hat humanitär wenig ausrichten können und stand immer im Schatten Sarkozys, von dem er sich nicht selten gedemütigt fühlte.

Dennoch hielt man aneinander fest, jetzt schon dreieinhalb Jahre. Selbst als Nicolas Sarkozy im Juni 2009 sein Kabinett tiefgreifend umbildete (siehe Kabinettsumbildung in Frankreich. Warum geht das nicht auch in Deutschland?; ZR vom 24. 6. 2009), beließ er Kouchner auf seinem Posten.

Jetzt aber ist dieser offenbar entschlossen, von sich aus das Handtuch zu werfen. Das wurde vor einigen Tagen in einem Artikel des Nouvel Observateur enthüllt, den Vincent Jauvert, einer der Autoren, gestern in seinen Blog gestellt hat.

Der Artikel basiert offenkundig auf Indiskretionen aus dem Kreis der unmittelbar Beteiligten. Danach hat Kouchner im Anschluß an die erste Kabinettssitzung nach der Sommerpause am 25. August Präsident Sarkozy sein handschriftliches Rücktrittsgesuch überreicht. Darin begründet er seinen Rücktritt unter anderem mit Sarkozys Vorgehen gegen die in Frankreich lebenden Roma und mit Demütigungen, die ihm "von Beratern des Präsidenten" zugefügt worden seien.

Kouchner will laut Nouvel Observateur mit seinem Rücktritt noch einige Tage warten, bis er seine letzte Reform abgewickelt hat, die Neuorganisation der französischen Kulturarbeit im Ausland.

Wie ist seine Amtszeit zu bewerten? Daniel Cohn-Bendit hat ihn sarkastisch "Bernard Sarkozy" genannt.

In der Tat hat der Präsident ihn immer wieder gedemütigt, immer wieder Außenpolitik über seinen Kopf hinweg gemacht. Das ging so weit, daß er zum Beispiel Kouchner (der sich immer noch als Sozialdemokrat versteht) dazu zwang, öffentlich zu bekennen, wie er bei den Europawahlen stimmen werde - nämlich für die Partei Sarkozys, die UMP. Ein französischer Minister, der auch für Europa zuständig sei, müsse das, hatte Sarkozy befunden. Und Kouchner kuschte.

Die Demütigungen gingen so weit, daß der Außenminister von wichtigen außenpolitischen Entscheidungen, die im Präsidialamt getroffen worden waren, erst aus der Presse erfuhr; so zum Beispiel von der Unterzeichnung eines französisch-chinesischen Dokuments, das vorausgegangene Differenzen für beendet erklärte. Wichtige Verträge durfte nicht Kouchner unterzeichnen, sondern das tat der Chef des Präsidialamts Claude Guéant. Eine von Kouchner geplante Reise an die Elfenbeinküste verbot ihm Sarkozy öffentlich.

Daß Kouchner dennoch so lang geblieben ist, hatte fast etwas Masochistisches; oder sagen wir: etwas Aufopferungsvolles. Er ließ sich das alles gefallen, weil er offenbar immer noch überzeugt war, in diesem Amt etwas für die gute Sache tun zu können.

Die Franzosen nehmen ihn auch so wahr, als einen guten Menschen: 55 Prozent haben eine gute Meinung vom ihm, ein Spitzenwert für einen französischen Politiker. Aber 57 Prozent finden auch, daß er sein Amt nicht effizient führt.

Kouchner ist ein ganz ungewöhnlicher Mann; ein eigenwilliger Idealist im Haifischbecken der Politik. Eigenwillig und - wie seine ganze Karriere zeigt - immer gut für eine Überraschung. Auch daß er seine Rücktrittserklärung doch noch in letzter Minute zurückzieht, hält Vincent Jauvert für möglich.



Sie vermissen in diesem Artikel ein Porträt Bernard Kouchners? Klicken Sie hier. Dort finden Sie auch den Artikel des Nouvel Observateur.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie findet man hier. Titelvignette: Eugène Delacroix, La Liberté guidant le peuple (1830); Ausschnitt.