3. Oktober 2010

Zum Tag der deutschen Einheit: Erinnerungen an den Sommer 1990 im Osten, im Westen

Den Sommer 1990 verbrachten wir nicht ganz, aber doch zum, sagen wir, besseren Teil in der DDR. Ich versuche mich jetzt daran zu erinnern, wie das damals war, vor gut 20 Jahren.

Wir hatten zu Weihnachten 1989 unsere Verwandten aus der DDR zu Gast gehabt und dann zu Ostern 1990 einen Gegenbesuch bei ihnen gemacht. Sie waren in einem fremden Land gewesen. Wir waren in einem Land gewesen, das uns fremder war als Frankreich oder Spanien. Es war für uns keine Frage, daß wir den Sommerurlaub in der DDR verbringen würden.

So konnte es ja nicht bleiben, daß wir diesen Teil Deutschlands so gut wie nicht kannten.

Wir fuhren mit dem Wohnwagen und waren vor allem in Thüringen, Sachsen und Brandenburg. Auf einem der Plätze in Brandenburg verbrachten wir mehrere Wochen und wurden dort nachgerade ein wenig heimisch; wir sind später mehrfach dorthin zurückgekehrt.



Der erste Eindruck war so etwas wie ein Kulturschock. Der miserable Zustand der Autobahnen mit ihren Betonplatten, auf denen man ruckelnd und zuckelnd fuhr; besonders nervend mit unserem Hänger. Das Kopfsteinpflaster; in den Dörfern oft noch nicht einmal das, sondern auf den Nebenstraßen vor allem in Brandenburg der nackte, festgefahrene Sandboden.

Die verlotterten Häuser in Eisenach, Gotha, Erfurt, Jena, Gera. Wir hatten von den DDR-Städten nur Ostberlin gekannt und merkten nun, wie vergleichsweise gut dort alles erhalten worden war. Man begann die Wut der DDR-Bevölkerung auf das privilegierte Berlin zu verstehen.

Dann die ärmlichen Läden mit ihren selten mit Waren gefüllten, aber gern mit vergilbten Papierblumen oder einer Art Girlanden geschmückten Schaufenstern. Rührende Zeugnisse eines bescheidenen Gestaltungswillens in dieser Heruntergekommenheit.

In Thüringen und Sachsen gab es mehr von diesem Gestaltungswillen als dann in Brandenburg. Man sah dort, im Süden der DDR, Häuser mit Blumen vor den Fenstern; das eine oder andere war sogar neu gestrichen worden. In den Dörfern Brandenburgs war das selten.



Wie waren die Menschen?

"Die Menschen" gibt es natürlich nie. Die meisten Kontakte waren ja nur flüchtige Begegnungen aus den trivialsten Anlässen - beim Einkaufen, im Restaurant; das Gespräch mit einem Platzwart oder ein paar Worte mit den nebenan Zeltenden auf dem Campingplatz.

"Zeltplatz" hieß er und war voll dieser Zelte mit ihren gewaltigen, aus Planen zusammengefügten Überdächern. Auf dem Platz, auf dem wir längere Zeit blieben, hatten wir dann auch schon einmal etwas längere Gespräche; vorsichtig tastende freilich.

Es blieb eine Fremdheit, wie wir sie zum Beispiel in Frankreich nicht gekannt hatten. Auch wenn man die Distanz zu überbrücken versuchte, indem man uns zum Beispiel einlud zum gemeinsamen Schmausen und Trinken am langen Gemeinschaftstisch.

Wir fanden, wie auch anders, freundliche und unfreundliche Menschen, düstere und gutgelaunte, witzige und Dumpfbacken. Fast durchgängig aber hatten sie etwas, das sie von den Menschen im Westen unterschied.

Es ist schwer mit einem Wort zu beschreiben. Sie waren leiser, vorsichtiger, unsicherer. Manche vermieden den direkten Blickkontakt; sie sahen an einem vorbei. Das Wort "mißtrauisch" ist falsch; aber man spürte meist eine gewisse, sagen wir, Absicherung. Eine Scheu, zuviel preiszugeben. (Einige wenige waren prononciert nicht so, sondern sehr selbstbewußt. Es gab Hinweise, daß sie zum Machtapparat des Regimes gehört hatten).

Sie sprachen auch anders. Sie sagten "man", statt sich genauer festzulegen. "Man hat uns dann mitgeteilt ...". Oft verwendeten sie Passivkonstruktionen: "Uns wurde dann in Aussicht gestellt, daß wir vielleicht reisen dürften". Hoffnung spielte eine große Rolle. Auf einem der Campingplätze hofften sie beispielsweise, daß sich ein Investor aus dem Westen finden werde, der das Gelände an das Strom- und das Wassernetz anschließen würde.

Es schien, als würden diese Menschen ihr Leben als ein Schicksal wahrnehmen, ein Kismet gewissermaßen. "Dann hatten wir das Glück, daß wir eine Wohnung bekamen". "Leider durfte meine Tochter nicht studieren". "Vielleicht kriegen wir ja auch nächstes Jahr einen Zeltschein und dürfen wiederkommen".

Hat mich vielleicht nur ein Klischee das so wahrnehmen lassen? Unwahrscheinlich, denn meinem damaligen Bild vom DDR-Bürger entsprach das durchaus nicht. Den hatte ich mir bis 1989 eher als selbstbewußten Proleten vorgestellt, mit aufrechtem Gang und der Zukunft zugewandt.

Wir hatten ja DDR-Bürger fast nur in Gestalt von Grenzsoldaten erlebt, auf den Reisen von und nach Berlin. Und wir bezogen unsere Informationen über die DDR beispielsweise von Marlis Menge, der ostberliner Korrespondentin der "Zeit".



Das war die eine Seite, so wie wir sie erlebten. Aber nun war der Fall der Mauer ja schon ein gutes halbes Jahr her. Eine Woche vor unserer "Einreise" in die ja noch bestehende DDR hatte es die Währungsunion gegeben. Wir erlebten nicht nur diese alte, bedrückende DDR, sondern überall gab es auch Zeichen eines Umbruchs.

Auf den Parkplätzen der Autobahnen tauchten bereits die ersten fahrbaren Imbißbuden auf; und neben der Solyanka und dem Broiler gab es hier und da auch schon Currywurst. Neben einem der Zeltplätze, auf denen wir standen, wurde ebenfalls solch ein mobiler Imbiß eröffnet. Der Inhaber experimentierte wild mit den Preisen für Dosenbier, die von Tag zu Tag wechselten. So tastete er sich allmählich an einen marktgerechten Preis heran.

Es gab schon einige Kaufhallen, die sich in "Supermarkt" umbenannt hatten. Mit nachgerade endlosen Käuferschlangen, die manchmal durch das ganze Geschäft standen. Man hatte den Eindruck, daß so wild gekauft wurde, als fürchte man, das alles sei ein Traum, aus dem man aufwacht und wieder hinter der Mauer sitzt.

Man konnte meinen, daß das alles, was da über die Menschen in der DDR hereingebrochen war (was ein Teil von ihnen, das ist wahr, durch Demonstrationen herbeigeführt hatte), ihnen wie die Versetzung in eine andere Welt erschien. Ungefähr so, wie wenn man sich im Theater auf seinen Platz begeben hat: Der Vorhang hebt sich, und es eröffnet sich eine ganz andere Realität.



Die Rückkehr in die Realität der Bundesrepublik Anfang September 1990 war ein größerer Einschnitt als sonst das Nachhausekommen aus einem Urlaub.

Während der Wochen in der DDR kreisten unsere Gedanken eigentlich nur um dieses Thema "Deutsche Einheit". Und die Daheimgebliebenen, die wir vorfanden? Nun ja.

Der "Spiegel" jener ersten Septemberwoche titelte "Asyl in Deutschland? - Die Zigeuner". Das große politische Thema war die Gefahr eines Kriegs am Golf. Die Einheit war für die meisten ein Thema unter vielen.

Ich habe mich damals mit einer Mitarbeiterin unterhalten, um die dreißig. Sie sagte mir frank und frei, daß sie mit der Wiedervereinigung gar nicht einverstanden sei. Es sei doch in der alten Bundeserepublik alles ganz gut gewesen. Was sollten wir uns jetzt diese Last der Vereinigung aufhalsen? Mit der Gefahr noch dazu, daß es wieder ein übermächtiges Deutschland geben werde, erneut eine Bedrohung für seine Nachbarn?

Ob sie denn keine innere Bindung zu den Deutschen im Osten hätte, fragte ich sie. Nein, die hatte sie nicht. Auch nicht den Wunsch, in die nun bald ehemalige DDR zu reisen. Die Nachbarn, denen sie sich nah fühlte, waren die Franzosen und die Holländer, nicht diese Deutschen auf der anderen Seite der Grenze, die nun im Begriff war zu verschwinden.

Ich hatte dann noch viele derartige Gespräche. Diese Mitarbeiterin hatte das gesagt, was viele dachten. Ein Genosse von der SPD meinte, er habe ja auch nie das Verlangen nach einer Vereinigung mit Österreich verspürt. Warum also jetzt mit der DDR?



Ich gehörte damals zu denen, die das Glück der Wiedervereinigung kaum fassen konnten. Denke ich heute anders darüber? Sehe ich dieses Jahr 1990 heute nicht mehr so wie vor zwanzig Jahren?

An der Freude über die Wiedervereinigung hat sich nichts geändert. Aber die Entwicklung in diesen zwanzig Jahren habe ich im Jahr 1990 völlig anders erwartet, als sie eingetreten ist.

Ich dachte, mit dem Ende des Sozialismus werde in der ehemaligen DDR eine wirtschaftliche Dynamik einsetzen wie in Westdeutschland mit der Währungsreform. Ich hatte nicht erkannt, daß vierzig Jahre Sozialismus jeden Keim für eine Dynamik erstickt hatten.

Ich glaubte, nach dem großen Wahlsieg der von der CDU geführten "Allianz für Deutschland" bei den Wahlen zur Volkskammer im März 1990 (sie verfehlte nur knapp die absolute Mehrheit) sei der Kommunismus endgültig Vergangenheit. Daß zwanzig Jahre später das vereinigte Berlin kommunistische Senatoren in seiner Regierung haben würde, lag außerhalb dessen, was ich mir vorstellen konnte.

Man rechnete damals damit, daß es bis zum Zusammenwachsen der beiden Teile ungefähr fünf Jahre dauern würde. Helmut Schmidt erregte Unmut und Unverständnis mit seiner Prognose, diese Spanne könne fünfzehn Jahre betragen.

Jetzt wissen wir mit Sicherheit: Es werden mehr als zwanzig Jahre sein.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Die Aufnahme des Reichstags wurde vom Autor Jürgen Matern unter Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported-Lizenz freigegeben. Mit Dank an R.