11. Oktober 2010

Zettels Meckerecke: Ein Gutmensch erfindet den Wutbürger. Des "Spiegel"-Redakteurs Dirk Kurbjuweit Kleinbürger-Karikatur. Denunziation statt Analyse

Darauf mußte ja mal einer kommen. Irgendein Gutmensch mußte früher oder später darauf verfallen, den Anti-Gutmenschen zu ersinnen. Aus Rache, als Abwehr. Eine Gestalt, so griffig wie die des Gutmenschen selbst. Also geeignet zum Abstempeln, zum labeling; geeignet als Waffe im politischen Kampf um die Bilder im Kopf.

Die Idee lag auf der Straße, die Figur eines solchen Fieslings in die Welt zu setzen. Jeder hätte darauf verfallen können. Aber nur einer ist darauf gekommen.

Er heißt Dirk Kurbjuweit und ist Chef des Hauptstadtbüros des "Spiegel". Die Figur, die er ersonnen hat und der er im aktuellen "Spiegel" einen Essay widmet (41/2010 vom 11. 10. 2010, S. 26-27), ist der "Wutbürger". Er beschreibt ihn so:
Der Wutbürger buht, schreit, hasst. Er ist konservativ, wohlhabend und nicht mehr jung. Früher war er staatstragend, jetzt ist er zutiefst empört über die Politiker. (...)

Der Wutbürger hat das Gefühl, Mehrheit zu sein und die Lage besser beurteilen zu können als die Politik. Er macht sich zur letzten Instanz und hebelt dabei das gesamte System aus. (...)

Er fühlt sich ausgebeutet, ausgenutzt, bedroht. Ihn ärgert das andere, das Neue, Er will, dass alles so bleibt, wie es war. (...)

Er bindet, verpflichtet sich nicht, sondern macht sein Ding. Was wird aus meinem Land, ist eine Frage, die sich Bürger stellen. Was wird aus mir, ist die Frage, die sich Wutbürger stellen.
Merken Sie etwas, lieber Leser? Ja, genau. Kurbjuweit hat gar keine neue Figur erfunden.

Was er zu beschreiben versucht, das ist der gute alte Kleinbürger. Der nach außen hin brave, aber zum Eklat neigende Kleinbürger, wie Brecht ihn in der "Kleinbürgerhochzeit" karikiert hat und Wolfgang Menge als Ekel Alfred. Borniert, egoistisch, besserwisserisch. Voll meist unterdrückter Wut, die nur selten zum Ausbruch kommt; dann aber umso unkontrollierter. Bei Brecht herrscht am Ende die blanke Zerstörung auf der Bühne.

Was uns Kurbjuweit als den "Wutbürger" anbieten möchte, das ist die Figur des Philisters, des petit bourgeois, wie man sie bei Balzac findet, bei Zola und Maupassant und als Farce bei Feydeau; in der deutschen Literatur vielleicht am treffendsten karikiert von Ludwig Tieck in der "Vogelscheuche", wo der Fiesling eben dies ist, was im Titel steht - eine notdürftig mit Lebendigkeit ausgestattete Vogelscheuche, der "Lederne".



Wenn er Glück hat, der Journalist Kurbjuweit, dann wird seine Umbenennung des Philisters, des Kleinbürgers, in "Wutbürger" ein Erfolg. Ein Wort, das sich - wenn er sogar großes Glück haben sollte - vielleicht so festsetzt wie der "Gutmensch".

Und anders als bei diesem Begriff, dessen Herkunft etwas obskur ist, wird jeder dann den Erfinder kennen: Dirk Kurbjuweit. Bekanntheitsfördernd, karrierefördernd; keine Frage.

Aber nun gut. Ich werfe Kurbjuweit keineswegs vor, daß er ein neues Wort für eine alte Karikatur erdacht hat und nun die Hoffnung pflegen darf, daß sich das festsetzt und mit seinem Namen verbindet. Soll er.

Was ich ihm ankreide, das ist zum einen die Substanzlosigkeit seines Artikels.

Liefert Kurbjuweit, außer der Neubenennung der bekannten Karikatur, irgend etwas Erhellendes? Hilft er uns in auch nur bescheidenem Maß, das besser zu verstehen, womit er den "Wutbürger" in Verbindung bringt, nämlich die breite Parteinahme für Thilo Sarrazin und die Demonstrationen gegen S 21 in Stuttgart?

Überhaupt nicht. Kurbjuweit denunziert. Er macht gar nicht den Versuch einer Analyse. Er sagt im Grunde so gut wie nichts; dies allerdings sehr laut und mit leicht überschnappender Stimme.

Er holt ein Klischee aus der Mottenkiste und drapiert es neu. Er hängt der Vogelscheuche ein paar grellbunte Fetzen um, in Gestalt von herabsetzenden Vokabeln wie "nackte Wut", "fanatisch", "renitent", "Mob", "Haßpamphlete", "Hysterie", "unanständig" - alles Epitheta, die der Spitzenjournalist Kurbjuweit auf nur zwei Druckseiten unterbringt.

Würde man Kurbjuweit auf dieser stilistischen und argumentativen Ebene antworten wollen, dann läge der Hinweis nahe, daß augenscheinlich ihm selbst die "Contenance" abhanden gekommen ist, deren vorgeblichen Mangel er beim "Wutbürger" beklagt; daß er, der Gutmensch, sich offenbar von gewissen Erscheinungen in unserer politischen Aktualität so bedroht fühlt, daß er vor Erregung hyperventiliert.



Aber solche Argumente ad hominem sind ohne Erkenntniswert. Verlassen wir diese unersprießliche Ebene; kommen wir zu den Sachverhalten und ihren mutmaßlichen Ursachen.

Als Beispiele für "Wutbürger" nennt Kurbjuweit erstens diejenigen, die Sarrazin zustimmen; diejenigen insonderheit, die ihm - traut man dem, was dazu die "Süddeutsche Zeitung" behauptete - bei einer Diskussion in München lautstark und heftig zustimmten. Er nennt zweitens die Demonstranten, die in Stuttgart das Ziel verfolgen, S 21 zu verhindern.

Was hat er zur Erklärung für die steigende Zahl solcher "Wutbürger" anzubieten, der Ressortleiter und Romanautor Kurbjuweit? Er nennt
... zwei Gründe. Sie betreffen sowohl die Integrationsdebatte als auch Stuttgart 21. Der erste Grund ist, dass die Wutbürger der Politik die Gefolgschaft aufgekündigt haben. (...) Der zweite Grund ist, dass die Deutschen älter werden. ... Die Wutbürger sind zu einem großen Teil ältere Menschen, und wer alt ist, denkt wenig an die Zukunft.
Sarrazins Buch befaßt sich von der ersten bis zur letzten Seite bekanntlich mit keinem anderen Thema als der Zukunft. Also kaufen es Hunderttausende (die Druckauflage liegt schon über einer Million), die "wenig an die Zukunft denken"? "Logik!" hätte da mein Deutschlehrer mit roter Tinte an den Rand geschrieben.

Daß weiterhin diejenigen, die Kurbjuweit "Wutbürger" nennt, der "Politik die Gefolgschaft aufgekündigt haben", mag zum Teil richtig sein. Aber dies als Ursache dafür vorzuschlagen, daß die "Zahl der Wutbürger steigt", ist ungefähr so, als würde man als Ursache für das schöne Wetter in diesen Oktoberwochen den Umstand nennen, daß im Oktober die Blätter bunt werden.

Kurz, das ist keine politische Analyse, sondern es ist breiiges Gerede ohne jede gedankliche Kraft. Man denkt mit Wehmut an die scharfsinnigen Analysen in den "Spiegel"-Kommentaren, als sie noch nicht von Dirk Kurbjuweit, sondern von Rudolf Augstein und dann auch (gelegentlich) beispielsweise von Günter Gaus und später Erich Böhme verfaßt wurden.



Und wo wäre nun bei einer Analyse anzusetzen, wie Kurbjuweit sie gar nicht erst versucht hat?

Es gibt keinen Hinweis darauf, daß die Parteinahme für Sarrazin in der Bevölkerung und die Proteste gegen S 21 mehr miteinander zu tun haben, als daß sie zeitlich koinzidieren und daß sie ein gewisses Engagement von Bürgern erkennen lassen.

Ansonsten sind die Ursachen der beiden Fälle von Aufbegehren ganz verschieden.

Thilo Sarrazin hat mit seiner Diskussion der Folgen von Einwanderung aus islamisch geprägten Ländern auf ein Thema aufmerksam gemacht, das über Jahrzehnte unter den Teppich politischer Korrektheit gekehrt worden war und das vielen Bürgern unter den Nägeln brennt, weil es ihren unmittelbaren eigenen Erfahrungsbereich (oder auch den ihrer Kinder und Enkel, etwa im Schulalltag) betrifft.

Das allein hätte vielleicht noch nicht das außerordentlich starke Engagement von Bürgern ausgelöst. Aber dann gab es fast vom ersten Tag an eine geschlossene Phalanx der meinungsbildenden Medien und von Spitzenpolitikern mit der offenkundigen Zielsetzung, eine Diskussion des Themas Einwanderung abzuwürgen, bevor sie überhaupt eingesetzt hatte. Das beschämende Tribunal bei Beckmann gab dann endgültig die Linie vor.

Das empörte viele Bürger. Das machte sie, wie Kurbjuweit das in der Attitüde des Oberlehrers nennt, "renitent". Das brachte sie auf den - aus der Sicht von Kurbjuweit offenbar schlechterdings naseweisen - Gedanken, "Mehrheit zu sein und die Lage besser beurteilen zu können als die Politik". Das Mündel will Vormund sein. Ja, wo kommen wir denn da hin.



Bei S 21 liegen die Ursachen und Motive durchaus anders.

Hier wirkte Diverses zusammen:
  • Die Unzufriedenheit von Stuttgarter Bürgern mit dem, was sie - wir sind in Schwaben - als die Vergeudung von sehr viel Geld ansehen;

  • Das Engagement von alternativen Verkehrspolitikern, für die der Schienenverkehr mehr ist als ein beliebiges Verkehrsmittel, nämlich Weltanschauung. Sie wollen, daß das Geld für den Ausbau des Schienennetzes "in der Breite" ausgegeben wird und nicht für Hochgeschwindigkeitsstrecken.

  • Die heraufziehenden Wahlen in Baden-Württemberg mit der Versuchung für die Grünen, das Thema S 21 für ihren Wahlkampf zu instrumentalisieren; sich als die Partei zu profilieren, die (ihre Mitglieder und Sympathisanten werden ja älter) vom alternativen zum bürgerlichen Protest fortgeschritten ist. Statt Brokdorf und Gorleben jetzt die Tea Party, aber natürlich ökologisch korrekt.

  • Und nicht zuletzt die langfristig vorbereiteten Aktionen von Extremisten, die nicht nur auf den Zug aufgesprungen sind, sondern die von Anfang an am Fahrplan mitgebastelt haben (siehe "Bei Abriss Aufstand"; ZR vom 4. 10. 2010).
  • Das mit den Reaktionen auf das Buch Sarrazins zusammenzurühren und für beides die ersonnene Figur des "Wutbürgers" verantwortlich zu machen, ist nicht eben eine journalistische Meisterleistung. Vielleicht sollte man diesen Essay eher dem Romanautor Kurbjuweit attribuieren als dem Ressortleiter des größten europäischen Nachrichtenmagazins.



    Dieser Mangel an Klarheit ist freilich Peanuts im Vergleich zu dem, was das eigentliche Ärgernis dieses Artikels ausmacht: Sein totalitärer Grundzug.

    Den gesamten Text durchzieht der Gedanke, daß es nur eine einzige vernünftige, von der Sache her zu begründende politische Position gibt; sei es zur Einwanderung von Moslems, sei es zum Umbau des Stuttgarter Bahnhofs. Es ist, wie anders, diejenige von Dirk Kurbjuweit.

    Andersdenkenden billigt er nicht zu, daß auch sie nachgedacht haben könnten; daß auch sie zu ihren Überzeugungen aus Sorge um das Gemeinwesen gekommen sind. Er billigt ihnen noch nicht einmal zu, sich um die Zukunft Deutschlands Gedanken zu machen.

    Da sie nicht der einzig richtigen, also der Kurbjuweit'schen Meinung anhängen, können diese Andersdenkenden - so wird es dargestellt - nur aus egoistischen Motiven heraus handeln, aus dumpfen Affekten. Sie "treibt die nackte Wut", sie wollen ihren Besitzstand wahren "zu Lasten einer guten Zukunft des Landes". Dem egoistische Wutbürger fehlt es an "Verantwortlichkeit, nicht nur das Eigene und das Jetzt im Blick zu haben, sondern auch das Allgemeine und das Morgen".

    Kurz: So, wie Kurbjuweit den "Wutbürger" darstellt, ist er kein zu respektierender Teilnehmer am demokratischen Prozeß, sondern so etwas wie ein Volksschädling, der borniert seine eigenen Interessen verfolgt, statt sich dem Gemeinwohl zu widmen.

    Man untergräbt den politischen Prozeß in einem demokratischen Rechtsstaat, man entzieht dem rationalen Diskurs seine Grundlage, wenn man derart mit dem Andersdenkenden umgeht. Wer in dieser Weise die eigene politische Meinung als die einzige vernünftige und die einzige moralische darstellt, der denkt totalitär.

    Daß einer der einflußreichsten deutschen Journalisten so verfährt, ist kein guter Indikator für den Zustand unseres Landes.



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