10. Oktober 2010

S 21: In Stuttgart soll der Kopfbahnhof erhalten werden? Diesen Wunsch verstehe ich. Über angenehme und weniger angenehme Bahnhöfe


Für die Proteste gegen den Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs gibt es vermutlich viele Motive; politische und weniger politische. Für eines dieser Motive habe ich Verständnis: Den Kopfbahnhof zu erhalten und nicht an seine Stelle einen Durchgangsbahnhof treten zu lassen.

Wie viele regelmäßige Bahnreisende habe ich meine Lieblingsbahnhöfe und andererseits Bahnhöfe, die ich gar nicht schätze. Zu meinen Lieblingsbahnhöfen gehört der Frankfurter Hauptbahnhof, der Stuttgarter Hauptbahnhof und in Frankreich der (oder wenn man mag, die) Gare du Nord in Paris. Am wenigstens schätze ich in Frankreich Lyon-Perrache und in Deutschland den Hamburger, den Duisburger und den Heidelberger Hauptbahnhof.

Die Bahnhöfe, die ich besonders mag, sind Kopfbahnhöfe. Hamburg, Duisburg, Heidelberg und Lyon-Perrache sind Durchgangsbahnhöfe. Das ist kein Zufall.



Viele der großen Metropolen haben keinen Hauptbahnhof, sondern eine Reihe von sozusagen gleichberechtigten Bahnhöfen. So ist es in Paris; so war es früher in Berlin, wo es einen Hamburger, einen Schlesischen, einen Anhalter, einen Lehrter Bahnhof gab.

Warum ist das so? Sehr einfach: Durch eine Hauptstadt, die diesen Namen verdient, fährt man nicht hindurch, sondern man fährt in sie hinein. Und da man aus verschiedenen Richtungen in eine Stadt hineinfahren kann, gibt es logischerweise für jede dieser Ankunftsrichtungen einen Bahnhof. Vor der Verstaatlichung der Bahnen gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden diese Linien oft auch von verschiedenen Gesellschaften betrieben und hatten schon deshalb ihren jeweils eigenen Bahnhof.

Wenn man aus dem Norden nach Paris hineinfährt, dann ist der Ankunftsbahnhof folglich der Gare du Nord. Vom Osten her ist die Endstation der Gare de l'Est, der freilich nah beim Gare du Nord liegt - in Sichtweite, zu Fuß in ein paar Minuten zu erreichen. Kommt man aus dem Südosten, dann steigt man am Gare de Lyon aus, und so fort.

Der große Vorteil einer solchen Aufteilung war und ist, daß die Bahn dort endet, wo die eigentliche Stadt beginnt. Die Gleise schneiden nicht durch die Innenstadt. Der Bahnhof ist wie einst ein Stadttor.

Der Reisende, der am Gare du Nord in Paris ankommt, hat das zentrale Paris vor sich liegen, so wie einst der Postkutschenreisende, wenn er den Eingang zur Stadt erreicht hatte. Ein Thalys oder TGV, der sozusagen dem Eiffelturm oder dem Arc de Triomphe vor die Füße fährt, so wie der deutsche ICE dem Kölner Dom, wäre für einen Pariser ein Unding.

Die Bahn führt zur Stadt hin; endet also dort, wo die eigentliche Stadt beginnt. Jedenfalls war das so, als im 19. Jahrhundert die heutigen Bahnhöfe konzipiert wurden. Die Städte wuchsen seither, und sie umschlangen allmählich die Bahnhöfe, so wie der Urwald einen Tempel überwuchert, der einmal in einer Lichtung angelegt gewesen war.



Wenn die Züge im Bahnhof enden, dann ergibt sich aus diesem Umstand der klassische Kopfbahnhof-Grundriß: Eine Bahnhofshalle, die man von der Stadt her erreicht und durchquert, um auf eine Art Boulevard zu gelangen; das Verbindungsstück zwischen der Halle und den Gleisen, oft gesäumt von Restaurants, Kiosken, Geschäften. Man begibt sich von dort mühelos zu den Bahnsteigen und über den Boulevard von einem Bahnsteig zum anderen. Keine Treppen oder Fahrstühle sind nötig, die zum Tunnel unter den Gleisen - oder, noch ungelenker, zur Brücke über den Gleisen - führen, wie beim Durchgangsbahnhof.

Im Kopfbahnhof herrscht folglich reges Leben. Die Gleise sind so etwas wie die Tentakel, die aus dem Körper der Halle und des Boulevards herauswachsen. Fliegende Händler mit ihren Verkaufswagen können mühelos von Gleis zu Gleis fahren, immer dorthin, wo gerade ein Zug ankommt oder abfährt. Der Bahnhof ist ein organisches Ganzes. Oft auch architektonisch beeindruckend, wie nicht nur der wuchtige Kopfbahnhof von Stuttgart, sondern zum Beispiel auch der Frankfurter Hauptbahnhof oder der Gare du Nord, den Sie oben abgebildet sehen.



Man kommt im Kopfbahnhof an und braucht sich nicht zu beeilen, denn der Zug wird nicht sofort weiterfahren. Erfahrene Reisende bleiben bei der Ankunft im Kopfbahnhof folglich ruhig auf ihrem Platz sitzen, bis der Zug seinen Ruck macht. Man läßt die hektischeren Reisenden sich entfernen, greift dann gemütlich nach Mantel und Gepäck und begibt sich auf seinen Weg in die Stadt.

Ebenso schön ist es, wenn ein Zug im Kopfbahnhof startet. Man kann ihn meist schon zehn Minuten oder eine Viertelstunde vor der Abfahrt beziehen, sich auf seinem Platz einrichten, vielleicht noch eine Zeitung oder Proviant kaufen. Es geht alles ruhig und gemessen zu; kurzum vernünftig.

Wie anders der Durchgangsbahnhof! Er braucht einen Tunnel oder eine Brücke. Beide sind fast immer zugig, wie auch die Bahnsteige der Durchgangsgleise - wahrlich kein Ort, an dem man sich gern länger aufhält, als es unbedingt nötig ist. Manchmal sind diese Tunnel geradezu endlos lang, wie in Duisburg. Die Brücken - Hamburg ist ein schreckliches Beispiel, Heidelberg ein noch entsetzlicheres - sind leer und potthäßlich. Dort freiwillig zu verweilen wäre ein Unding.

Durchgangsbahnhöfe sind das im Wortsinn - sie wollen den Reisenden durchschleusen, so wie die Züge auf der einen Seite in sie hinein- und auf der anderen so schnell wie möglich wieder hinausfahren.

Das Verhalten des Reisenden ist durch die kurze Zeit des "Aufenthalts" eines Zuges konditioniert.

Wenn das "Einlaufen" des Zugs, den man besteigen möchte, sich ankündigt, gerät der Reisende in die Stimmung eines Sprinters beim Kommando "auf die Plätze". Er macht sich bereit, den Zug entlangzulaufen - auf der Suche nach seiner Wagenklasse, nach dem Wagen mit dem reservierten Sitz oder nach einem Waggon, der einigermaßen leer aussieht. Er gerät in Streß, bis er endlich einen Platz - oder seinen reservierten Platz - gefunden hat. Diesen Erfolg kommentiert er mit einem innerlichen "Gott sei Dank, überstanden".

Er ist der zappelige Kleinbürger, so wie der Fahrgast des Kopfbahnhofs der gelassene Mann von Welt ist, der selbst das Tempo seines Agierens bestimmt.



Ja gewiß, der Kopfbahnhof hat auch Nachteile. Wenn die Fahrtroute es verlangt, durch eine Metropole wie Paris hindurchzufahren - wenn man, beispielsweise, von Amsterdam nach Lyon fahren möchte -, dann vermißt man den zentralen Bahnhof. Man muß am Gare du Nord aussteigen, sich ein Taxi oder die Métro nehmen und zum Gare de Lyon fahren. Das ist mehr als ein Umsteigen. Die Reise wird in zwei Teile zerlegt, und sie dauert ungebührlich lang.

Nur - wer reist denn heute noch mit der Bahn von Amsterdam nach Lyon? Das ist eine Flugzeugentfernung. So, wie Köln-Paris seit der Einführung des Thalys eine Bahn-Entfernung ist. Und wer denn unbedingt von Amsterdam nach Lyon mit der Bahn reisen möchte und für Paris nicht einmal ein paar Stunden für einen kleinen Stadtbummel hat, der ist selbst schuld an dem Ungemach, das ihm seine schlechte Reiseplanung beschert.

Es stimmt freilich: Heute gibt es auch Kopfbahnhöfe, in die der ICE hinein- und aus denen er nach minimaler Aufenthaltsdauer schon wieder hinausrauscht. Und andererseits gibt es natürlich den Durchgangsbahnhof, auf dem ein Zug "eingesetzt" wird und wo man, mit Glück, ein paar Minuten zum Einsteigen hat. Mit anderen Worten, der Durchgangsbahnhof benimmt sich manchmal in dieser Hinsicht fast wie ein Kopfbahnhof und der Kopfbahnhof wie ein Durchgangsbahnhof.

Aber das ändert nichts an ihrer Wesensverschiedenheit.

Der Stuttgarter Hauptbahnhof ist, so bemerkenswert seine Architektur auch sein mag, im Inneren kein Schmuckstück. Der neue unterirdische Durchgangsbahnhof wird schöner sein, moderner, in vielem vielleicht auch praktischer. Aber mit der ruhigen Gelassenheit, mit der ein Reisender sich in einem Kopfbahnhof bewegen kann, wird es dann vorbei sein.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Abbildung: Gare du Nord in Paris. Vom Autor MarcusObal unter Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported-Lizenz freigegeben. - Dies ist die überarbeitete Version eines Feuilletons, das als einer der ersten Artikel am 5. 6. 2006 anläßlich der Eröffnung des Berliner Hauptbahnhofs in ZR zu lesen war.