Gestern erschien bei Stratfor George Friedmans wöchentliche Kolumne Geopolitical Weekly. Ihr Titel: "Germany and the failure of multiculturalism" - Deutschland und das Scheitern von Multikulti.
Der Anlaß für Friedmans Artikel ist die Rede der Kanzlerin vom vergangenen Samstag, in der sie gesagt hatte: "Und natürlich war der Ansatz, zu sagen, jetzt machen wir hier mal Multikulti und leben so nebeneinander her und freuen uns übereinander - dieser Ansatz ist gescheitert, absolut gescheitert".
In freier Rede so gesagt, auf dem Deutschlandtag der Jungen Union; kein diplomatisch ausformulierter Text also - aber mit einem gewaltigen Echo im Ausland. Und für George Friedman der Anlaß, die momentane Lage Deutschlands im historischen Kontext zu analysieren.
Er analysiert diese Lage als einen Umbruch, der sich in Deutschland in diesen Tagen vollzieht.
Ich sehe das wie Friedman und habe dazu in den vergangenen Woche mehrere Artikel geschrieben (siehe "Die Bürger werden renitent"; ZR vom 18. 10. 2010; sowie die dort am Schluß verlinkten weiteren Artikel). Friedman beurteilt das Ausmaß des Umbruchs noch radikaler, als ich es getan habe:
Im ersten Teil des Artikels skizziert Friedman für seine amerikanischen und internationalen Leser die deutsche Geschichte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und insbesondere die Vorgeschichte der jetzigen Einwanderung nach Deutschland, beginnend mit der Anwerbung der ersten Gastarbeiter.
Das brauche ich nicht zu referieren, was die Fakten angeht. Zwei Beurteilungen Friedmans sind aber interessant:
Die Multikulti-Ideologie sieht er als so etwas wie eine Verlegenheitslösung, geboren aus dem Versuch, der Frage nach der deutschen nationalen Identität auszuweichen:
Nun aber sieht Friedman einen Umbruch; das Entstehen einer deutschen nationalen Bewußtheit (national awareness; die Übersetzung "Nationalbewußtsein" würde das Gemeinte nicht treffen). Er nennt dafür zwei Gründe, die gegenwärtig zusammentreffen:
Eine klare, eine aus meiner Sicht überzeugende Analyse; mit einer Besorgnis am Schluß, die man ernst nehmen sollte.
Friedman sieht Deutschland als ein Land im Umbruch, wie ich das in den zitierten Artikeln auch vertreten habe. Allerdings denkt er innerhalb einer anderen Rastergröße: Aus seiner Sicht geht jetzt eine Epoche zu Ende, die 1945 begonnen hatte; eine Epoche deutscher Selbstverleugnung, was die nationale Identität angeht.
Ich habe hingegen drei Phasen unterschieden: Die Phase des Wiederaufbaus von der Währungsreform bis zur Studentenrevolte Ende der sechziger Jahre; die Phase eines aus dieser hervorgegangenen radikalen gesellschaftlichen Wandels, die mit der Wiedervereinigung 1989 endete; und die anschließende Phase der Stagnation - des ökologisch-"linksliberalen" Mehltaus -, die in diesen Tagen zu Ende geht.
Diese Analyse ist mit derjenigen Friedmans aber völlig kompatibel, wenn man die drei Phasen als drei verschiedene Arten deutet, auf die nationale Katastrophe des Nazismus zu reagieren:
Der Anlaß für Friedmans Artikel ist die Rede der Kanzlerin vom vergangenen Samstag, in der sie gesagt hatte: "Und natürlich war der Ansatz, zu sagen, jetzt machen wir hier mal Multikulti und leben so nebeneinander her und freuen uns übereinander - dieser Ansatz ist gescheitert, absolut gescheitert".
In freier Rede so gesagt, auf dem Deutschlandtag der Jungen Union; kein diplomatisch ausformulierter Text also - aber mit einem gewaltigen Echo im Ausland. Und für George Friedman der Anlaß, die momentane Lage Deutschlands im historischen Kontext zu analysieren.
Er analysiert diese Lage als einen Umbruch, der sich in Deutschland in diesen Tagen vollzieht.
Ich sehe das wie Friedman und habe dazu in den vergangenen Woche mehrere Artikel geschrieben (siehe "Die Bürger werden renitent"; ZR vom 18. 10. 2010; sowie die dort am Schluß verlinkten weiteren Artikel). Friedman beurteilt das Ausmaß des Umbruchs noch radikaler, als ich es getan habe:
Simply put, Germany is returning to history. It has spent the past 65 years desperately trying not to confront the question of national identity, the rights of minorities in Germany and the exercise of German self-interest.
The Germans have embedded themselves in multinational groupings like the European Union and NATO to try to avoid a discussion of a simple and profound concept: nationalism. Given what they did last time the matter came up, they are to be congratulated for their exercise of decent silence. But that silence is now over.
Auf einen einfachen Nenner gebracht: Deutschland kehrt in die Geschichte zurück. Es hat die letzten 65 Jahre mit dem verzweifelten Versuch zugebracht, sich der Frage der nationalen Identität nicht zu stellen, sich der Frage der Rechte von Minderheiten in Deutschland und der Umsetzung des deutschen Eigeninteresses nicht zu stellen.
Die Deutschen haben sich in multinationale Gruppierungen wie die Europäische Union und die NATO eingebettet, um wenn möglich die Diskussion eines einfachen und grundlegenden Begriffs zu vermeiden: Nationalismus. Angesichts dessen, was sie getan hatten, als dieses Thema das letzte Mal aufgekommen war, kann man sie zu dieser Übung in sittsamem Stillschweigen beglückwünschen. Aber dieses Stillschweigen ist jetzt vorbei.
Im ersten Teil des Artikels skizziert Friedman für seine amerikanischen und internationalen Leser die deutsche Geschichte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und insbesondere die Vorgeschichte der jetzigen Einwanderung nach Deutschland, beginnend mit der Anwerbung der ersten Gastarbeiter.
Das brauche ich nicht zu referieren, was die Fakten angeht. Zwei Beurteilungen Friedmans sind aber interessant:
Die Multikulti-Ideologie sieht er als so etwas wie eine Verlegenheitslösung, geboren aus dem Versuch, der Frage nach der deutschen nationalen Identität auszuweichen:
While respecting diversity, the policy seemed to amount to buying migrant loyalty. The deeper explanation was that the Germans did not want, and did not know how, to assimilate culturally, linguistically, religiously and morally diverse people. Multiculturalism did not so much represent respect for diversity as much as a way to escape the question of what it meant to be German and what pathways foreigners would follow to become Germans.Die zweite bemerkenswerte Beurteilung Friedmans betrifft die Loyalität der türkischen Einwanderer, die aus dieser Multikulti-Politik resultieren mußte:
Zwar respektierte diese Politik Vielfalt, aber sie lief offenbar darauf hinaus, sich die Loyalität der Einwanderer zu erkaufen. Die tiefere Erklärung war, daß die Deutschen diejenigen Menschen, die kulturell, sprachlich, religiös und moralisch anders waren, weder assimilieren wollten noch wußten, wie sie das tun sollten. Multikulti drückte nicht so sehr den Respekt vor Vielfalt aus als vielmehr eine Art, wie man der Frage auswich, was Deutschsein bedeutet und auf welchen Wegen Ausländer Deutsche werden können.
Multiculturalism resulted in the permanent alienation of the immigrants. Having been told to keep their own identity, they did not have a shared interest in the fate of Germany. They identified with the country they came from much more than with Germany.Vernichtender kann man das kaum kritisieren, was bis vor kurzem - genauer gesagt: bis zur Diskussion über Sarrazin - in Deutschland so etwas wie Staatsideologie war.
Turkey was home. Germany was a convenience. It followed that their primary loyalty was to their home and not to Germany. The idea that a commitment to one’s homeland culture was compatible with a political loyalty to the nation one lived in was simplistic. Things don’t work that way.
Die Folge von Multikulti war die dauerhafte Entfremdung der Einwanderer. Man hatte ihnen gesagt, daß sie ihre eigene Identität bewahren sollten. Also blieb ihnen das Schicksal Deutschlands, das sie ja nicht teilten, gleichgültig. Sie identifizierten sich viel stärker mit ihrem Herkunftsland als mit Deutschland.
Die Türkei war die Heimat. Deutschland bot Vorteile. Folglich gehörte ihre erste Loyalität ihrer Heimat und nicht Deutschland. Die Vorstellung, daß man zugleich seiner Heimat verpflichtet und gegenüber der Nation loyal sein kann, in der man lebt, war zu simpel. So läuft es nun einmal nicht.
Nun aber sieht Friedman einen Umbruch; das Entstehen einer deutschen nationalen Bewußtheit (national awareness; die Übersetzung "Nationalbewußtsein" würde das Gemeinte nicht treffen). Er nennt dafür zwei Gründe, die gegenwärtig zusammentreffen:
Am Ende des Artikels erweitert Friedman das Blickfeld, geographisch und auch in der Zeitdimension:Das Einwanderungsproblem, das virulent geworden sei, und dazu den Zustand der NATO (die ein moribundes Bündnis von Staaten ohne nennenswerten militärischen Wert sei) und der Europäischen Union. Deutschland müsse sich jetzt davor bewahren, nach der Griechenland-Krise finanziell für die EU haftbar gemacht zu werden. Dazu müsse es über ein Deutschland jenseits der Integration in Europa nachdenken.
Merkel’s statement is therefore of enormous importance on two levels. First, she has said aloud what many leaders already know, which is that multiculturalism can become a national catastrophe. Second, in stating this, she sets in motion other processes that could have a profound impact on not only Germany and Europe but also the global balance of power. (...)
All of Europe, indeed, much of the world, is coping with the struggle between cultures within their borders. But the Germans are different, historically and geographically. When they begin thinking these thoughts, the stakes go up.
Merkels Aussage ist deshalb auf zwei Ebenen von enormer Wichtigkeit. Erstens sagt sie laut, was viele führende Politiker bereits wissen, nämlich daß Multikulti in eine nationale Katastrophe führen kann. Zweitens setzt sie, indem sie das feststellt, andere Prozesse in Gang, die eine tiefgreifende Auswirkung nicht nur auf Deutschland und Europa, sondern auf das globale Machtgleichgewicht haben könnten. (...)
Ganz Europa, ja ein großer Teil der Welt versucht mit der Auseinandersetzung zwischen den Kulturen innerhalb der eigenen Grenzen zurecht zu kommen. Aber die Deutschen sind anders, historisch und geographisch. Wenn sie diese Gedanken zu denken beginnen, dann geht es um mehr.
Eine klare, eine aus meiner Sicht überzeugende Analyse; mit einer Besorgnis am Schluß, die man ernst nehmen sollte.
Friedman sieht Deutschland als ein Land im Umbruch, wie ich das in den zitierten Artikeln auch vertreten habe. Allerdings denkt er innerhalb einer anderen Rastergröße: Aus seiner Sicht geht jetzt eine Epoche zu Ende, die 1945 begonnen hatte; eine Epoche deutscher Selbstverleugnung, was die nationale Identität angeht.
Ich habe hingegen drei Phasen unterschieden: Die Phase des Wiederaufbaus von der Währungsreform bis zur Studentenrevolte Ende der sechziger Jahre; die Phase eines aus dieser hervorgegangenen radikalen gesellschaftlichen Wandels, die mit der Wiedervereinigung 1989 endete; und die anschließende Phase der Stagnation - des ökologisch-"linksliberalen" Mehltaus -, die in diesen Tagen zu Ende geht.
Diese Analyse ist mit derjenigen Friedmans aber völlig kompatibel, wenn man die drei Phasen als drei verschiedene Arten deutet, auf die nationale Katastrophe des Nazismus zu reagieren:
Die Reaktionen auf meine These vom gegenwärtigen Umbruch waren, jedenfalls in Zettels kleinem Zimmer, überwiegend skeptisch. Auch Friedman wird auf Skepsis stoßen. Immerhin ist es interessant, daß eine Analyse "von innen", aus der deutschen Perspektive heraus, im Kern zum selben Ergebnis gekommen ist wie die Sichtweise George Friedmans, der in geopolitischen Größenordnungen denkt.In der ersten Phase, der Adenauerzeit, bestand die Reaktion im weitgehenden Verzicht auf eine eigene Außenpolitik (mit Ausnahme der beiden Grundpfeiler Westintegration und Israelpolitik) und einer Innenpolitik, die sich ganz auf den wirtschaftlichen Wiederaufstieg konzentrierte. Man versuchte, dem Erbe der Nazis durch nationale Enthaltsamkeit und durch Ausweichen ins Wirtschaftliche zu entkommen. Die D-Mark wurde zum Einzigen, was noch an nationaler Symbolik blieb. In der Phase des radikalen Umbaus der deutschen Gesellschaft fand dagegen eine aktive, eine überaus aktive Auseinandersetzung mit dem Nazismus statt. Die Bewegung bezog daraus nachgerade ihre Dynamik.
Die Nazis waren autoritär gewesen; also war man antiautoritär bis ins Absurde hinein. Die Nazis waren nationalistisch gewesen; also wollte man nicht einmal mehr von einer deutschen Nation sprechen. Die Nazis waren fremdenfeindlich gewesen, also wurde Multikulti zu einem Ideal erhoben. Die Nazis hatten die Familie mit vielen Kindern propagiert; also wollte man nun weg von der "traditionellen Familie", und das Single-Dasein wurde ebenso als "Lebensentwurf" angepriesen wie die Kinderlosigkeit.In der Phase des Mehltaus wurde das, was in der zweiten Phase "alternativ" gewesen war, zur dominanten Ideologie. Dabei kehrten viele Momente der obrigkeitsstaatlichen deutschen Tradition zurück; vielleicht auch mitbedingt durch das Hinzukommen der DDR mit ihrem ungebrochenen obrigkeitsstaatlichen Denken.
Inhaltlich blieb es bei der Ablehnung der deutschen Nation und überkommener Werte. Aber mit der Art, wie die inzwischen dominierenden Achtundsechziger ihre ökologisch-"linksliberale" Weltsicht zur Staatsideologie zu erheben trachteten, vor allem mit der zunehmenden Ausgrenzung aller Andersdenkenden knüpfte man an die freiheitsfeindliche deutsche Tradition an, die im Nazismus und dann in der kommunistischen Herrschaft in der DDR ihre Kulmination erlebt hatte.
In den vergangenen beiden Jahrzehnten herrschte in Deutschland ein weniger freies geistiges Klima als in der vielgescholtenen Adenauerzeit. Die Bedeutung der Sarrazin-Diskussion liegt darin, daß in ihr der bis dahin stets erfolgreiche Versuch, diese Meinungsdominanz mit allen publizistischen und politischen Mitteln gegen einen Andersdenkenden durchzusetzen, erstmalig am Widerstand aus der Bevölkerung scheiterte. Das erklärt die aggressive Aufgeregtheit von Hohepriestern dieser herrschenden Ideologie wie Dirk Kurbjuweit und Thomas Assheuer. Sie ahnen den Umbruch.
© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette vom Autor Johannes Ries unter Creative Commons Attribution 2.0 Generic-Lizenz freigegeben; bearbeitet.