25. Oktober 2010

Notizen zu Sarrazin (5): Grenzen der Ausschöpfung von "Bildungsreserven". Nebst einer Anmerkung über die Förderung von Türkischstämmigen

Zum Überraschendsten, das ich im Buch von Sarrazin gelesen habe, gehört eine Anmerkung zur sozialen Zusammensetzung der Studenten in der DDR.

Dort wurde von Anfang großer Wert darauf gelegt, Kindern von Arbeitern und Bauern das Studium zu ermöglichen. Schon 1949, im Jahr der Gründung der DDR, wurden die sogenannten "Arbeiter- und Bauernfakultäten" (ABF) eingerichtet, an denen Kinder von Arbeitern und Bauern das Abitur nachholen konnten.

Wie es dort zuging, das hat - freilich parteilich, wie es sich für einen Kommunisten gehört, - Hermann Kant in seinem Roman "Die Aula" geschildert.

Auch nachdem die ABF 1963 abgeschafft worden waren, weil inzwischen ja in der DDR alle Arbeiter- und Bauernkinder Zugang zum Abitur hatten, wurde alles getan, um diese zu fördern; sowohl beim Übergang in die Erweiterte Oberschule (EOS), die zum Abitur führte, also auch bei der Zulassung zum Studium.

Das hatte zunächst das Ergebnis, daß der Anteil von Arbeiterkindern an der Gesamtzahl der Studenten weit höher war als in der Bundesrepublik; im Jahr 1954 waren es 48 Prozent. Und wie ging es weiter? Sarrazin (S. 83):
Dieser Anteil sank in den 40 Jahren des Bestehens der DDR kontinuierlich. 1989, bei der letzten Erhebung, stammten 78 Prozent der Studenten aus der Intelligenzschicht, nur noch sieben bis zehn Prozent aus der Arbeiterklasse - und damit weniger als in der Bundesrepublik, wo der Anteil 1989 bei 15 Prozent lag.
Wie konnte es dazu kommen?

Es mag eine Rolle gespielt haben, daß sich - wie überall im Sozialismus - in Gestalt der Nomenklatura eine neue herrschende Klasse herausbildete; für das kommunistische Jugoslawien hat schon 1958 Milovan Djilas dieses Phänomen analysiert.

In einer Diktatur hat die herrschende Klasse naturgemäß kein Problem, den eigenen Sprößlingen den Zugang zur Universität zu sichern; zumal da in der DDR niemand ein Anrecht auf einen Studienplatz hatte, sondern die Plätze nach Gutdünken der Behörden vergeben wurden.

Aber zur Erklärung reicht das nicht aus. Das Bildungssystem der DDR war egalitär. Nach der letzten Reform 1983 besuchten alle Schüler bis zur 10. Klasse gemeinsam die Polytechnische Oberschule (POS). Beim Übergang in die Erweiterte Oberschule (EOS), die zum Abitur führte, wurden Arbeiterkinder bevorzugt.

Warum war dennoch der Anteil der Arbeiterkinder an den Universitäten schließlich so niederschmetternd niedrig? Und warum hatte er in den vierzig Jahren DDR immer weiter abgenommen?

Eine schlüssige Antwort liefert die Intelligenzforschung.



Kaum ein Thema von Sarrazins Buch hat - sieht man von der Einwanderung von Moslems ab - so viel öffentliche Diskussion ausgelöst wie dasjenige der Erblichkeit der Intelligenz. Bei kaum einem Thema waren auch die meisten derer, die Sarrazin lauthals kritisierten, so offenkundig unwissend, was den Stand der Forschung angeht.

Unter Wissenschaftlern ist es überhaupt nicht umstritten, daß Intelligenz erblich ist. Erblichkeit bedeutet aber nicht, daß keine andere Faktoren eine Rolle spielen würden. Intelligenz ist das Ergebnis des Zusammenwirkens von Genen und Umwelt; wobei sich die beiden Faktoren in ihrer Wirkung nicht addieren, sondern miteinander interagieren (in Wechselwirkung treten). Strittig - und damit Gegenstand weiterer Forschung - ist der Anteil von Anlage und Umwelt an der Intelligenz und die Art ihrer Wechselwirkung.

Bei einer günstigen Umwelt spielt beispielsweise die Erblichkeit eine größere Rolle als bei einer ungünstigen, weil sie den Begabten die Entfaltung ihrer Begabung erlaubt. Weiterhin nimmt der Einfluß des genetischen Faktors im Lauf des Lebens zu, weil Menschen sich in einem gewissen Umfang die ihrer Begabung adäquate Umwelt aussuchen, so daß die Wirkungen von Anlage und Umwelt einander verstärken.

Hiermit sowie mit den Grundlagen der Intelligenzforschung habe ich mich in zwei Folgen der Serie "Sarrazin auf dem Prüfstand der Wissenschaft" befaßt (Ist Intelligenz zu 50 bis 80 Prozent vererbbar? - Teil 1: Definition und Messung von Intelligenz; ZR vom 1. 9. 2010; und Teil 2: Die Ergebnisse der Verhaltensgenetik; ZR vom 2. 9. 2010).

Intelligenz ist erblich. Die Intelligenz korreliert hoch mit den schulischen Leistungen, also der Befähigung zum Studium. Kinder von Akademikern haben folglich - statistisch gesehen; alle derartige Aussagen gelten nur statistisch - eine überdurchschnittliche Intelligenz und damit auch eine überdurchschnittliche Befähigung zum Studium. Daß sie unter den Studenten überrepräsentiert sind, ist schlicht Ausdruck dieses Sachverhalts.

Man kann das nur dann aus der Welt schaffen, wenn man durch eine staatliche Zulassungspolitik gezielt Kinder der "Intelligenz" vom Studium fernhält und Kinder aus der "Arbeiterklasse" bevorzugt zuläßt, so wie das in den Anfangsjahren der DDR praktiziert wurde. Das traf die "bürgerliche Intelligenz". In dem Maß, in dem eine "sozialistische Intelligenz" heranwuchs, fielen diese Restriktionen. Warum aber sank der Anteil der Arbeiterkinder an den Studenten in der DDR dennoch weiter kontinuierlich?

Die Antwort dürfte in dem simplen Umstand zu suchen sein, daß Arbeiterkinder, die studieren, selbst keine Arbeiterkinder mehr haben. Ihre Kinder werden zu Kindern von Akademikern, zu Kindern der "Intelligenz".

Jeder Aufsteiger aus der "Arbeiterklasse" geht dieser verloren. Der Aufstieg gelingt - immer statistisch! - denjenigen mit der höheren Intelligenz. Zurück in der "Arbeiterklasse" bleiben diejenigen mit geringerer Intelligenz, deren Kinder - statistisch! - weniger intelligent sind als die Kinder der Aufsteiger. Also sinkt der Anteil der studierenden Arbeiterkinder.

Mit anderen Worten: die sogenannten "Bildungsreserven" sind endlich. Solange der Hochschulzugang wesentlich auch von anderen Faktoren abhängt als der Intelligenz - beispielsweise dem Einkommen und dem sozialen Milieu der Eltern -, gibt es auch unter Nichtakademikern zahlreiche Personen, die für ein Studium geeignet wären. In dem Maß, in dem solche Barrieren abgebaut werden, sinkt ihr Anteil.

In der DDR war es überhaupt nicht von Nachteil für die Zulassung zum Studium - eher von Vorteil - , aus der "Arbeiterklasse" zu stammen. Innerhalb von wenigen Generationen wurden also aus den meisten begabten Arbeiterkindern Angehörige der "Intelligenz". Arbeiterkinder, deren Begabung für den Aufstieg in die "Intelligenz" ausreichte, wurden damit immer seltener. Das Ergebnis waren die Zahlen von 1989, die Sarrazin zitiert.



Noch zwei Anmerkungen zu den praktischen Konsequenzen dieser Sachverhalte.

Zum einen wird auch in der Bundesrepublik immer wieder der nach wie vor geringe Anteil von Arbeiterkindern an der Gesamtzahl der Studenten beklagt.

Es ist ein vernünftiges Ziel, diesen Anteil zu steigern; denn es gibt sicherlich noch andere Hindernisse für ein Studium als unzureichende Intelligenz.

Aber man sollte sich im Klaren darüber sein, daß der Anteil der Arbeiterkinder nicht nur nicht beliebig steigerbar ist; sondern daß er aus den Gründen, die in der DDR wirksam geworden sind, sogar in dem Maß fallen muß, in dem Arbeiterkinder studieren und damit ihre eigenen Kinder keine Arbeiterkinder mehr sein werden.

Die zweite Anmerkung betrifft das andere im Zusammenhang mit Sarrazins Buch vieldiskutierte Thema, die Einwanderung von Türken.

Die meisten heute in der Bundesrepublik lebenden Türken und türkischstämmigen Deutschen sind Nachkommen von Gastarbeitern, die aus armen Gebieten der Türkei stammen, vor allem aus Zentral- und Ostanatolien.

Das war eine Population mit geringen Chancen zum sozialen Aufstieg, also mit einem hohen Anteil an Begabten, denen ein Studium nicht möglich war; vergleichbar den Arbeitern im Deutschland des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die Familie Glaser, aus der "Loki" Schmidt stammte, ist ein jetzt durch ihren Tod bekannt gewordenes Beispiel von vielen; Gerhard Schröder, dessen im Krieg gefallener Vater Kirmesarbeiter gewesen war und dessen Mutter die Familie mit Putzen durchbrachte, ein anderes.

Nicht anders dürfte es bei den Einwanderern aus Anatolien sein. Unter ihnen sind große "Bildungsreserven" zu erwarten; anteilig jedenfalls größere als unter deutschen Arbeitern. Hier lohnt sich die Förderung also besonders.

Allerdings zeichnet sich gegenwärtig die Gefahr ab, daß von den Türkischstämmigen, die in Deutschland Studium und sozialen Aufstieg geschafft haben, viele wieder in die Türkei zurückkehren, wo sie mit den in Deutschland erworbenen Kenntnissen begehrte Arbeitskräfte sind.

Es wäre für Deutschland verhängnisvoll, wenn sich das fortsetzen würde: Die Begabtesten würden dann nicht - wie in der DDR - nur der "Arbeiterklasse" verlorengehen, sondern unserem Land. Zurück blieben diejenigen, denen das deutsche Sozialsystem als attraktiver erscheint als das türkische; also die weniger Begabten.

Schon wegen der ungünstigen demographischen Aussichten (siehe die dreiteilige vierte Folge der Serie "Sarrazin auf dem Prüfstand der Wissenschaft") sollten wir alles tun, eine solche Entwicklung zu verhindern; sie wenigstens zu bremsen. Begabte Türkischstämmige sollten gefördert werden. Die Politik sollte mit Entschlossenheit darauf hinwirken, daß sie sich für Deutschland entscheiden statt für eine Rückkehr in die Türkei.



Bisherige Folgen dieser Serie:
  • 1. Ist das Thema Sarrazin "zu Tode diskutiert"? Ankündigung einer Serie
  • 2. Der ungewöhnliche Bestseller. Wie liest man ein solches Buche am besten?
  • 3. "Das goldene Zeitalter geht zu Ende". Demographie, Wohlstand, Generationserfahrungen
  • 4. "Mitleidslos"? Sarrazin über Armut und Sozialpolitik in Deutschland


  • © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Thilo Sarrazin und Necla Kelek bei der Vorstellung von Sarrazins Buch am 30. August 2010. Vom Autor Richard Hebestreit unter Creative Commons Attribution 2.0 Generic-Lizenz freigegeben. Alle Zitate von Thilo Sarrazin aus: Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser unser Land aufs Spiel setzen. München: Deutsche Verlagsanstalt, 4. Auflage 2010. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie auch hier. Mit Dank an Marriex.