"Ihr Buch ist zahlengesättigt, das stimmt. Aber es ist mitleidslos". So kommentierte Gabor Steingart, Chefredakteur des "Handelsblatts", bei der Diskussion in München am 29. September Sarrazins Buch.
Schlimmer kann man Sarrazin schwerlich mißverstehen. Wer nicht sein Mitleid wie eine Monstranz vor sich herträgt, der muß deshalb nicht mitleidslos sein. Wer der Meinung ist, daß man Menschen keinen Gefallen tut, wenn man sie über Generationen als Kostgänger des Steuerzahlers leben läßt, der muß deshalb nicht gefühllos gegenüber diesen Menschen sein.
Gewiß, Sarrazin - der bedachtsame, introvertierte Intellektuelle, der Mann auch aus dem Ruhrpott, wo man Phrasendrescherei haßt - jammert nicht; weder über die Zukunft Deutschlands, die er düster beurteilt, noch über die Armen. Er schildert deren Lage und diskutiert, wie man sie verbessern kann.
Er zeigt das soziale Engagement eines Sozialdemokraten; nur freilich dasjenige eines Sozialdemokraten von der Art Helmut Schmidts, der wie Sarrazin die Emphase nicht liebt, und nicht das eines demokratischen Sozialisten von der Art der heutigen populistisch tönenden Rhetoren à la Sigmar Gabriel.
Sarrazin widmet ein Kapitel seines Buchs - das vierte - dem Thema Armut ("Armut und Ungleichheit. Viele gute Absichten, wenig Mut zur Wahrheit"). Der Untertitel benennt, worum es ihm geht: Er bezweifelt nicht die guten Absichten bei der Bekämpfung dessen, was Armut genannt wird. Er will aber zeigen, daß dabei oft nicht die tatsächlichen Gegebenheiten gesehen werden und daß das wahre Problem kaum angegangen wird.
Zu den Schwächen des Buchs gehört es, daß Sarrazin meist abstrakt bleibt. Illustrierende Beispiele findet man selten. In diesem Kapitel ist das anders; vermutlich deshalb, weil Sarrazin auf diesem Gebiet als Berliner Finanzsenator engagiert war und dabei anschauliche Erfahrungen sammelte.
Zwei solche Erinnerungen Sarrazins illustrieren die beiden Themen dieses Kapitels; oder sagen wir: die beiden Seiten derselben, zentralen These.
Der Hintergrund ist eine kleine Aktion des Senators Sarrazin Anfang 2008, mit der er beweisen wollte, daß man von Hartz IV ordentlich leben kann. Dazu legte er einen Speiseplan vor, aus dem hervorging, daß die Hartz-IV-Sätze ausreichen, um sich "ausgewogen und abwechslungsreich zu ernähren". Zur Untermauerung aßen er und seine Frau einige Tage nach einem solchen Speiseplan und waren mit dem Essen überaus zufrieden.
Ein Sturm der Entrüstung war die Folge. Und dieser führte - so wie jetzt nach dem Erscheinen des Buchs - zu zahlreichen Interviews. Darauf beziehen sich Sarrazins beide Erinnerungen:
Da haben wir den Autor Sarrazin, dessen Buch der Journalist Steingart als "mitleidslos" abqualifiziert.
Das erste Beispiel illustriert, daß nicht materieller Mangel das Problem der "Armen" in Deutschland ist. Sie werden als arm ja nicht deshalb eingestuft, weil sie hungern oder frieren müßten, sich nicht ordentlich kleiden könnten und kein Dach über dem Kopf hätten.
Mit dem "Armen", wie er als Bild in unseren Köpfen existiert, haben diese heutigen "Armen" nichts gemeinsam. Sie werden als arm definiert, weil ihr Einkommen unterhalb eines bestimmten Prozentsatzes (meist 50 Prozent) des mittleren Einkommens (Median der Einkommensverteilung) liegt. "Relative Armut" wird das genannt und wäre nur dann zu beseitigen, wenn man alle Einkommen in erheblichem Maß einander angleichen würde.
Das erläutert Sarrazin in diesem Kapitel im einzelnen. Ich habe dazu 2006 eine Serie geschrieben, die weitgehend dieselben Informationen enthält und die Sie vielleicht nachschlagen möchten, wenn Sie Näheres zum Begriff "Armut" erfahren wollen.
Aber darum geht es Sarrazin nicht zentral. Es geht ihm um das, was das zweite Beispiel illustriert: Die psychische Verarmung, die mit einer ausreichenden materiellen Versorgung durch den Staat einhergeht, ja die durch diese nachgerade herbeigeführt wird: "Nicht die materielle, sondern die geistige und moralische Armut ist das Problem" (S. 123).
Aus seiner Zeit als Berliner Senator berichtet Sarrazin dazu, wie der "Berliner Sozialpaß" genutzt wird, den alle Empfänger von Sozialhilfe, Grundsicherung und Arbeitslosengeld II erhalten: Sie können damit eine stark verbilligte Netzkarte für den öffentlichen Nahverkehr erwerben, wovon viele Gebrauch machen. Sie können damit auch kostenlos in Museen und Ausstellungen gehen sowie zum Preis von drei Euro Theater- und Opernkarten kaufen. Die Nachfrage nach diesem Kulturangebot blieb, schreibt Sarrazin (S. 112), "minimal".
Sarrazin hat Recht, wenn er "viele gute Absichten und wenig Mut zur Wahrheit" konstatiert. Am bemerkenswertesten an diesem Kapitel seines Buchs erscheint mir, daß er ein Paradox herausarbeitet:
Das Konzept der "relativen Armut" basiert auf dem Gedanken, daß arm nicht nur ist, wer seine Grundbedürfnisse nicht befriedigen kann, sondern auch, wem die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verwehrt ist. Dazu wird immer wieder der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya Sen zitiert.
Seine Auffassung, daß es nicht nur auf materielle Versorgung, sondern auch auf die "actual capabilities" ankomme, wird - so Sarrazin, der sich mit Sens Schriften gründlich befaßt hat - mit der Übersetzung "Teilhabe" aber verkürzt wiedergegeben.
"Capabilities" sind bei Sen nämlich, schreibt Sarrazin, nicht nur die äußeren Möglichkeiten, die jemand hat, sondern ebenso seine individuellen Fähigkeiten - Bildung beispielsweise, Charakter, sportliche Fähigkeiten. Auf sie ist eine Sozialpolitik, die vorrangig die materielle Versorgung in den Blick nimmt, zu wenig ausgerichtet.
Es ergibt sich also das Paradox, daß gerade eine Sozialpolitik, die sich an Sens Armutsdefinition orientiert, deren Geist verfehlt. Indem man den Betreffenden die materielle "Teilhabe" ohne eigene Anstrengung erleichtert, nimmt man ihnen gerade den Anreiz und die Herausforderung, ihre eigenen Fähigkeiten zu entwickeln und damit ihr Leben selbstverantwortlich zu gestalten.
So sieht es Sarrazin. Und nun lesen Sie bitte, wie er seine Sicht zusammenfaßt (S. 133):
Schlimmer kann man Sarrazin schwerlich mißverstehen. Wer nicht sein Mitleid wie eine Monstranz vor sich herträgt, der muß deshalb nicht mitleidslos sein. Wer der Meinung ist, daß man Menschen keinen Gefallen tut, wenn man sie über Generationen als Kostgänger des Steuerzahlers leben läßt, der muß deshalb nicht gefühllos gegenüber diesen Menschen sein.
Gewiß, Sarrazin - der bedachtsame, introvertierte Intellektuelle, der Mann auch aus dem Ruhrpott, wo man Phrasendrescherei haßt - jammert nicht; weder über die Zukunft Deutschlands, die er düster beurteilt, noch über die Armen. Er schildert deren Lage und diskutiert, wie man sie verbessern kann.
Er zeigt das soziale Engagement eines Sozialdemokraten; nur freilich dasjenige eines Sozialdemokraten von der Art Helmut Schmidts, der wie Sarrazin die Emphase nicht liebt, und nicht das eines demokratischen Sozialisten von der Art der heutigen populistisch tönenden Rhetoren à la Sigmar Gabriel.
Sarrazin widmet ein Kapitel seines Buchs - das vierte - dem Thema Armut ("Armut und Ungleichheit. Viele gute Absichten, wenig Mut zur Wahrheit"). Der Untertitel benennt, worum es ihm geht: Er bezweifelt nicht die guten Absichten bei der Bekämpfung dessen, was Armut genannt wird. Er will aber zeigen, daß dabei oft nicht die tatsächlichen Gegebenheiten gesehen werden und daß das wahre Problem kaum angegangen wird.
Zu den Schwächen des Buchs gehört es, daß Sarrazin meist abstrakt bleibt. Illustrierende Beispiele findet man selten. In diesem Kapitel ist das anders; vermutlich deshalb, weil Sarrazin auf diesem Gebiet als Berliner Finanzsenator engagiert war und dabei anschauliche Erfahrungen sammelte.
Zwei solche Erinnerungen Sarrazins illustrieren die beiden Themen dieses Kapitels; oder sagen wir: die beiden Seiten derselben, zentralen These.
Der Hintergrund ist eine kleine Aktion des Senators Sarrazin Anfang 2008, mit der er beweisen wollte, daß man von Hartz IV ordentlich leben kann. Dazu legte er einen Speiseplan vor, aus dem hervorging, daß die Hartz-IV-Sätze ausreichen, um sich "ausgewogen und abwechslungsreich zu ernähren". Zur Untermauerung aßen er und seine Frau einige Tage nach einem solchen Speiseplan und waren mit dem Essen überaus zufrieden.
Ein Sturm der Entrüstung war die Folge. Und dieser führte - so wie jetzt nach dem Erscheinen des Buchs - zu zahlreichen Interviews. Darauf beziehen sich Sarrazins beide Erinnerungen:
Nach einem dieser Interviews wollte ihm ein Kameramann etwas vertraulich mitteilen: Sie, die Kameraleute, hätten von ihren Redaktionen die Anweisung, "in den Wohnungen von Hartz-IV-Empfängern so zu filmen, dass man die umfangreiche elektronische Ausstattung nicht sehe" (S. 118).
Ich halte das für glaubhaft, weil ich mich erinnere, wie baß erstaunt ich vor Jahren war, als in einem Bericht über eine Hartz-IV-Famlie, der deren Elend zeigen sollte, im Wohnzimmer ein großer Flachbild-Fernseher prangte; damals noch sehr teuer und somit ein Luxusgerät. Auch der Umstand, daß in der Unterschicht die Zahl der Kinder mit einem eigenen Fernseher größer ist als in der Mittel- und der Oberschicht und die Unterschicht-Kinder sogar häufiger einen eigenen PC haben als die Kinder der Oberschicht, zeigt, daß hier ein Problem liegt. Ein Problem freilich vor allem der Vermittlung dessen, was mit "Armut" gemeint ist.Sarrazins zweite Erinnerung möchte ich etwas ausführlicher zitieren (S.127f): Er war von einer Berliner Boulevardzeitung zu einer Diskussion mit Hartz-IV-Empfängern eingeladen worden, einem Paar Anfang zwanzig. Die Frau hatte Realschulabschluß und wollte Maskenbildnerin werden. Sarrazin machte sie darauf aufmerksam, daß die Chancen für eine Ausbildung in diesem Beruf nicht allzu gut seien. Ob sie nicht erst einmal eine Ausbildung als Verkäuferin machen wolle? Das hätte ihr der Filialleiter bei Lidl, bei dem sie jobbte, auch schon angeboten, antwortete die junge Frau. Sie wolle aber nicht. Sarrazin weiter:
"Wie sie den Tag verbringe, wollte ich wissen. Ihr Leben sei langweilig, erzählte sie. Kochen könne sie nicht, ihre Eltern, ebenfalls Hartz-IV-Empfänger, auch nicht. Wenn man wenig Geld habe und nichts zu tun, schlichen die Tage eben so dahin. Ich war schockiert: Diese gar nicht unintelligente und eigentlich grundvernünftige Frau ... schlug die Chancen aus, die sich ihr boten, weil niemand ein bisschen Druck auf sie ausübte und Schwung in ihr Leben brachte. Das geschieht millionenfach in Deutschland, und das ist ein Skandal! Durch unsere Art, die materielle Armut zu lindern, fördern wir millionenfach Passivität, Indolenz sowie die Armut im Geiste und rauben den Menschen Stolz und Selbstbewußtsein."
Da haben wir den Autor Sarrazin, dessen Buch der Journalist Steingart als "mitleidslos" abqualifiziert.
Das erste Beispiel illustriert, daß nicht materieller Mangel das Problem der "Armen" in Deutschland ist. Sie werden als arm ja nicht deshalb eingestuft, weil sie hungern oder frieren müßten, sich nicht ordentlich kleiden könnten und kein Dach über dem Kopf hätten.
Mit dem "Armen", wie er als Bild in unseren Köpfen existiert, haben diese heutigen "Armen" nichts gemeinsam. Sie werden als arm definiert, weil ihr Einkommen unterhalb eines bestimmten Prozentsatzes (meist 50 Prozent) des mittleren Einkommens (Median der Einkommensverteilung) liegt. "Relative Armut" wird das genannt und wäre nur dann zu beseitigen, wenn man alle Einkommen in erheblichem Maß einander angleichen würde.
Das erläutert Sarrazin in diesem Kapitel im einzelnen. Ich habe dazu 2006 eine Serie geschrieben, die weitgehend dieselben Informationen enthält und die Sie vielleicht nachschlagen möchten, wenn Sie Näheres zum Begriff "Armut" erfahren wollen.
Aber darum geht es Sarrazin nicht zentral. Es geht ihm um das, was das zweite Beispiel illustriert: Die psychische Verarmung, die mit einer ausreichenden materiellen Versorgung durch den Staat einhergeht, ja die durch diese nachgerade herbeigeführt wird: "Nicht die materielle, sondern die geistige und moralische Armut ist das Problem" (S. 123).
Aus seiner Zeit als Berliner Senator berichtet Sarrazin dazu, wie der "Berliner Sozialpaß" genutzt wird, den alle Empfänger von Sozialhilfe, Grundsicherung und Arbeitslosengeld II erhalten: Sie können damit eine stark verbilligte Netzkarte für den öffentlichen Nahverkehr erwerben, wovon viele Gebrauch machen. Sie können damit auch kostenlos in Museen und Ausstellungen gehen sowie zum Preis von drei Euro Theater- und Opernkarten kaufen. Die Nachfrage nach diesem Kulturangebot blieb, schreibt Sarrazin (S. 112), "minimal".
Sarrazin hat Recht, wenn er "viele gute Absichten und wenig Mut zur Wahrheit" konstatiert. Am bemerkenswertesten an diesem Kapitel seines Buchs erscheint mir, daß er ein Paradox herausarbeitet:
Das Konzept der "relativen Armut" basiert auf dem Gedanken, daß arm nicht nur ist, wer seine Grundbedürfnisse nicht befriedigen kann, sondern auch, wem die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verwehrt ist. Dazu wird immer wieder der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya Sen zitiert.
Seine Auffassung, daß es nicht nur auf materielle Versorgung, sondern auch auf die "actual capabilities" ankomme, wird - so Sarrazin, der sich mit Sens Schriften gründlich befaßt hat - mit der Übersetzung "Teilhabe" aber verkürzt wiedergegeben.
"Capabilities" sind bei Sen nämlich, schreibt Sarrazin, nicht nur die äußeren Möglichkeiten, die jemand hat, sondern ebenso seine individuellen Fähigkeiten - Bildung beispielsweise, Charakter, sportliche Fähigkeiten. Auf sie ist eine Sozialpolitik, die vorrangig die materielle Versorgung in den Blick nimmt, zu wenig ausgerichtet.
Es ergibt sich also das Paradox, daß gerade eine Sozialpolitik, die sich an Sens Armutsdefinition orientiert, deren Geist verfehlt. Indem man den Betreffenden die materielle "Teilhabe" ohne eigene Anstrengung erleichtert, nimmt man ihnen gerade den Anreiz und die Herausforderung, ihre eigenen Fähigkeiten zu entwickeln und damit ihr Leben selbstverantwortlich zu gestalten.
So sieht es Sarrazin. Und nun lesen Sie bitte, wie er seine Sicht zusammenfaßt (S. 133):
Gerade unter dem Aspekt des Glücks muß der Staat jene "capabilities" stützen, die den Menschen zu einer selbstbestimmten, ihn mit Stolz erfüllenden Lebensweise befähigen. (...) Investition in das Glück der Menschen muß Investition in ihren Stolz sein, und das heißt in die Entwicklung ihrer Fähigkeiten und die Förderung ihrer Anstrengungsbereitschaft.Ein "mitleidsloser" Autor, wie man sieht.
© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Thilo Sarrazin und Necla Kelek bei der Vorstellung von Sarrazins Buch am 30. August 2010. Vom Autor Richard Hebestreit unter Creative Commons Attribution 2.0 Generic-Lizenz freigegeben. Alle Zitate von Thilo Sarrazin aus: Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser unser Land aufs Spiel setzen. München: Deutsche Verlagsanstalt, 4. Auflage 2010. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier.