14. Oktober 2010

Neues aus der Forschung (10): Macht der Ruhestand dumm? Vielleicht nicht, aber ...

"Does retirement make people dumb?" (Macht der Ruhestand einen dumm?) lautet eine Überschrift im Informationsdienst The Slatest; und das ist nun freilich dumm gefragt.

Jedenfalls ist es dumm gefragt in Bezug auf den Artikel in der New York Times (NYT), auf den sich die Meldung bezieht.

Dort nämlich geht es nicht um Dummheit oder Schlauheit, sondern nur um das Gedächtnis. Und es geht auch nicht um das Gedächtnis allgemein, sondern um das verbale Gedächtnis, also das Gedächtnis für das, was in Sprache ausgedrückt ist.

Und es geht auch nicht um das verbale Gedächtnis allgemein, wozu zum Beispiel auch das semantische Gedächtnis gehört, also das Wissen und Behalten der Bedeutung von Wörtern und Begriffen.

Um das alles geht es nicht in dem Artikel, den die Wissenschaftsredakteurin Gina Kolata Anfang dieser Woche in der NYT geschrieben hat ("Taking early retirement may retire memory, too" - "früher Ruhestand kann auch das Gedächtnis früh zur Ruhe setzen", so heißt die dortige bescheidenere Überschrift).

Sondern es geht um das sogenannte episodische Gedächtnis für Wörter. Also nicht darum, ob man die Bedeutung eines Worts "im Gedächtnis hat", sondern ob man sich daran erinnert, daß man es vor Kurzem gehört oder gelesen hat. Es geht darum, ob man sich noch richtig an diese Episode erinnert; darum "episodisches Gedächtnis".



Die Leistung in einem solchen Test hat man bei Menschen im Alter zwischen 60 und 64 Jahren untersucht; also in einer Altersgruppe, in der ein Teil noch arbeitet und ein Teil im Ruhestand ist. Würde sich ein Zusammenhang zwischen Gedächtnisleistung und Berufstätigkeit erkennen lassen? Würde dieses episodisches Gedächtnis bei noch Berufstätigen besser sein als bei ihren Altersgenossen, die bereits im Ruhestand sind?

Das Problem bei einer solchen Fragestellung ist, daß eine Korrelation oft nicht eindeutig kausal zu interpretieren ist. Wenn es einen Zusammenhang zwischen Berufstätigkeit und Gedächtnisleistung gibt - bedeutet das, daß man im Gedächtnis fitter bleibt, wenn man noch arbeitet? Oder ist es vielleicht umgekehrt so, daß diejenigen, die geistig fitter sind, auch länger arbeiten?

In der Untersuchung, die Kolata beschreibt (die Zusammenfassung können Sie hier lesen) ist man diesem Problem zuleibe gerückt, indem man nicht Individuen, sondern Länder miteinander verglichen hat.

Die einzelnen Länder unterscheiden sich erheblich darin, wieviel Prozent der Menschen im Alter von Anfang sechzig noch arbeiten. Von den Amerikanern arbeiten zum Beispiel noch 65 bis 70 Prozent dieser Altersgruppe; in Frankreich und Italien aber nur 10 bis 20 Prozent.

Woher kommen diese Unterschiede? Daß die Italiener und die Franzosen generell in diesem Alter weniger geistig fit sind als die Amerikaner und deshalb früher in den Ruhestand gehen, ist unwahrscheinlich. Das unterschiedliche Alter beim Eintritt in den Ruhestand liegt vielmehr an der Sozialgesetzgebung, dem Steuerrecht usw.

Wenn sich also beim Vergleich zwischen den Ländern ein Zusammenhang zwischen dem Prozentsatz der noch Arbeitenden und der Gedächtnisleistung zeigte, dann wäre die Richtung der Kausalwirkung relativ eindeutig: Wer mehr arbeitet, der hat - im Schnitt! - ein besseres Gedächtnis. Denn daran, daß umgekehrt die Fitteren länger arbeiten, kann es dann schwerlich liegen.



Untersucht wurden Probanden in den USA und diversen europäischen Ländern. Sie bekamen eine Liste von 20 Wörtern gezeigt die sie sich einprägen sollten. Entweder sofort oder nach 10 Minuten sollten sie die Wörter notieren, die sie sich gemerkt hatten.

Die Ergebnisse können Sie in dieser Grafik sehen. Auf der Abszisse ist für die einzelnen Länder der Prozentsatz der Ruheständler im Alter zwischen 60 und 64 Jahren aufgetragen; auf der Ordinate die durchschnittliche Zahl der Wörter (von 20), die von den untersuchten Probanden behalten wurden.

Man sieht eine deutliche negative Korrelation: Je höher der Prozentsatz der Ruheständler, desto schlechter war die Gedächtnisleistung. Am besten schnitten die Amerikaner ab, von denen die meisten in diesem Alter noch arbeiten. Diese Stichprobe konnte im Schnitt 11 der 20 Wörter aus der Erinnerung richtig wiedergeben. Die Leistung der Probanden aus den Ländern mit frühem Ruhestand (Italien, Frankreich, Spanien) lag hingegen nur zwischen 6 und 8 Wörtern.

Deutschland rangierte in beiden Maßen - beim Prozentsatz der Ruheständler und bei der durchschnittlichen Testleistung - im Mittelfeld.

Man kann natürlich nicht ausschließen, daß andere Unterschiede als in Bezug auf den Ruhestand für den Unterschied zwischen den Ländern verantwortlich sind. Vielleicht liegt es ja an der Ernährung oder am Klima oder an der Zahl der Enkel, wie gut das Gedächtnis mit Anfang sechzig noch ist.

Falls aber tatsächlich der Zeitpunkt des Eintritts in den Ruhestand verantwortlich ist, dann stellt sich naturgemäß die Frage, was denn dort der kritische Faktor ist oder was die kritischen Faktoren sind.

Liegt es an den besseren sozialen Kontakten der Arbeitenden, ihrer kognitiven Beanspruchung oder vielleicht schlicht der besseren Durchblutung des Gehirns, die mit Arbeit einhergeht? Oder ist es umgekehrt so, daß das viele Fernsehen beim Ruheständler das Gedächtnis kümmern läßt?

Das wird in dem Artikel diskutiert, und natürlich kann man sich noch weitere potentielle Faktoren einfallen lassen. Vielleicht wächst mit frühem Eintritt in den Ruhestand der Alkoholkonsum, was wiederum Hirnzellen lädiert? Oder vielleicht strengen sich Ruheständler bei einem solchen Test einfach nicht an, weil sie aus der Leistungs-Tretmühle heraus sind?

Fragen über Fragen, die natürlich - was Wissenschaftler immer gut finden - weitere Forschung erforderlich machen.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Galileo Galilei, gemalt im Jahr 1605 von Domenico Robusti. Ausschnitt. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier.