1. Oktober 2010

Zitat des Tages: "Eine Verharmlosung der Diktatur". Aufarbeitung des SED-Staats, Aufarbeitung des NS-Staats. Mit einer Anmerkung zur Meinungsvielfalt

Die DDR war eine Diktatur. Sie hat sich selbst so bezeichnet. Hier hat die mehrfach umbenannte SED – die sich heute die Linke nennt – ihren größten Propagandaerfolg errungen: Sie hat in der Öffentlichkeit durchgesetzt, dass eine Kritik an der SED als Kritik an der Lebensleistung der Ostdeutschen verstanden wird. Natürlich gibt es geglückte Biographien auch in einer Diktatur – aber nicht als Ergebnis, sondern trotz dieser Diktatur. (...)

Aber die Behauptung, es wäre nicht alles schlecht gewesen, ist eine Verharmlosung der Diktatur. Mit dem gleichen Recht könnte man auf Hitlers Autobahnen oder die Vollbeschäftigung im Dritten Reich hinweisen.


Vera Lengsfeld in einem Interview mit Till Behrend, das seit gestern in "Focus-Online" zu lesen ist.


Kommentar: Vera Lengsfeld sagt das Selbstverständliche. Es ist aber nicht selbstverständlich, daß jemand das sagt.

Denn was wir derzeit bei der Sicht auf die kommunistische Diktatur erleben, das ist gegenläufig zur Entwicklung der Sicht auf die Nazizeit in der Bundesrepublik der ersten zwanzig Jahre nach 1945.

Am Anfang gab es damals - von den politisch Engagierten abgesehen - eine gewisse Gleichgültigkeit. Man verdrängte; man war ganz mit dem Wiederaufbau beschäftigt. Wenn sie sich erinnerten, dann standen für die meisten Deutschen zunächst die Schrecken des Kriegs, die sie persönlich hatten ertragen müssen, im Vordergrund.

Allmählich setzte die Aufarbeitung der NS-Zeit ein. Die Verbrechen der Nazis traten stärker ins öffentliche Bewußtsein. Dabei spielten spektakuläre Ereignisse eine Rolle wie beispielsweise die antisemitischen Äußerungen des Offenburger Studienrats Ludwig Zind im Jahr 1957, die Schändung einer Synagoge in Köln Ende 1959, der Eichmann-Prozeß 1960 und dann vor allem der erste Auschwitzprozeß von 1963 bis 1965.

Es waren also fast zwanzig Jahre seit dem Ende der ersten deutschen Diktatur vergangen, bis man sich wirklich ernsthaft mit ihren Verbrechen beschäftigte.

In Bezug auf die zweite deutsche Dikatur sieht es umgekehrt aus.

Ihr Ende ist jetzt ebenfalls gut zwanzig Jahre her; wir leben in Bezug auf sie, wenn man das zurückprojiziert, sozusagen Mitte der sechziger Jahre. Aber es setzt jetzt nicht eine Aufarbeitung ein, sondern im Gegenteil eine Verharmlosung; jedenfalls der Versuch dazu.

Wer in den Jahrzehnten nach 1945 in Bezug auf die Nazi-Diktatur sagte "Aber es war doch nicht alles schlecht", der wurde als Verharmloser verstanden und hat das wohl auch in der Regel so gemeint. Jedenfalls anfangs. Denn dann bekam dieser Topos einen neuen Sinn.

Je intensiver die Diskussion über die NS-Verbrechen geführt wurde, umso absurder erschien es, dagegen die Autobahnen (oder die Vollbeschäftigung oder den Feriendienst KdF usw.) ins Feld führen zu wollen. Ernsthaft konnte doch niemand so argumentieren. Dieses Argument wurde verpönt.

Die Folge: Wer mit diesem Satz operierte, der tat es bald in der Regel, um Versuche einer Verharmlosung gerade zu entlarven. Wenn also jemand irgend etwas an Hitler, seiner Politik, den Nazis überhaupt zu verteidigen suchte, dann erhielt er die ironische Antwort: "Jaja, und die Autobahnen hat er auch gebaut".

Bei dem Rückblick auf die kommunistische Diktatur ist diese Stufe der Umkehrung ins Ironische leider noch nicht erreicht; wer weiß, ob wir sie je erreichen werden.

Heute hören wir zur DDR: "Aber es gab doch die Kitas" oder "Aber jeder hatte doch Arbeit". Nur zitieren das nicht Demokraten, um es ironisch ad absurdum zu führen, sondern das wird von Apologeten der SED-Diktatur allen Ernstes vorgebracht; kürzlich erst pries Gregor Gysi wieder einmal "DDR-Errungenschaften".



Diese Gegenläufigkeit der Entwicklungen hat sicher viele historische Gründe, die ich jetzt nicht erörtern möchte. Hinweisen will ich aber auf einen Aspekt von beklemmender Aktualität:

Mit der Aufarbeitung der Nazi-Diktatur ab Ende der fünfziger Jahre ging ein wachsendes demokratisches Bewußtsein einher, wie es sich erstmals in der "Spiegel"-Affäre von 1962 manifestierte und dann in den unruhigen Zeiten vor und nach 1970 (siehe die Serie "Wir Achtundsechziger"; dort vor allem Wie alles anfing; ZR vom 4. Juni 2007). Der Meinungsdiktatur der Nazis wurde das Konzept einer pluralistischen Gesellschaft entgegengestellt, in der kontroverse Meinungen nicht nur erlaubt, sondern für welche diese nachgerade konstitutiv sind.

Spiegelbildlich dazu haben wir in den vergangenen Jahren erlebt, wie parallel zu der Neigung, die DDR-Diktatur zu verharmlosen und zu beschönigen, die Tendenz wuchs, an die Stelle demokratischer Vielfalt eine von den dominierenden Medien verordnete und implementierte Einheitsmeinung treten zu lassen.

Zwanzig Jahre nach dem Ende der einen Diktatur gründete sich die Bundesrepublik wesentlich auf deren Ablehnung. Zwanzig Jahre nach dem Ende der anderen Diktatur gibt es wachsende Tendenzen, sich Merkmale dieser Diktatur zu eigen zu machen.

Der Fall Fall Sarrazin und der Fall des Politologie-Professors Konrad Löw, auf den ich gerade aufmerksam gemacht habe (Was darf in Deutschland ein Wissenschaftler schreiben, ohne stigmatisiert zu werden? Der Fall Konrad Löw ; ZR vom 1. 10. 2010), illustrieren das.

Auch auf diesen Gesichtspunkt hat Vera Lengsfeld in dem "Focus"-Interview hingewiesen. Zur Sarrazin-Debatte sagte sie:
Die Debatte hat gezeigt, wie groß die Kluft zwischen Politik und den meisten Medien und den Bürgern ist. Früher gab es die Einheitspartei. Heute soll anscheinend eine Einheitsmeinung hergestellt werden. Das wird nicht klappen. Eine ähnliche Diskrepanz zwischen veröffentlichter und öffentlicher Meinung kenne ich nur aus der DDR der 80er-Jahre. Das Ergebnis ist bekannt.
Das Ergebnis war damals das Ende des Staats, in dem es diese Kluft gegeben hatte. Das wird jetzt - zum Glück - nicht eintreten. Denn der demokratische Rechtsstaat Bundesrepublik verfügt über Mechanismen, die es ermöglichen, eine solche Fehlentwicklung zu korrigieren.

Ich bin da optimistisch; siehe Die dritte Phase in der Geschichte der Bundesrepublik geht in diesen Tagen zu Ende; ZR vom 14. September 2010).



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