22. Oktober 2010

Marginalie: Nationale Klischees. Frankreich vs die Briten. Und Deutschland?

In ihrem heutigen Kommentar in der Washington Post trägt Anne Appelbaum ein Klischee über Klischees vor: Daß sie oft stimmen. Sie nennt und vergleicht zwei Klischees. Sie vergißt ein drittes.

Es geht um die aktuellen politischen Vorgänge in Europa. Anne Applebaum vergleicht, was sich in diesen Tagen in Frankreich zuträgt, und was in England.

In Frankreich die Streiks, die Aufruhr. Ähnlich, wie ich es kürzlich beschrieben habe (Der heiße Herbst 2010. Was ist mit diesen Franzosen los? Versuch einer Erklärung; ZR vom 21. 10. 2010), sieht sie die jetzigen Ereignisse in der französischen Geschichte politischer Streiks begründet:
The French fondness for strikes is based on experience ... Strikes, riots and street demonstrations led to political changes not only in 1789 but also in 1871, 1958 and many other times.

Die französische Vorliebe für Streiks beruht auf Erfahrung ... Streiks, Unruhen und Demonstrationen führten zu politischen Veränderungen; nicht nur 1789, sondern auch 1871, 1958 und zu vielen anderen Zeiten.
Die Briten hingegen streiken nicht, sondern sie nehmen - von kleinen Gruppen von Extremisten abgesehen - die rigorose Sparpolitik der konservativ-liberalen Regierung hin. Auch das sieht Anne Applebaum historisch begründet:
.... the British, unlike Americans, have positive memories of wartime austerity and even rationing. More recently, Margaret Thatcher's 1981 budget cuts heralded real reforms in Britain and, eventually, a period of growth and prosperity.

... die Briten haben, anders als die Amerikaner, positive Erinnerung an die Einschränkungen im Krieg und selbst an die Rationierungen. Später haben Margaret Thatchers Budgetkürzungen von 1981 wirkliche Reformen in Großbritannien und schließlich eine Periode des Wachstums und des Wohlstands angekündigt.
Kurz, jede der beiden Nationen verhält sich in der jetzigen Krise so, wie es dem Klischee entspricht. Im Zeitalter der Globalisierung findet Anne Applebaum diese nationalen Unterschiede bemerkenswert:
In an age of supposed globalization, when we are all allegedly becoming more alike -- listening to the same American music, buying the same Chinese products -- it is astonishing how absolutely British the British remain and how thoroughly French are the French.

Im Zeitalter einer unterstellten Globalisierung, in dem wir alle angeblich einander ähnlicher werden - wir hören dieselbe amerikanische Musik, kaufen dieselben chinesischen Waren - ist es erstaunlich, wie ganz und gar britisch die Briten und wie durch und durch französisch die Franzosen bleiben.
Da hätte man sich als Deutscher doch gewünscht, daß die Autorin auch an Deutschland denkt. Daß sie überlegt hätte: Verhalten auch die Deutschen sich in der jetzigen Krise entsprechend ihren nationalen Traditionen? Bleiben auch sie ganz und gar deutsch?

Da Applebaum das nicht fragt - fragen wir es uns dann eben selbst.



Die politische Korrektheit in Deutschland gebietet es, bei einer solchen Frage unverzüglich nach Negativem zu suchen. "Typisch deutsch" dürfen wir etwas nennen, um es zu verurteilen, um uns davon zu distanzieren. Das ist das deutsche Klischee über das Klischee des Deutschen.

Oder vielmehr: Das war es in den vergangenen beiden Jahrzehnten, in der Zeit des Mehltaus. Sie geht zu Ende, wie ich behaupte (Die dritte Phase in der Geschichte der Bundesrepublik geht in diesen Tagen zu Ende. Eine These; ZR vom 14. 9. 2010). Fragen wir also unbefangen, ob auch die Lage in Deutschland nationaler Tradition entspricht, und halten wir dabei Ausschau nach Positivem.

Diese Lage ist - natürlich - dadurch gekennzeichnet, daß es keine Krise gibt; oder genauer, daß wir die Krise weitgehend hinter uns haben, von der die Briten und die Franzosen noch immer gebeutelt werden.

Wir verdanken das wesentlich einer nationalen Tradition, die vielleicht nicht älter ist als die Bundesrepublik, vielleicht aber doch: Wir Deutschen haben kein Talent zum Klassenkampf. Wir sind - sicher nicht ausschließlich, aber doch ganz wesentlich - deshalb so gut durch die Krise gekommen, weil (ich habe kürzlich darauf hingewiesen) Unternehmer, Gewerkschaften und Regierung kooperiert haben, statt gegeneinander zu arbeiten.

Dieser Gemeinsinn, diese "Gemeinsamkeit der Demokraten" stand am Beginn der Bundesrepublik, als Lehre aus dem Scheitern der Weimarer Republik. Ihr wirtschaftspolitischer Ausdruck sind soziale Marktwirtschaft und Mitbestimmung.

Die soziale Marktwirtschaft hat sich auch in dieser Krise wieder bewährt. Dank der massiven staatlichen Finanzierung von Kurzarbeit und dank der Zustimmung der Gewerkschaften zur Kurzarbeit konnten Entlassungen in Grenzen gehalten werden; für den jetzt einsetzenden Aufschwung standen dadurch die Arbeitskräfte bereit.

Eine nachgerade vorbildliche Zurückhaltung bei den Lohnforderungen ermöglichte sodann die Investitionen, die eine weitere Voraussetzung für den Aufschwung waren.

Die Mitbestimmung mag oft unternehmerische Entscheidungen erschweren und verlangsamen. Sie hat aber den sehr großen Vorteil, daß die Vertreter der Arbeitnehmer Einblick in die Lage des Unternehmens bekommen; daß sie lernen, Löhne als Kostenfaktor und nicht nur aus der Perspektive des Lohnempfängers zu sehen.

Jenseits des Rheins staunt man immer wieder, daß bei uns so etwas funktioniert. Dort sehen Gewerkschafter allenfalls dann ein Vorstandsbüro von innen, wenn es wieder einmal "besetzt" wird (manchmal inclusive der séquestration, der Festsetzung oder Entführung von Direktoren).

Als die Krise ihren Höhepunkt erreicht hatte, haben die französischen Gewerkschaften nicht etwa eine Zurückhaltung bei den Löhnen gezeigt, sondern im Gegenteil versucht, mittels eines Generalstreiks Lohnerhöhungen durchzusetzen; siehe Wie man in Frankreich auf die Wirtschaftskrise reagiert; ZR vom 29. 1. 2009.

Das geschah gemäß dem französischen Klischee von der revolutionären Gegenmacht. Dem deutschen Klischee vom Gemeinsinn entsprach es, daß sich alle am Wirtschaftsprozeß Beteiligten kooperativ verhalten haben.

Das Verhalten nach diesem Klischee war offenkundig sowohl der französischen Mischung aus Etatismus und Revoluzzertum als auch dem britischen Hin und Her zwischen Laissez-faire und dem großzügigen Verteilen sozialer Wohltaten überlegen.



Ebenfalls in seiner heutigen Kolumne in der Washington Post beschreibt Charles Krauthammer die wirtschaftliche Situation in Europa als "severe distress" und "visible moral collapse"; als "schwere Notlage" und einen "sichtbaren moralischen Zusammenbruch".

Er nennt neben Ländern wie Griechenland und Portugal als sein Beispiel Frankreich. Er hätte auch das Vereinigte Königreich nennen können. Deutschland nicht.



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