Im Deutschland des Jahres 2010 gehen die Bürger auf die Straße, sie werden renitent und machen mobil. (...) Das Gemeinwesen ist aufgewühlt und trotzig, gespalten und rebellisch. (...) Die Bürger zweifeln an der Rationalität der Funktionssysteme, der Veränderungsfuror macht ihnen Angst, und sie empfinden den Fortschritt ("Innovation, Reform") als Eingriff in ihre Lebenswelt, als "Landnahme".
Thomas Assheuer, Feuilletonredakteur der "Zeit", in deren aktueller Ausgabe (42/2010 vom 14. 10. 2010) unter dem Titel "Wir haben die Nase voll!" über die politische Lage in Deutschland.
Kommentar: Assheuer stößt ins selbe Horn wie vor einer Woche Dirk Kurbjuweit im "Spiegel" (siehe Ein Gutmensch erfindet den Wutbürger; ZR vom 11. 10. 2010).
Kurbjuweit hatte freilich nur laut - sehr laut - mit diesem Horn getutet. Assheuer versucht immerhin eine Melodie zu spielen.
Kurbjuweit vermutet hinter der Unruhe, die unser Land erfaßt hat, einen Fiesling, den "Wutbürger". Das ist ungefähr auf dem Niveau der Kommentatoren und Politiker, welche um 1968 herum "den langhaarigen Studenten" für die Unruhe verantwortlich machten, die damals in einer in mancher Hinsicht vergleichbaren Weise die gesellschaftliche Stimmung prägte.
"Seht euch diese Typen an" hatte der Berliner Regierende Bürgermeister Klaus Schütz damals vor dem Schöneberger Rathaus gerufen, und er meinte die renitenten Studenten; man kann es im "Spiegel" vom Mai 1968 nachlesen. Wie sich Kurbjuweit die Typen vorstellt, die er "Wutbürger" nennt, habe ich am Beginn meines Kommentars vor einer Woche zitiert. Mob hier, Mob da.
Autoren von der bescheidenen gedanklichen Kraft Kurbjuweits schrieben damals freilich eher für "Bild"; im "Spiegel" wurde seinerzeit ein wenig differenzierter gedacht. Assheuer versucht das.
Denn auf dieser karikierend-personifizierenden Ebene des "Wutbürgers" sucht der studierte Philosoph Assheuer die Erklärung nicht. Er denkt nach. Heraus kommt freilich das, was man als "Linksliberaler" immer denkt, wenn es Unruhen im Volk gibt, die nicht von linken Parteien, Gewerkschaften und/oder sonstigen linken Gruppen gesteuert werden:
Er denkt dann, der "Linksliberale", daß der tumbe Bürger die Komplexität der modernen Welt nicht durchschaut; daß ihn eine dumpfe Angst erfaßt und er deshalb "renitent" wird. Ungefähr wie ein Kind, das herumtrotzt, weil es nicht in die Schule will, von der es ahnt, daß sie ihm zu viel abfordern wird.
Gestern Abend hat der Bestsellerautor Richard David Precht bei Anne Will diese Erklärung vorgetragen; und sie ist auch diejenige Assheuers:
Das ist zwar nicht ganz so, sagen wir, krude gedacht wie bei Kurbjuweits Erklärungsmodell vom entfesselten "Wutbürger". Ein erkennbarer Bezug dieser Erklärung Assheuers zu dem Sachverhalt, den sie erklären soll, also zu der jetzigen Unruhe in Deutschland, ist aber ebenfalls nicht vorhanden.
Ein Aufstand gegen "die Moderne", gegen den Kapitalismus, gegen Schnelligkeit und Innovationsdruck? Ja, wo denn? Wo gibt es denn "militante Nostalgie"?
Es gibt etwas ganz anderes: Viele Menschen haben in der Tat "die Nase voll"; aber nicht von der Komplexität der modernen Welt, sondern von der Bevormundung durch die selbsternannten Erzieher der Deutschen.
Die meisten Deutschen haben sich zwei Jahrzehnte lang der Dominanz einer "linksliberalen" und vom Öko-Thema besessenen Ideologie gebeugt, die zunehmend den Charakter eines umfassenden Vorhabens der Volkserziehung angenommen hat. Die Erziehungsinhalte waren Werte wie "Umweltbewußtsein", "kulturelle Vielfalt", "Gerechtigkeit" (womit das Ziel einer egalitären Gesellschaft gemeint war).
Damit waren zugleich die Felder definiert, die für den öffentlichen Diskurs zugelassen waren. Dieser spielte sich innerhalb der von der Meinungselite festgesetzten Grundüberzeugungen ab; ungefähr so, wie Schriftgelehrte über Auslegungsvarianten ihrer Heiligen Schriften streiten, diese selbst aber nicht in Frage stellen.
Wer andere Themen - etwa das Selbstverständnis unserer Nation, das Problem der Einwanderung, die Verkrustungen des Sozialstaats, die demographische Zukunft Deutschlands - zur Sprache zu bringen versuchte, der fand kaum Gehör; der wurde an den Rand gedrängt. Und es gab ja solche Mahner durchaus auch schon vor Sarrazin; Meinhard Miegel zum Beispiel und Herwig Birg.
Mitte September hat Norbert Bolz diese Übermacht einer selbsternannten Elite trefflich gekennzeichnet. Bei ihr haben wir es, meint Bolz,
Das ist es, was zum wachsenden Unmut in der Bevölkerung, was zu einem weitverbreiteten Gefühl der Ohnmacht geführt hat. Darum hat das Buch von Sarrazin eine so ungeheure Resonanz gefunden; seit Bestehen der Bundesrepublik hat kein politisches Sachbuch auch nur annähernd eine Auflage von einer Million erreicht.
Was wir in diesen Tagen erleben, das könnte sehr gut ähnlich weitreichende Folgen haben wie die Unruhen Ende der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, die sich gegen das "Establishment" richteten.
Auch damals hatte sich die Lebenswirklichkeit - vor allem diejenige der jungen Generation - so entwickelt, daß die dominierenden Werte und Meinungen nicht mehr für sie paßten (siehe Die Nachkriegskinder. Eine moralisch-hedonistische Generation wendet sich gegen eine skeptische Generation; ZR vom 4. 5. 2008).
Was ihnen gepredigt wurde, das interessierte viele Menschen nicht mehr; das, was sie interessierte, fand keinen Widerhall im öffentlichen Diskurs. Zwar nicht Produktionsverhältnisse und Entwicklungsstand der Produktivkräfte (wie Marx das für eine revolutionäre Situation behauptete) gerieten in Widerspruch zueinander, aber der geltende Werte- und Verhaltenskodex und die Lebenswirklichkeit.
Exakt das erleben wir in diesen Tagen.
Damals erschrak das "Establishment" vor dieser ihm unverständlichen Bewegung; damals sahen die Konservativen diese unruhigen jungen Leute als einen "Mob", so wie heute Kurbjuweit die von ihm erfundenen "Wutbürger".
Damals waren es die Kirche, die konservativen Lehrer und Professoren samt der "bürgerlichen" Presse, die fürchteten, daß ihnen die Kontrolle über den öffentlichen Diskurs entgleiten würde; heute hegen diese Furcht die "neuen Jakobiner" (Bolz) wie Kurbjuweit und Assheuer.
Ihre Meinungsherrschaft basierte ja nicht auf realer Macht; auf der "Macht, die aus den Gewehrläufen kommt", wie es Mao einst gesagt hatte. Sondern sie basierte allein darauf, daß man sich nicht öffentlich zu widersprechen traute; daß diejenigen, die es taten, erbarmungslos ausgegrenzt wurden.
Das hat man auch mit Sarrazin versucht. Und siehe da - es hat nicht funktioniert. Zum ersten Mal hat es nicht funktioniert.
Nichts ist gefährlicher für Meinungsherrschaft, als wenn ein radikaler Widerspruch nicht zum Schweigen gebracht werden kann. Da ist dann der Kaiser auf einmal nackt.
Weitere Beiträge zum Thema:
Thomas Assheuer, Feuilletonredakteur der "Zeit", in deren aktueller Ausgabe (42/2010 vom 14. 10. 2010) unter dem Titel "Wir haben die Nase voll!" über die politische Lage in Deutschland.
Kommentar: Assheuer stößt ins selbe Horn wie vor einer Woche Dirk Kurbjuweit im "Spiegel" (siehe Ein Gutmensch erfindet den Wutbürger; ZR vom 11. 10. 2010).
Kurbjuweit hatte freilich nur laut - sehr laut - mit diesem Horn getutet. Assheuer versucht immerhin eine Melodie zu spielen.
Kurbjuweit vermutet hinter der Unruhe, die unser Land erfaßt hat, einen Fiesling, den "Wutbürger". Das ist ungefähr auf dem Niveau der Kommentatoren und Politiker, welche um 1968 herum "den langhaarigen Studenten" für die Unruhe verantwortlich machten, die damals in einer in mancher Hinsicht vergleichbaren Weise die gesellschaftliche Stimmung prägte.
"Seht euch diese Typen an" hatte der Berliner Regierende Bürgermeister Klaus Schütz damals vor dem Schöneberger Rathaus gerufen, und er meinte die renitenten Studenten; man kann es im "Spiegel" vom Mai 1968 nachlesen. Wie sich Kurbjuweit die Typen vorstellt, die er "Wutbürger" nennt, habe ich am Beginn meines Kommentars vor einer Woche zitiert. Mob hier, Mob da.
Autoren von der bescheidenen gedanklichen Kraft Kurbjuweits schrieben damals freilich eher für "Bild"; im "Spiegel" wurde seinerzeit ein wenig differenzierter gedacht. Assheuer versucht das.
Denn auf dieser karikierend-personifizierenden Ebene des "Wutbürgers" sucht der studierte Philosoph Assheuer die Erklärung nicht. Er denkt nach. Heraus kommt freilich das, was man als "Linksliberaler" immer denkt, wenn es Unruhen im Volk gibt, die nicht von linken Parteien, Gewerkschaften und/oder sonstigen linken Gruppen gesteuert werden:
Er denkt dann, der "Linksliberale", daß der tumbe Bürger die Komplexität der modernen Welt nicht durchschaut; daß ihn eine dumpfe Angst erfaßt und er deshalb "renitent" wird. Ungefähr wie ein Kind, das herumtrotzt, weil es nicht in die Schule will, von der es ahnt, daß sie ihm zu viel abfordern wird.
Gestern Abend hat der Bestsellerautor Richard David Precht bei Anne Will diese Erklärung vorgetragen; und sie ist auch diejenige Assheuers:
... die Angst vor dem Verlust lebensweltlicher Verlässlichkeit wird man politisch weder rückstandsfrei "bearbeiten" noch sonst wie aus der Welt schaffen können. Solche Tiefenängste entspringen einer vom zermürbenden Kampf um Wettbewerbsfähigkeit verhexten Lebensweise und paaren sich gern mit militanter Nostalgie und konservativen Reflexen.Was uns Assheuer damit und mit Hartmut Böhme wortreich und ein wenig ungelenk sagen will, ist schlicht dies: Den Leuten ändert sich alles zu schnell. Sie mögen's lieber beständiger. Das Tempo macht ihnen Angst. Deshalb machen sie jetzt Rabbatz.
Um es mit dem Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme zu sagen: Die entfesselte kapitalistische Moderne ist nun einmal gezwungen, ihre "Identität auf permanenten und damit riskanten Wandel einzustellen", auf chaotische Unbestimmtheit, auf "Bewegung, Zerstörung und Wachstum". "Unsicherheit ist ihre Entwicklungs-voraussetzung. Aber der Innovationsdruck in Kombination mit Enttraditionalisierung bedeutet für immer mehr Menschen nur noch Stress und Schmerz."
Das ist zwar nicht ganz so, sagen wir, krude gedacht wie bei Kurbjuweits Erklärungsmodell vom entfesselten "Wutbürger". Ein erkennbarer Bezug dieser Erklärung Assheuers zu dem Sachverhalt, den sie erklären soll, also zu der jetzigen Unruhe in Deutschland, ist aber ebenfalls nicht vorhanden.
Ein Aufstand gegen "die Moderne", gegen den Kapitalismus, gegen Schnelligkeit und Innovationsdruck? Ja, wo denn? Wo gibt es denn "militante Nostalgie"?
Es gibt etwas ganz anderes: Viele Menschen haben in der Tat "die Nase voll"; aber nicht von der Komplexität der modernen Welt, sondern von der Bevormundung durch die selbsternannten Erzieher der Deutschen.
Die meisten Deutschen haben sich zwei Jahrzehnte lang der Dominanz einer "linksliberalen" und vom Öko-Thema besessenen Ideologie gebeugt, die zunehmend den Charakter eines umfassenden Vorhabens der Volkserziehung angenommen hat. Die Erziehungsinhalte waren Werte wie "Umweltbewußtsein", "kulturelle Vielfalt", "Gerechtigkeit" (womit das Ziel einer egalitären Gesellschaft gemeint war).
Damit waren zugleich die Felder definiert, die für den öffentlichen Diskurs zugelassen waren. Dieser spielte sich innerhalb der von der Meinungselite festgesetzten Grundüberzeugungen ab; ungefähr so, wie Schriftgelehrte über Auslegungsvarianten ihrer Heiligen Schriften streiten, diese selbst aber nicht in Frage stellen.
Wer andere Themen - etwa das Selbstverständnis unserer Nation, das Problem der Einwanderung, die Verkrustungen des Sozialstaats, die demographische Zukunft Deutschlands - zur Sprache zu bringen versuchte, der fand kaum Gehör; der wurde an den Rand gedrängt. Und es gab ja solche Mahner durchaus auch schon vor Sarrazin; Meinhard Miegel zum Beispiel und Herwig Birg.
Mitte September hat Norbert Bolz diese Übermacht einer selbsternannten Elite trefflich gekennzeichnet. Bei ihr haben wir es, meint Bolz,
... mit einer Moralisierung am Medienpranger zu tun – dem politisch Unkorrekten wird der Schauprozess gemacht. Hier dominiert vor allem bei den "engagierten" Journalisten eine blasierte moralistische Selbstgerechtigkeit. Vergeblich würde man sie daran erinnern, dass Journalisten nicht belehren, sondern berichten sollen. (...)
Längst haben die Funktionäre der Politischen Korrektheit die Stellen der sozialen Kontrolle dessen besetzt, was als diskutabel gilt. Damit koppeln sie die Moral vom gesunden Menschenverstand ab. Der Politischen Korrektheit geht es nicht darum, eine abweichende Meinung als falsch zu erweisen, sondern den abweichend Meinenden als unmoralisch zu verurteilen.
Das ist es, was zum wachsenden Unmut in der Bevölkerung, was zu einem weitverbreiteten Gefühl der Ohnmacht geführt hat. Darum hat das Buch von Sarrazin eine so ungeheure Resonanz gefunden; seit Bestehen der Bundesrepublik hat kein politisches Sachbuch auch nur annähernd eine Auflage von einer Million erreicht.
Was wir in diesen Tagen erleben, das könnte sehr gut ähnlich weitreichende Folgen haben wie die Unruhen Ende der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, die sich gegen das "Establishment" richteten.
Auch damals hatte sich die Lebenswirklichkeit - vor allem diejenige der jungen Generation - so entwickelt, daß die dominierenden Werte und Meinungen nicht mehr für sie paßten (siehe Die Nachkriegskinder. Eine moralisch-hedonistische Generation wendet sich gegen eine skeptische Generation; ZR vom 4. 5. 2008).
Was ihnen gepredigt wurde, das interessierte viele Menschen nicht mehr; das, was sie interessierte, fand keinen Widerhall im öffentlichen Diskurs. Zwar nicht Produktionsverhältnisse und Entwicklungsstand der Produktivkräfte (wie Marx das für eine revolutionäre Situation behauptete) gerieten in Widerspruch zueinander, aber der geltende Werte- und Verhaltenskodex und die Lebenswirklichkeit.
Exakt das erleben wir in diesen Tagen.
Damals erschrak das "Establishment" vor dieser ihm unverständlichen Bewegung; damals sahen die Konservativen diese unruhigen jungen Leute als einen "Mob", so wie heute Kurbjuweit die von ihm erfundenen "Wutbürger".
Damals waren es die Kirche, die konservativen Lehrer und Professoren samt der "bürgerlichen" Presse, die fürchteten, daß ihnen die Kontrolle über den öffentlichen Diskurs entgleiten würde; heute hegen diese Furcht die "neuen Jakobiner" (Bolz) wie Kurbjuweit und Assheuer.
Ihre Meinungsherrschaft basierte ja nicht auf realer Macht; auf der "Macht, die aus den Gewehrläufen kommt", wie es Mao einst gesagt hatte. Sondern sie basierte allein darauf, daß man sich nicht öffentlich zu widersprechen traute; daß diejenigen, die es taten, erbarmungslos ausgegrenzt wurden.
Das hat man auch mit Sarrazin versucht. Und siehe da - es hat nicht funktioniert. Zum ersten Mal hat es nicht funktioniert.
Nichts ist gefährlicher für Meinungsherrschaft, als wenn ein radikaler Widerspruch nicht zum Schweigen gebracht werden kann. Da ist dann der Kaiser auf einmal nackt.
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© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Mit Dank an Thomas Pauli für den Hinweis auf den Essay von Norbert Bolz.