21. Oktober 2010

Gedanken zu Frankreich (37): Der heiße Herbst 2010. Was ist mit diesen Franzosen los? Versuch einer Erklärung

Als Deutscher kann man eigentlich nur den Kopf schütteln. Während wir uns auf die Rente mit 67 vorbereiten, herrscht in Frankreich Aufruhr, weil die Regierung es gewagt hat, ein Gesetz über die Rente mit 62 einzubringen!

Bisher lag das Renten-Eintrittsalter in Frankreich bei 60 Jahren; und das auch nur für die nicht Privilegierten. Diese - beispielsweise die Bediensteten der staatlichen Bahngesellschaft SNCF - dürfen noch früher in Rente gehen; sie genießen sogenannte régimes spéciaux, Sondervergünstigungen. Das durchschnittliche Alter, in dem die Eisenbahner Rentner werden, liegt bei knapp unter 55 Jahren. Auch die Schauspieler und das Personal der Comédie Française sowie Notariatsgehilfen haben sich irgendwann solche Privilegien erstritten.

An diese régimes spéciaux hat sich Sarkozy bald nach seinem Amtsantritt herangewagt und auch damals schon eine Protestwelle ausgelöst; es ist am Ende ein Reförmchen herausgekommen, das sich vor allem auf die Dauer der für die volle Rente erforderlichen Beitragszahlungen richtet.

Jetzt also soll das Renten-Eintrittsalter für die nicht Privilegierten von 60 auf 62 Jahre heraufgesetzt werden. 62 Jahre - paradiesisch für deutsche Verhältnisse. Aber Frankreich ist darob in Aufruhr geraten. Was ist da los?

Ich möchte eine Antwort auf drei Ebenen versuchen: Auf der allgemeinen des französischen Verständnisses von Staat und Gesellschaft; auf einer konkreteren der politischen Strukturen Frankreichs und schließlich auf der aktuellen Ebene der Unzufriedenheit, die in den letzten Jahren entstanden ist und die gegenwärtig weiter wächst.



Die staatsfrommen Revolutionäre. Das war der Titel einer der ersten Folgen dieser Serie, in der ich den historischen Hintergrund des eigenartig ambivalenten Verhältnisse der meisten Franzosen zum Staat erläutert habe. Vielleicht mögen Sie einen Blick in diesen Artikel vom Oktober 2006 werfen, bevor Sie weiterlesen.

Das dort geschilderte historische Bewußtsein sowie die Doppelstruktur aus Politik und Verwaltung prägen das Verständnis der Franzosen vom Staat: Er ist einerseits der Adressat aller Wünsche und Forderungen. Er ist andererseits das Objekt ständigen Aufbegehrens. M Dupont ist in seinem Herzen zugleich ein Etatist (halb ein bourbonischer, halb ein bonapartistischer) und ein Revolutionär. Lionel Jospin, auf den ich in dem Artikel eingegangen bin, hat das in seiner Person verkörpert.

Jospin stand sozusagen auf beiden Teilen der Barrikaden, und die meisten Franzosen fanden nichts dabei; es geht ihnen ja selbst nicht anders. Sie lieben den Staat, seinen Pomp, seine Würde, die Größe Frankreichs, die er repräsentiert. ("La Grande Nation" übrigens ist eine Bezeichnung, die ich in Frankreich nie gehört oder gelesen habe; das sagt man nur in Deutschland). Sie haben ein schier unbegrenztes Vertrauen in die Fähigkeit des Staats, ihre Wünsche zu erfüllen.

Aber das tut er in den Augen der Franzosen nicht freiwillig. Man muß ihn dazu drängen, ihm Beine machen, dem Staat. Dafür engagiert sich der Franzose in seiner anderen Gestalt, derjenigen des Revolutionärs; oder sagen wir des Revoluzzers.

Irgendwelche Streiks und manifestations (Demonstrationen) gibt es eigentlich immer. Jede beabsichtigte Maßnahme der Regierung, jedes geplante Gesetz, das irgendwelche Interessen berührt, kann das auslösen.

Das war schon in der Vierten Republik so. Damals war der Staat als der öffentliche Dienst mächtig, der Parteienstaat allerdings war schwach. Mit der Gründung der Fünften Republik 1958 änderte sich das schlagartig: De Gaulle, der seine Landsleute kannte (Comment voulez-vous gouverner un pays qui a deux cent quarante-six variétés de fromage? - Wie wollen Sie ein Land regieren, das zweihundertsechsundvierzig Käsesorten hat?), verpaßte ihnen eine Verfassung, die eine starke Regierung und einen noch stärkeren Staatspräsidenten vorsah.

Während seiner zunächst sieben-, inzwischen fünfjährigen Amtszeit ist der Staatspräsident ein Wahlmonarch, mächtiger im Land als der amerikanische Präsident. Weiterhin ist das Wahlrecht so beschaffen, daß es seit 1958 noch immer in der Nationalversammlung eine deutliche Mehrheit gab, die majorité. Vorbei die Zeit der ständig stürzenden und sich neu formierenden Koalitionen, wie sie die Vierte Republik geprägt hatten.

Damit aber fehlt eine starke parlamentarische Opposition. Die manifestations, der Druck von unten haben heute in den Augen vieler Franzosen auch die Funktion, diese Rolle einer Opposition mit zu übernehmen.



Die Gegenmacht. Nach diesem Verständnis bedarf es zur Zähmung des übermächtigen Staats (den man, wie gesagt, so mächtig auch wiederum durchaus haben will) nicht nur der Streiks und Demonstrationen; sondern man will auch eine stärker strukturell verankerte Gegenmacht. Das sind die Gewerkschaften, die in Frankreich völlig anders organisiert sind und ein ganz anderes Selbstverständnis haben als in Deutschland.

Wenn der Saarländer Oskar Lafontaine, der Frankreich gut kennt, für Deutschland die Möglichkeit politischer Streiks fordert, dann weiß er, was er damit will: Politische Auseinandersetzung in großem Stil, die sich außerhalb des demokratischen politischen Systems abspielen; die Straße als Gegenmacht.

Eine solche Gegenmacht sind die Gewerkschaften in Frankreich traditionell. Als im Januar 2009 die weltweite Wirtschaftskrise auf ihrem Höhepunkt war, suchten in Deutschland Arbeitgeber, Gewerkschaften und Regierung nach gemeinsamen Lösungen. In Frankreich riefen die Gewerkschaften gegen die Maßnahmen der Regierung zum Generalstreik auf.

Ich habe das damals kommentiert (Wie man in Frankreich auf die Wirtschaftskrise reagiert; ZR vom 29. 1. 2009) und in diesem Kommentar den Charakter der französischen Gewerkschaften erläutert. Vielleicht mögen Sie auch das nachlesen. Im Kern geht es darum, daß die Gewerkschaften zugleich politische Organisationen sind. Sie
... konkurrieren um Mitglieder. Und sie tun das nicht auf der Basis dessen, was sie potentiellen Mitgliedern an Leistungen anzubieten haben; sondern sie tun es auf der politischen Ebene.

Die Gewerkschaften sind politisch ausgerichtet; ja einige sind so etwas wie die Gewerkschafts-Organisation einer Partei. (...) Natürlich wollen auch die französischen Gewerkschaften die Interessen ihrer Mitglieder vertreten. Aber nicht nur, noch nicht einmal primär, indem sie höhere Löhne oder kürzere Arbeitszeiten aushandeln. Sondern als das tiefere, das eigentliche Interesse ihrer Mitglieder sehen sie eine Änderung der politischen Zustände.
Das muß man wissen, wenn man die jetzige allgemeine Aufruhr in Frankreich verstehen will: Die beabsichtigte Änderung des Rentenalters ist der Anlaß, aber sie ist nicht das Motiv. Das erklärt, warum zum Beispiel auch Schüler demonstrieren, für die der Zeitpunkt ihrer Verrentung nicht eben eine drängende Frage sein dürfte.

Und es erklärt, warum man den Staat mit allen Mitteln unter Druck setzen will, bis hin zur Unterbrechung der Versorgung mit Treibstoff. Daß dies den in Frankreich ohnehin noch kärglichen wirtschaftlichen Aufschwung abwürgen könnte, nimmt man in Kauf.

Denn das Ziel ist nicht die Verhinderung eines Gesetzes (man wird es wahrscheinlich nicht verhindern können), sondern eine linke Mehrheit bei den nächsten Wahlen, die sowohl für das Amt des Präsidenten als auch für die Nationalversammlung im Frühjahr 2012 anstehen. Für einen linken Präsidenten, für eine linke majorité in eineinhalb Jahren sollen jetzt die Weichen gestellt werden, indem man das Volk gegen die rechte Regierung mobilisiert.



Die aktuelle politische Lage. Damit sind wir bei den aktuellen Aspekten der jetzigen Unruhen.

Sie haben eine wesentliche Ursache in einer weit verbreiteten Unzufriedenheit mit Staatspräsident Sarkozy und seiner Regierung.

Der Wahlkampf 2007 war von allen Kandidaten unter dem Zeichen einer Erneuerung Frankreichs geführt; am dynamischsten erschien dabei Sarkozy (siehe Die vier Großen Kandidaten, wie ich sie sehe; ZR vom 22. 4. 2007). Er wurde gewählt, weil er das Land voranzubringen versprach.

Er wurde gewählt aufgrund von Ankündigungen, die eigentlich den meisten Franzosen gegen den Strich gingen, die man aber als notwendig einsah: Sarkozy versprach eine liberalere Wirtschaftspolitik; er wagte selbst die Forderung, die Franzosen sollten "mehr arbeiten, um mehr zu verdienen" ("Travailler plus pour gagner plus").

"Der Amerikaner" wurde Sarkozy damals genannt; manche fühlten sich an Kennedy erinnert. Solche Erwartungen brachten ihm den Wahlsieg. Das ist jetzt dreieinhalb Jahre her; und Sarkozy hat sich als eine einzige Enttäuschung erwiesen. Statt beherzt Reformen anzupacken, zeigte er sich sprunghaft und egozentrisch. Sein Privatleben begann die Franzosen bald mehr zu interessieren als seine Politik.

Vor allem aber verübelte man ihm, daß er nicht die Statur eines Staatspräsidenten, dieses Monarchen auf Zeit, entwickelte. Er lies die Würde vermissen, die man in Frankreich vom Inhaber dieses Amts erwartet.

Nach noch nicht einmal einem Jahr war kaum etwas von der Begeisterung für Nicolas Sarkozy geblieben. Ich habe das damals, im Januar und Februar 2008, in drei Artikeln kommentiert (Nicolas Sarkozy auf dem Weg in die Regenbogenpresse; Nicolas Sarkozys Weg in die Lächerlichkeit; Sarkozy nervt die Franzosen).

Sarkozy ist nicht der große Reformer, den sich die Wähler erhofft hatten, sondern ein hektisch von Thema zu Thema hüpfender Aktionist, der mit spektakulären Aktionen wie kürzlich der Ausweisung von Roma zu punkten versucht. Unter seiner Führung ist Frankreich weit schlechter durch die Wirtschaftskrise gekommen als Deutschland; die Zahl der Arbeitslosen steigt wieder und liegt derzeit bei knapp 10 Prozent.

Kein Wunder, daß Nicolas Sarkozy inzwischen der unpopulärste Präsident ist, den die Fünfte Republik je hatte. Vorgestern veröffentlichte das Institut BVA eine Umfrage für L'Express und France Inter, wonach 69 Prozent eine schlechte Meinung von Sarkozy haben, davon 36 Prozent eine sehr schlechte; nur 30 Prozent haben eine gute Meinung von ihm, davon ganze 6 Prozent eine sehr gute.

So schlechte Werte hatte noch kein Präsident seit Gründung der Fünften Republik im Jahr 1958. Auch ihre Unzufriedenheit mit Sarkozy drücken die Demonstranten aus; und diejenigen, die mit ihnen sympathisieren. Nach einer Umfrage vom September sind das 63 Prozent der Franzosen.



Wie wird es weitergehen? Hätte Frankreich noch die Verfassung der Vierten Republik oder auch nur eine wie das deutsche Grundgesetz, dann würde die Regierung einen solchen Aufruhr wohl kaum überleben. Sarkozy aber, ausgestattet mit der Machtfülle eines Präsidenten unter der Fünften Republik, kann das aussitzen.

Er könnte - wie Mitterand das des öfteren getan hat - seinen Regierungschef austauschen. Aber es ist unwahrscheinlich, daß er das tun wird, denn der ruhige und kompetente François Fillon ist einer der wenigen Positivposten der Regierungsmehrheit.

Spannend wird es erst werden, wenn die Wahlen näher heranrücken. Daß Sarkozy noch einmal gewählt wird (eine einmalige Wiederwahl des Präsidenten ist möglich), erscheint derzeit so gut wie ausgeschlossen. Andererseits hat er im Augenblick keinen ernstzunehmenden innerparteilichen Gegner.

Wenn sich nichts dramatisch ändert, wird Frankreich 2012 wohl wieder einmal nach links rücken. Derzeit sind drei Kandidaten der Sozialistischen Partei (PS) im Rennen für die Kandidatur um das Amt des Präsidenten: Deren Vorsitzende, die Parteilinke Martine Aubry, der innerhalb der Partei rechts stehende Dominique Strauss-Kahn, gegenwärtig Chef des Weltwährungsfonds, und der Bürgermeister von Paris, Bertrand Delanoë.

Was die Chancen der drei angeht, besteht eine typisch französische Situation. Nach der zitierten vorgestern publizierten Umfrage hätten 54 Prozent der Franzosen gern Strauss-Kahn als Präsident. Er wäre nach gegenwärtigem Stand der aussichtsreichste Bewerber und könnte Sarkozy leicht schlagen. Aber bei den Anhängern der Linken liegt er erst an dritter Stelle.

Mehr als zwei Drittel von ihnen (68 Prozent) hätten gern Martine Aubry als Präsidentin; übrigens die Tochter des früheren sozialistischen Wirtschafts- und Finanzministers Jacques Delors, später Präsident der EU-Kommission.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie findet man hier. Titelvignette: Eugène Delacroix, La Liberté guidant le peuple (1830); Ausschnitt.