16. Januar 2011

Zitat des Tages: "Das Schlimmste kann kommen". Jean Daniel über die Lage in Tunesien. Die islamistische Gefahr

Mais aujourd'hui, en ces moments de célébration, tous les gens qui ont appris l'histoire des révolutions savent que si le pire n'est pas toujours sûr, rien ne l'empêche d'arriver, pour le malheur de tous. Il faut que les révolutionnaires d'aujourd'hui pensent à Lech Walesa et Nelson Mandela, et à toutes les révolutions de velours, plutôt qu'aux émeutes sanglantes de la terreur révolutionnaire de 1793 en France et de 1921 en Russie.

Il faut éviter les convulsions de la vengeance et la division tragique des héritiers, comme cela s'est passé un peu partout dans le monde arabe. Il faut revenir à l'époque glorieuse des dix premières années de Bourguiba. C'est de tout mon cœur ce que je souhaite aux Tunisiens.


(Aber heute, in diesen Augenblicken des Feierns, wissen alle diejenigen, die sich in der Geschichte der Revolutionen auskennen, daß das Schlimmste zwar nicht sicher ist, daß aber nichts es daran hindert, einzutreten; allen zum Unglück. Die jetzigen Revolutionäre sollten an Lech Walensa denken, an Nelson Mandela und an alle die samtenen Revolutionen, nicht an die blutige Aufruhr des revolutionären Terrors von 1793 in Frankreich und von 1921 in Rußland.

Es gilt das Aufzucken der Rache zu verhindern, die tragische Spaltung der Erben, wie sie sich allerorten in der arabische Welt zugetragen hat. Notwendig ist eine Rückkehr zu der ruhmvollen Epoche der ersten zehn Jahre von Burgiba. Das wünsche ich den Tunesiern von ganzem Herzen.)

Der 90jährige Doyen der französischen Publizistik und langjährige Herausgeber des Nouvel Observateur Jean Daniel heute in der Internetausgabe des Nouvel Observateur über die Situation in Tunesien.


Kommentar: Jean Daniel, der selbst (als Sohn einer jüdischen Familie) in Nordafrika geboren wurde, ist einer der besten Kenner des Maghreb. Er war zeitweilig Ratgeber von Präsident Burgiba und wurde - wie er sich in dem Artikel erinnert - 1961 bei den Unruhen in Bizerta von französischen Kugeln getroffen, als er sich dort bei tunesischen Freunden aufhielt.

Sein Kommentar gibt überwiegend der Freude über den Sturz von Zine El Abidine Ben Ali Ausdruck, der - wie so viele Führer von Entwicklungsländern - als Reformer begann und später ein autoritäres Regime errichtete.

Aber in der zitierten Passage drückt Jean Daniel auch eine simple Wahrheit aus, die mir in der gegenwärtigen Berichterstattung über die Vorgänge in Tunesien zu kurz zu kommen scheint: Der Ausgang von Revolutionen ist völlig offen. Wie "spontan" der jetzige Aufstand ist, scheint im Augenblick unklar zu sein. Welche Kräfte sich durchsetzen werden, kann niemand prognostizieren.

Wie in Algerien gibt es auch in Tunesien eine starke radikal-islamistische Bewegung. Nach seinem Amtsantritt 1987 hat Präsident Ben Ali ihr durch eine moderate Politik gegenüber dem Islam das Wasser abzugraben versucht. Ein offizieller gemäßigter Islam sollte den Zulauf zu den militanten, terroristischen Islamisten, wie sie Jahrzehnte Algerien terrorisiert hatten, unterbinden.

Den tunesischen Islamisten wurde es verboten, sich als politische Partei zu organisieren. (Das Instrument dazu waren Gesetze vom Mai 1988 und Februar 1989, die jede politische Organisation verboten, die ausschließlich eine bestimmte rassische, regionale, sprachliche oder religiöse Gruppen repräsentiert). Es kam daraufhin zu einem Aufbegehren der Islamisten, deren Organisationen in den Jahren 1990 und 1991 zerschlagen wurden. Diese harte Konfrontation war einer der Gründe dafür, daß das Regime Ben Alis zunehmend repressiv wurde.

Inzwischen sind diverse terroristische Gruppen in Tunesien tätig, darunter die Kaida. Wie groß ihre Unterstützung in der Bevölkerung ist, läßt sich nicht sagen.

Vielleicht - hoffentlich - gelingt es gemäßigten politischen Kräften, die jetzige revolutionäre Situation in Tunesien in den Griff zu bekommen. Aber die mahnenden Worte von Jean Daniel weisen darauf hin, daß eine solche positive Entwicklung keineswegs ausgemacht ist. Tunesien könnte auch den Weg des Iran gehen.

Dort floh der Schah am 16. Januar 1979 - heute vor 32 Jahren - und leitete damit eine Entwicklung ein, die zum Regime der Islamisten führte. Wie Ben Ali (die Hintergründe von dessen Flucht liegen im Dunkeln) verließ er das Land in einer Situation, in der eine erfolgreiche Revolution noch hätte verhindert werden können. Aber mit seiner Flucht machte er den Weg frei für die Islamisten.



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