30. Januar 2011

Aufruhr in Arabien (3): Die (vorerst) gescheiterte (Fast-) Commune in der Kasbah von Tunis

Wer Revolutionen verstehen will, der sollte Rosa Luxemburgs Kritik am - wie sie es in der ihr eigenen Sprache nennt - "parlamentarischen Kretinismus" der deutschen Sozialdemokraten zur Kenntnis nehmen: "Die wirkliche Dialektik der Revolutionen stellt aber diese parlamentarische Maulwurfsweisheit auf den Kopf: nicht durch Mehrheit zur revolutionären Taktik, sondern durch revolutionäre Taktik zur Mehrheit geht der Weg" (siehe Rosa Luxemburg, die Dikatur des Proletariats und die Freiheit des Andersdenkenden; ZR vom 7. 1. 2011).

Sehr demokratisch ist das nicht gedacht; aber den tatsächlichen Ablauf vieler Revolutionen beschreibt dieser Satz der kommunistischen Revolutionärin richtig.

Am Anfang steht meist eine gewissermaßen negative Mehrheit: Eine breite Unzufriedenheit mit den herrschenden Verhältnissen. Aber klare Ziele haben viele der Unzufriedenen nicht; jedenfalls zunächst nicht. Den Weg weisen ihnen oft erst die Entschlossenen, die Disziplinierten; nicht selten diejenigen, die sich schon lange organisatorisch und ideologisch auf die Revolution vorbereitet hatten. Lenins Bolschewiken zum Beispiel in der russischen Revolution, die schiitischen Fanatiker des Ayatollah Chomeini in der iranischen Revolution von 1979 (siehe Einige Anmerkungen zur tunesischen Revolution; zu revolutionären Situationen überhaupt; ZR vom 19. 1. 2011).

Bei der Beurteilung der Vorgänge in Tunesien und jetzt in Ägypten tut man gut daran, diesen simplen Sachverhalt im Auge zu behalten. Die Sieger könnten am Ende diejenigen sein, die gegenwärtig noch überhaupt nicht das Bild der Ereignisse prägen.

In Tunesien zum Beispiel revolutionäre Kommunisten. Das ist im Augenblick nicht mehr wahrscheinlich, aber es ist immer noch möglich. In Ägypten könnte es zur Machtübernahme durch die Moslem-Bruderschaft und die Hamas kommen; ein jetzt sehr viel wahrscheinlicheres Szenario. Über dieses berichte ich in der nächsten Folge; jetzt zuerst etwas zu Tunesien.



Bei der Suche nach Augenzeugenberichten bin ich auf die täglichen Berichte von Alma Allende gestoßen, einer in Tunis lebenden Linksaktivistin tunesisch-spanischer Abstammung. Auch wenn diese Artikel eine sehr eindeutige politische Stellungnahme erkennen lassen, erscheinen sie doch gut recherchiert und enthalten viele Details; vor allem eigene Beobachtungen und zahlreiche Gespräche mit Beteiligten.

Sie zeigen, wie nach der Flucht von Ben Ali Kommunisten und ihre Unterstützer eine zweite Revolution versuchten; eine Revolution in der Revolution, ganz nach dem Vorbild Lenins. Man kann den Ablauf aus der Sicht von Alma Allende recht gut an den Überschriften ihrer täglichen Artikel ablesen (die Links führen zu den spanischen Texten; einige findet man im Internet auch in andere Sprachen übersetzt):
  • 18. 1. ¿Reforma o ruptura? (Reform oder Umsturz?)
  • 19. 1. Pues eso: revolución (Nun dies: Die Revolution)
  • 20. 1. Haciendo planes (Pläne schmieden)
  • 21. 1. Siempre adelante (Allzeit voran)
  • 22. 1. Cae o no cae? (Fällt es oder fällt es nicht?)
  • 23. 1. Se estira se estira y no se rompe (Es zieht und zieht sich hin, und kein Bruch)
  • 24. 1. Las vastas afueras toman la ciudad (Das Umland erobert die Stadt)
  • 25. 1. No es por el paro, es por la dignidad (Es geht nicht um Streik, es geht um Würde)
  • 26. 1. La lucha de clases (Der Klassenkampf)
  • 27. 1. Tensión en la Qasba (Anspannung in der Kasbah)
  • 28. 1. Obstinación y contrarrevolución (Widerstand und Konterrevolution)
  • 29. 1. El asalto de la Qasba (Der Sturm auf die Kasbah)
  • 30. 1. Se acabó la libertad (Das Ende der Freiheit)
  • Geschildert wird in dieser Chronik einer vorerst gescheiterten Revolution, wie in diesen knapp zwei Wochen immer mehr revolutionär Gesonnene aus dem Umland und den Vorstädten ins Zentrum von Tunis strömten; wie es tagelange Besetzungen, Streiks, Demonstrationen trotz Ausgehsperre gab.

    Die Kasbah war das Zentrum einer versuchten Revolution geworden. Noch nicht der Pariser Commune vergleichbar, aber doch mit der Absicht, etwas Ähnliches zu schaffen.

    In ihren letzten Artikeln wurde die Autorin - gegeben ihre revolutionären Hoffnungen - immer pessimistischer. Dann konstatierte sie das vorläufige Ende. Gestern schrieb sie:
    Cinco días ha durado el lugar más hermoso de la tierra. Por fin esta tarde, a las 16 h., la policía ha asaltado la Qasba, matando a Omar Auini, asfixiado por los gases lacrimógenos, e hiriendo al menos a 15 personas, la mayor parte de ellas con fracturas en manos y piernas.

    Fünf Tage dauerte der schönste Ort der Welt. Heute am Spätnachmittag, um 16 Uhr, hat die Polizei die Kasbah gestürmt und Omar Auini, der an Tränengas erstickte, getötet; mindestens 15 Personen wurden verletzt, meist durch Frakturen der Hände oder Beine.
    Und heute schreibt sie:
    Lo que era el desarrollo de una revolución se ha convertido de pronto en la asustada defensa de algunas pequeñas reformas.

    Was die Entfaltung einer Revolution gewesen war, hat sich unversehens in die angsterfüllte Verteidigung einiger kleiner Reformen verwandelt.
    Wo seien sie hin, die Revolutionäre der Kasbah? Zurück in ihren Dörfern? Was dächten sie jetzt? Was würden sie nun tun? fragt Alma Allende.

    Ja, das ist zu fragen. Ein erster Versuch, aus der bürgerlichen eine proletarische Revolution hervorzubringen, ist gescheitert; wahrscheinlich hatte er nie eine Chance. Im Schatten der Ereignisse in Ägypten - so sieht es Alma Allende - konnte die Regierung ihn gewaltsam beenden.

    Ein kleiner Abschnitt freilich nur; eine Episode in einem Prozeß, dessen weitere Entwicklung und dessen Ausgang völlig offen sind.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Großmoschee von Kairouan, Tunesien. Vom Autor Wotan unter Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0-Lizenz freigegeben. Bearbeitet. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier.